Quantenforschung: Schreibblock aus gefrorenen Spins
Spätestens seit seiner experimentellen Entdeckung im Jahr 1997 gilt so genanntes Spineis als eines der exotischsten Materialien in der Festkörperphysik. Der Name stammt von einer gewissen Ähnlichkeit zur Struktur von Wassereis. Bereits 1935 hatte der Chemiker Linus Pauling vermutet, dass die Atome von gefrorenem Wasser nie völlig geordnet sein können. Dies leitete er aus der Tatsache ab, dass jedes der Sauerstoffatome eines H2O-Moleküls im Eis nicht nur von seinen beiden direkten Bindungspartnern in Form von Wasserstoffatomen umgeben ist, sondern immer auch von zwei weiter entfernten Wasserstoffatomen benachbarter H2O-Moleküle.
Deshalb, so glaubte Pauling, ergibt sich im Wassereis selbst bei tiefsten Temperaturen ein Zustand, der den Atomen zusätzliche Freiheitsgrade bietet. Durch diese Freiheitsgrade gebe es kein eindeutiges niedrigstes Energieniveau, sondern mehrere mögliche Anordnungen auf der tiefsten Energiestufe des Systems – Physiker sprechen von Entartung. Daraus würde folgen, dass Wassereis immer eine Restentropie besitzt, die mit der Größe des Eisblocks exponentiell wächst. Paulings Hypothese konnte später durch Experimente mit reinem Wassereis, das äußerst schwer herzustellen ist, bestätigt werden.
Spineis trägt seinen Namen, weil bezüglich seiner magnetischen Eigenschaften, die eng mit den Spins in Verbindung stehen, dieselben Regeln für die Freiheitsgrade gelten wie für die Atome in Wassereis. Auch hier entsteht eine Entartung, und ein Rest an Entropie bleibt bestehen. Zwar ist es vor knapp 20 Jahren erstmals gelungen, ein Spineis herzustellen. Doch bislang sind nur wenige anwendungsorientierte Arbeiten zu dem Material veröffentlicht worden. Von einer praktischen Verwendung schien man noch weit entfernt.
Entartete Energiezustände
Forscher um Yong-Lei Wang und Zhi-Li Xiao vom Argonne National Laboratory schafften es nun nicht nur, ein neues Spineis zu erzeugen. Sie konnten seine magnetischen Eigenschaften außerdem weit reichend beeinflussen. Damit rücken sie Spineise ein gutes Stück näher an die Anwendung.
Die Forscher brachten dazu winzige Inseln einer Nickel-Eisen-Legierung auf einem Siliziumwafer auf. Diese maßen nur 300 Nanometer in der Länge und 80 Nanometer in der Breite und waren lediglich 25 Nanometer hoch. Dem Forscherteam gelang es mit Hilfe eines so genannten Magnetkraftmikroskops, die Magnetisierungsrichtung der Nanoinseln neu auszurichten. So konnten sie mit hoher Genauigkeit die Nanoinseln zu verschiedenen magnetischen Strukturen anordnen, die das Material schließlich als Spineis auszeichneten.
Ein Magnetkraftmikroskop kann man sich vereinfacht vorstellen wie den Kopf eines Schallplattenspielers. Die Spitze tastet die Rillen der Platte respektive die Oberfläche der Probe ab. Zudem kann sie ein Magnetfeld erzeugen. Das Instrument diente Wang, Xiao und Kollegen einerseits dazu, die Nanoinseln ihrer Probe in eine von acht möglichen globalen Spineisstrukturen zu bringen. Andererseits konnten sie die Magnetisierung ganz bestimmter Nanoinseln einzeln und gezielt verändern und sogar Schriftzüge in die Strukturen einschreiben. Die Experimente fanden bei Raumtemperatur statt. Durch ein externes Magnetfeld ließen sich die magnetischen Strukturen wieder in den Ausgangszustand zurückversetzen.
Fernziel Spinfestplatten
Die Forscher haben gleichsam demonstriert, dass sich Informationen in ein Spineis einschreiben und wieder löschen lassen, so dass die Struktur wieder neu beschrieben werden kann – ähnlich wie bei einer Festplatte. "Mit unserer Arbeit haben wir zum ersten Mal ein künstliche Eis geschaffen, das kontrollierbare Energiezustände besitzt", schwärmt Xiao. "Unser System ist ein traumhaftes Material. Es kann unser Wissen über Spineise voranbringen, um neue physikalische Phänomene zu entdecken und Wunscheigenschaften für bestimmte Anwendungen zu erhalten." Dabei denken die Forscher etwa an neuartige magnetische Speicher mit höherer Kapazität, an funktionalisierte Bauteile aus Supraleitern oder Graphen oder gar an Quantencomputer.
Experten, die nicht an der Arbeit beteiligt waren, zeigen sich von den Ergebnissen durchaus angetan. "Bisher haben Forscher in diesem Gebiet keine ernsthaften Versuche gestartet, ein Bauteil mit Hilfe eines Spineises herzustellen", sagt Laura Heyderman, Professorin für Mesoskopische Systeme an der ETH Zürich und dem Schweizer Paul Scherrer Institut in Villigen. "Das hier ist die erste Demonstration, dass so etwas tatsächlich möglich sein könnte." Heyderman glaubt, die Arbeit werde auch das Interesse von Experten anderer Gebiete der Festkörperphysik auf sich ziehen. "Es wird sicher neue Anläufe geben, in dieser Richtung weiterzugehen und Spineise in größeren Zusammenhängen zu denken."
Zugleich betont sie, dass das System von Wang und Kollegen von der "reinen Lehre" künstlicher Spineise ein Stück entfernt ist. "Die magnetischen Inseln liegen doch relativ weit auseinander. Wenn man sie näher zusammenführen würde, um das System zu einem lupenreinen künstlichen Spineis zu machen, müsste man die genauen Kontrollschritte überdenken."
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