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Wahrnehmung: Scharfe Sachen

Bruchteile eines Millimeters sind schon zu viel: Das Auge toleriert nur minimale Abweichungen; ein zu langer Augapfel führt unweigerlich zu Kurzsichtigkeit. Dabei kontrolliert das Auge selbst sein Wachstum - über die Schärfe der gesehenen Bilder.
Kurzsichtigkeit
Zählten auch Sie schon in der Schule zu den "Brillenschlangen", denen ohne Sehhilfe der Weitblick verwehrt war? Machen Sie sich nichts draus, schließlich gehören Sie einer nicht ganz kleinen Minderheit an: Etwa ein Drittel aller Jugendlichen in den Industrieländern sind kurzsichtig – Tendenz steigend.

Ursache dieser Fehlsichtigkeit ist in den meisten Fällen ein kleiner, aber folgenreicher Baufehler: Der Augapfel wuchs während der Kindheit ein wenig zu sehr in die Länge, sodass die Brennweite der Augenlinse und damit die Ebene scharfer Bilder nicht auf der Netzhaut, sondern kurz davor liegt. Dabei genügt schon eine Abweichung der Augenachsenlänge von einem Zehntel Millimeter, um eine messbare Beeinträchtigung der Sehschärfe auszulösen. Der Körper muss also in der Kindheit das Wachstum des Augapfels hoch präzise steuern.

Als sicher gilt, dass Myopie – wie Kurzsichtigkeit in Medizinerkreisen genannt wird – meist erblich bedingt ist. Doch auch intensive visuelle Naharbeit, wie Lesen oder das Sitzen am Computerbildschirm, werden verdächtigt, Kurzsichtigkeit zumindest zu verstärken. So konnten Forscher schon in den 1970er Jahren nachweisen, dass eine schlechte Bildqualität extreme Kurzsichtigkeit auslösen kann: Junge Küken, die ihre Umwelt durch eine Brille nur verschwommen wahrnehmen, bilden einen um zwanzig Prozent verlängerten Augapfel – ein Sehfehler von bis zu 20 Dioptrien ist die Folge.

Das Auge scheint damit selbst – über scharfe Bilder – sein Wachstum zu steuern. Doch welche Bildqualitäten sind dafür maßgebend? Junges Federvieh – insgesamt 167 Küken im zarten Alter von acht Tagen – sollte auch diesmal diese Frage beantworten. Hierzu schränkten die Forscher um Robert Hess von der kanadischen McGill-Universität in Montreal die Sicht ihrer Versuchsküken jeweils auf dem rechten Auge ein – und zwar so, dass sie die visuelle Wahrnehmung der Tiere einer so genannten Fourier-Analyse unterziehen konnten.

Bekanntermaßen entdeckte der französische Physiker und Mathematiker Jean-Baptiste Joseph Fourier, dass sich jede periodische Funktion aus Sinus-Kurven mit unterschiedlichen Frequenzen und Amplituden zusammensetzen lässt. Da nun ein zweidimensionales Abbild als Funktion der Helligkeit gegen den Ort interpretiert werden kann, lässt es sich ebenfalls, gemäß des französischen Barons, in seine sinusförmigen Bestandteile zerlegen. Heraus kommen dabei so genannte räumliche Frequenzen – und genau darauf hatten es Hess und Co abgesehen.

Testobjekte | Die Küken nehmen auf ihrem rechten Auge bestimmte Objekte wahr, die sich im räumlichen Frequenzspektrum unterscheiden: Wie das Spektrum (E) zeigt, besteht das Bild der Kreise (B) vor allem aus tiefen Frequenzen, während in dem Kreuz (A) auch hohe Frequenzen vertreten sind. Sehen die Küken diese hochfrequenten Objekte, dann wachsen ihre Augen normal (F). Beim niederfrequenten Reizmuster der Kreise werden sie jedoch kurzsichtig – das Augenwachstum wird demnach über hochfrequente räumliche Bilder kontrolliert. Das gleiche Ergebnis zeigt sich sogar auch dann, wenn die Bildpunkte zufällig vermischt werden, sodass keine Konturen zu erkennen sind (C und D).
Die Küken trugen nämlich ein Monokel, mit denen sie nur ganz bestimmte Abbildungen sehen konnten. Diese bestanden entweder hauptsächlich aus tiefen räumlichen Frequenzen – die Bilder wirkten als "Tiefpass" – oder sie gestatteten umgekehrt als "Hochpass" den Küken nur die Wahrnehmung hoher Frequenzen. Nach viereinhalb Tagen mussten die Küken zum Sehtest: Die Forscher maßen über Ultraschall die Länge der Augäpfel und beobachteten, wie treffsicher ihre Versuchstiere picken konnten.

Wie sich zeigte, kontrollieren die hohen räumlichen Frequenzen entscheidend das Augenwachstum. Nehmen die Küken nur niedrige Frequenzen wahr, gerät das Wachstum ihrer Augäpfel aus dem Ruder – die Tiere werden kurzsichtig. Die Form der wahrgenommenen Objekte scheint dabei keine Rolle zu spielen.

Dieses auf den ersten Blick eher theoretisch anmutende Ergebnis könnte wichtige Konsequenzen für den Menschen haben, betont Frank Schaeffel von der Universität Tübingen. Denn gerade die hohen räumlichen Frequenzen reagieren empfindlich auf falsche Fokussierung: Während die Bildqualität bei niedrigen Frequenzen nur wenig durch zusätzliche Unschärfe zurückgeht, lässt sich bei einem unscharfen Bild hoher Frequenz fast nichts mehr erkennen.

Eine falsche Brille hätte demnach bei kurzsichtigen Jugendlichen fatale Konsequenzen: Die wenigen verbleibenden hohen räumlichen Frequenzen fallen ganz weg – die Kurzsichtigkeit wird demnach noch verschlimmert. Tatsächlich wurde genau das bei Kindern beobachtet, die eine zu schwache Brille tragen.

Ob dies allerdings die ganze Wahrheit der Geschichte ist, bezweifelt Schaeffler. Schließlich würde bereits eine geringe Kurzsichtigkeit schon als Tiefpassfilter wirken. In einem sich selbst verstärkenden Prozess nähme der Augenfehler immer weiter zu. Einen derartigen Konstruktionsfehler hätte sich die Evolution wohl kaum erlaubt.

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