Querschnittlähmung: Hirnimplantat lässt gelähmten Patienten Treppen steigen
Bis heute bedeuten schwere Verletzungen des Rückenmarks fast immer Lähmungen, die ein Leben lang bestehen bleiben. Denn durchtrennte Reizleitungen zu den Beinen erneuern sich nicht von allein. Nun hat ein Team um Grégoire Courtine von der École polytechnique fédérale de Lausanne ein Implantat vorgestellt, mit dem ein weitgehend gelähmter Patient namens Gert-Jan sogar wieder Treppen steigen konnte. Wie die Arbeitsgruppe nun in der Fachzeitschrift »Nature« berichtet, übertragen dabei Elektroden Hirnsignale in Echtzeit per Funk an einen Computer, der daraus die beabsichtigte Bewegung errechnet. Ein mit dem Rechner verbundener Impulsgenerator sendet dann über ein weiteres Elektrodenimplantat die nötigen Signale an die Nerven der Beinmuskeln. Fachleute bewerten die Arbeit als wichtige Verbesserung, warnen aber vor überzogenen Hoffnungen an den experimentellen Therapieansatz.
Laut dem Bericht der Arbeitsgruppe konnte der 40-jährige Gert-Jan, der zuvor nur sehr eingeschränkt mit einem Rollator laufen konnte, nach zwölf Monaten Training dank der Technik mit Hilfe von Gehstützen laufen und sogar Rampen und Treppen bewältigen. Auch wenn das Gerät ausgeschaltet wurde, blieben Teile der verbesserten Funktion erhalten. »Es ist wirklich eine tolle Kombination von verschiedenen Techniken, die zumindest nach dem Bericht eine neue ›Qualität‹ der funktionellen Bewegungskontrolle an den Beinen ermöglicht«, sagt Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth gegenüber dem Science Media Center. Man müsse aber noch abwarten, inwieweit die Technik auf andere Patienten übertragen werden könne.
Das in Lausanne erprobte Verfahren ist eine Weiterentwicklung der epiduralen Elektrostimulation (EES), eines experimentellen Therapieansatzes, mit dem man Lähmungen durch ein Implantat unterhalb der Rückenmarksverletzung teilweise rückgängig machen kann. Neu sei, dass der Impulsgenerator am Rückenmark nicht bloß ein Bewegungsprogramm startet, sondern dass die Bewegungen direkt aus dem Gehirn gesteuert werden, erklärt Abel. »Der Schlüsselaspekt ist meiner Auffassung nach, dass das Ganze in Echtzeit funktioniert«.
Zwei Sensoren mit jeweils 64 Elektroden, die auf beiden Seiten des Kopfes in die Schädeldecke implantiert wurden, nehmen dabei Signale aus dem Gehirn auf und senden sie per Funk an den tragbaren Computer. Dieser verarbeitet sie in zwei Stufen. Zuerst bestimmt ein Algorithmus, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Gelenk bewegt werden soll. Ein davon unabhängiges Programm errechnet dann, wie weit und in welche Richtung. Ein Implantat mit 16 Elektroden überträgt anschließend die nötigen Signale an die Nerven des unteren Rückenmarks und damit an die Beinmuskeln.
Durch diese Echtzeitsteuerung kann der Patient laut der Veröffentlichung nun seine Beinbewegungen individuell an die jeweilige Situation anpassen. Auf diese Weise sind prinzipiell Bewegungsabläufe möglich, die mit üblichen Bewegungsprogrammen bewältigt werden können, wie eben unebenes Gelände und Treppen. Allerdings hat die Studie der Arbeitsgruppe bisher nur geringe Aussagekraft, welche Patientengruppen tatsächlich von der bislang rein experimentellen Technik profitieren können.
Fachleute weisen darauf hin, dass Gert-Jan in verschiedener Hinsicht nicht repräsentativ ist. Er habe wohl noch eine gewisse Wahrnehmung in den unteren Gliedmaßen, sagt Abel, außerdem sei er lediglich inkomplett gelähmt gewesen. So hatte er drei Jahre zuvor ebenfalls mit Hilfe der EES einen Teil der Gehfähigkeit zurückerlangt, dann aber keine Fortschritte mehr gemacht.
Auch Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, warnt vor überzogenen Hoffnungen. »Betrachtet man die vorab definierten Endpunkte der Studie wie Gehfunktion oder Verbesserung der Muskelkraft, zeigen sich vergleichsweise geringfügige Verbesserungen im Vergleich zur Situation mit epiduraler Stimulation ohne BSI [die Direktverbindung zum Hirnimplantat, Anm. d. Red.]«, sagt Weidner. Die Auswirkungen der zusätzlichen Verbindung zum Gehirn seien deswegen in diesem Einzelfall überschaubar. Darüber hinaus habe sich der Patient zuvor orthopädischen Eingriffen unterzogen, die ebenfalls beim Gehen und Stehen stabilisieren. »Zusammengefasst lässt sich also überhaupt keine verlässliche Aussage treffen, ob und inwieweit die berichteten Effekte hinsichtlich Gehfunktion auf andere Patienten mit Querschnittlähmung übertragbar sind«, erklärt Weidner.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.