Nobelpreise 2016: Physik-Nobelpreis für Materiezustände in Supraleitern
»Gott erschuf die Festkörper, aber der Teufel die Oberflächen.« Dieser Ausspruch wird dem Physiker Wolfgang Pauli zugeschrieben. Er soll verdeutlichen: Die großräumige Ordnung der Atome im Inneren eines Körpers lässt sich meist recht gut verstehen – doch damit wissen wir noch kaum etwas darüber, wie der Gegenstand mit seiner Umgebung wechselwirkt. Denn die entscheidenden Effekte spielen sich gerade an den Grenzflächen ab, die sich oft vollkommen unerwartet verhalten. Heute ist das Zitat des 1958 verstorbenen Pauli bedeutender denn je. Wegen der zunehmend feineren Strukturen von Bauteilen werden die Eigenschaften der Materialien zu einem immer entscheidenderen Teil durch das bestimmt, was auf und nicht in ihnen vorgeht.
Der Nobelpreis ehrt drei Theoretiker, die sich mit so genannten topologischen Phasenübergängen beschäftigt haben: David J. Thouless von der University of Washington in Seattle, F. Duncan M. Haldane von der Princeton University in New Jersey und J. Michael Kosterlitz von der Brown University in Providence. Die Phänomene treten entlang von Oberflächen oder in sehr dünnen, quasi zweidimensionalen Lagen auf und funktionieren fundamental anders als Phasenübergänge, die wir von alltäglichen Festkörpern wie beispielsweise Eis gewohnt sind. Schmilzt gefrorenes Wasser, verändert sich die Symmetrie im Inneren und die Ordnung der Moleküle geht verloren – mit im Wortsinn leicht begreifbaren Konsequenzen.
Fremdartige Wirbel in zwei Dimensionen
Anders als bei den klassischen Zustandsänderungen verändern sich bei den topologischen Phasenübergängen eines zweidimensionalen Systems, die Kosterlitz und Thouless 1973 beschrieben, die Symmetrieeigenschaften nicht. Physikalisch lässt sich der inzwischen nach den beiden Physikern benannte Übergang interpretieren, indem man das Verhalten spezieller, mikroskopischer Wirbel auf einer Oberfläche beschreibt. Diese entstehen durch die Ausrichtung quantenmechanischer Drehmomente, so genannter Spins. Bei niedrigen Temperaturen treten zwei gegenläufige Quantenwirbel als Paar auf. Analog zu den entgegengesetzten Ladungen in einem Atom, das nach außen elektrisch neutral ist, hebt sich der Gesamtdrehsinn der beiden gekoppelten Spinwirbel auf. Bei dem Kosterlitz-Thouless-Phasenübergang allerdings trennen sich beide Wirbel ähnlich wie zwei Ladungen. Das Verhalten des Materials ändert sich plötzlich auf großen Skalen.
Das theoretische Modell der beiden in Großbritannien geborenen Wissenschaftler hat seither entscheidend dazu beigetragen, einige exotische Materiezustände und seltsame Quantenphänomene auf Oberflächen zu erklären. Dazu gehören etwa spezielle Auswirkungen der Supraleitung, bei der ein Substrat Strom widerstandsfrei leitet.
1983 beschrieb David Thouless dann theoretisch den 1980 vom deutschen Physiker und späteren Nobelpreisträger Klaus von Klitzing entdeckten Quanten-Hall-Effekt – ein ebenfalls zweidimensionales, quantenmechanisches Phänomen. Bei diesem tritt an Grenzflächen bei extrem tiefen Temperaturen und starken Magnetfeldern senkrecht zu einem Strom eine Spannung auf, die nur Vielfache eines bestimmten Werts annimmt.
Die Erklärung gelang Thouless mit Hilfe der Topologie, einem Bereich der Mathematik, der sich mit den Eigenschaften von Strukturen beschäftigt, die einander ähnlich sind, solange man sie nicht aneinanderklebt oder zerreißt. Aus einem Klumpen Ton lässt sich etwa ein Würfel oder eine Schale kneten – diese Formen sind aus topologischer Sicht gleich. Will man aus ihm jedoch eine Kaffetasse formen, muss man ihn entweder durchstechen oder zwei seiner Enden zusammenfügen, um ein Loch für den Henkel zu schaffen. Löcher ändern also die topologischen Eigenschaften. Bruchteile von Löchern gibt es nicht. Ein Körper hat entweder keines, eines oder mehrere.
Thouless übertrug diese Diskretheit und weitere Eigenschaften der Topologie auf die stufenweise Erhöhung der Leitfähigkeit beim Quanten-Hall-Effekt. Dabei konnte Thouless an sein Erfolgsrezept aus den 1970er Jahren anknüpfen: Bereits bei den Spinwirbeln hatten er und Kosterlitz topologische Argumente verwendet. Weitere Vorhersagen der Theorie von so genannten topologischen Quantenflüssigkeiten wurden später experimentell bestätigt. Diese Materiezustände sind heute einer der vielseitigsten und aktivsten Forschungsbereiche in der Festkörperphysik.
Unerwartete Effekte in Spinketten
1982 sagte der dritte Ausgezeichnete Duncan Haldane einen Effekt voraus, der sich statt in zwei Dimensionen nur in einer abspielt. Er untersuchte das Verhalten auf einer Linie aneinandergereihter Spins und zeigte: Wenn man all deren Einflüsse aufaddiert und die Kette dann einen ganzzahligen Gesamtspin hat, unterscheidet sich ihre Topologie von der einer Kette mit halbzahligem Spin. Dieses Ergebnis war unerwartet und hatte weit reichende Konsequenzen. Denn das magnetische Verhalten eines Festkörpers hängt letztlich von den Wechselwirkungen benachbarter Spins ab. Bei langen Ketten ist es aber nicht mehr einfach, alle Einstellmöglichkeiten zusammenzurechnen und zu bestimmen, wie stark die quantenmechanischen Wechselwirkungen zweier Spins entlang der Kette abnehmen. Doch die Ausbreitung dieser Korrelationen ist wichtig, um Aussagen über das physikalische Verhalten des Gesamtsystems treffen zu können. Der ebenfalls in Großbritannien geborene Haldane berechnete, dass die Korrelationen bei Ketten mit einem ganzzahligen Gesamtspin exponentiell abfallen. Bei einem halbzahligen Wert ist das nicht der Fall. Als messbarer Effekt unterscheiden sich dadurch die Anregungsenergien beider physikalischer Systeme drastisch: Ersteres weist eine Energielücke über dem Grundzustand auf, Letzteres nicht.
Die Arbeiten von Thouless, Kosterlitz und Haldane bildeten das Fundament für die Entwicklung ganz neuer Materialklassen, etwa so genannter topologischer Isolatoren sowie zahlreicher weiterer nanoelektronischer Bauteile. Die Auszeichnung durch die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften für diese grundlegenden theoretischen Entwicklungen würdigt somit auch die große Fülle verschiedenster experimenteller Forschung und ihren Nutzen für die Menschheit, die daraus erwachsen ist – im Sinn des Stifters des Preises.
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