Selbstversuch mit PFAS: Forscher isst absichtlich Muffin mit Industriechemikalien
Es ist 9 Uhr morgens an einem Februartag 2023 in Berlin. Ein Mann beißt in einen Muffin. 120 Gramm Teig, soweit nichts Ungewöhnliches, bis auf eine besondere Zutat: Das Gebäckstück wurde vorher mit einem Cocktail aus 15 verschiedenen Industriechemikalien präpariert. PFAS, per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen, mikrogrammweise abgewogen und in reinem Ethanol gelöst. Was klingt wie der Auftakt zu einem Krimi, hat sich tatsächlich so abgespielt – zu Forschungszwecken. Ein Wissenschaftler des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) hatte sich freiwillig für einen Selbstversuch zur Verfügung gestellt. Sein Team wollte herausfinden, wie lange verschiedene PFAS im menschlichen Körper verbleiben und auf welchem Weg sie diesen wieder verlassen. Denn dazu gibt es bislang keine direkten Untersuchungen.
Unter dem Begriff PFAS werden mehrere tausend verschiedene Chemikalien zusammengefasst. Sie alle haben ein Grundgerüst aus Kohlenstoffatomen, das ganz oder teilweise von Fluoratomen umgeben ist. Da sie antihaftend wirken und sowohl Wasser als auch Schmutz abweisen, kommen sie in den vielfältigsten Produkten vor: in wetterfesten Textilien, Brat- und Kochgeschirr, Löschschäumen, elektronischen Geräten, Fast-Food-Verpackungen, Dichtungen in Industrieanlagen und zahlreichen anderen Anwendungen.
PFAS sind nicht biologisch abbaubar und sammeln sich daher in der Umwelt. Längerkettige Exemplare – mit Ketten von acht oder mehr Kohlenstoffatomen – reichern sich etwa in Böden an, während kurzkettige sehr mobil sind und rasch in Flüsse, Seen und auch das Grundwasser gelangen. Pflanzen nehmen vor allem die kurzen PFAS leicht auf und lagern sie ein, so dass sie sich in der Nahrungskette anreichern. Menschen tragen die Chemikalien in ihrem Körper, das zeigen etwa Untersuchungen aus den USA oder Deutschland. Im menschlichen Blut finden sich vor allem vier Substanzen: Perfluoroctansäure (PFOA, im EU-Durchschnitt 1,9 Mikrogramm pro Liter), Perfluornonansäure (PFNA, 0,61 Mikrogramm pro Liter), Perfluorhexansulfonsäure (PFHxS, 0,67 Mikrogramm pro Liter) und Perfluoroctansulfonsäure (PFOS, 7,7 Mikrogramm pro Liter).
Erhöhte PFOA-Mengen im Blut sorgen möglicherweise dafür, dass bei Impfungen weniger Antikörper gebildet werden. Das legen Studien mit Kindern nahe. Ob diese Kinder dadurch tatsächlich anfälliger für Infekte sind, sei aber bisher nicht ausreichend untersucht, erzählt Klaus Abraham. Er leitet am BfR die Fachgruppe »Risiken besonderer Bevölkerungsgruppen und Humanstudien« und ist der Mann, der den Selbstversuch geplant und an sich selbst durchgeführt hat. Wegen der Ergebnisse hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) 2020 die Grenzen für eine tolerierbare wöchentliche Aufnahmemenge bei vier prominenten PFAS auf wenige Nanogramm (Millionstel Gramm) pro Kilogramm Körpergewicht gesenkt. Vermutlich seien einige Bevölkerungsgruppen höheren Dosen ausgesetzt, schrieb das BfR 2021 in einer Stellungnahme. Verschiedene weitere Wirkungen auf die Gesundheit werden diskutiert: Manche PFAS-Substanzen können die Fruchtbarkeit beeinträchtigen, einige sind möglicherweise krebserregend, andere wirken vermutlich hormonähnlich im Körper.
Manche der Substanzen sind in der EU verboten oder zumindest in der Verwendung stark eingeschränkt: PFOS schon seit 2008, PFOA seit 2020, PFHxS folgte 2023. Im Februar 2023 haben fünf EU-Länder, darunter Deutschland, einen Antrag auf ein generelles Verbot von PFAS bei der Europäischen Chemikalienagentur ECHA eingereicht.
Ab wann wird eine Konzentration der Stoffe in Umwelt, Trinkwasser und Lebensmitteln aber gefährlich für den Menschen? Welche der Substanzen nimmt der Körper auf und auf welchem Weg? Wie schnell verlassen sie ihn wieder, welche sammeln sich in Blut oder den Organen an? Nur, wenn man das weiß, lässt sich abschätzen, ob von den Mengen, die wir über Fisch, Fleisch, Gemüse oder den Kontakt mit Alltagsgegenständen aufnehmen, eine Gefahr ausgeht. Doch bisher gibt es keine guten Daten dazu. Erkenntnisse aus Tierversuchen lassen sich nicht auf Menschen übertragen, weil die Halbwertszeiten der PFAS stark von Tierart zu Tierart variieren – was darauf schließen lässt, dass je nach Art unterschiedliche biologische Mechanismen im Gange sind.
»Für kurzkettige PFAS beispielsweise gibt es kaum Daten«Klaus Abraham, Mediziner
Die Halbwertszeit mancher PFAS im menschlichen Körper lässt sich zwar indirekt abschätzen: etwa, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen einer hohen PFAS-Belastung ausgesetzt waren und die Personen untersucht werden, nachdem die Quelle der Verunreinigung – etwa kontaminiertes Trinkwasser – beseitigt wurde. Daraus, wie rasch die PFAS-Level im Blut wieder sinken, lässt sich auf die Verweilzeit im Körper schließen. Das funktioniere allerdings nur für solche Stoffe, die relativ lang im Körper bleiben, also Monate bis Jahre, sagt Abraham. Aus solchen Untersuchungen gibt es Schätzungen für die langkettigen Vertreter PFOA oder PFOS. »Aber für kurzkettige PFAS zum Beispiel gibt es kaum Daten«. Bislang hat auch niemand direkt in Experimenten ermittelt, wie lange welche PFAS im menschlichen Körper verbleiben und auf welchem Weg wie sie ihn wieder verlassen.
Selbstversuch mit speziell gekennzeichneten Molekülen
Also entschloss sich das BfR zu einem Selbstversuch. Klaus Abraham nahm dafür 15 PFAS zu sich, verpackt in den eingangs erwähnten Muffin. Anschließend wurden sein Blut, Urin und Stuhl für 450 Tage regelmäßig auf die Substanzen getestet. Um sicherzustellen, dass bei den Analysen auch nur die absichtlich eingenommenen Chemikalien gemessen werden – und nicht versehentlich Moleküle detektiert werden, die der Proband bereits im Blut hatte oder im Untersuchungszeitraum anderweitig aufnahm –, waren die zugesetzten PFAS mit Kohlenstoff-13 markiert, enthielten also das schwerere Isotop des Elements und waren daher in den Analysen nicht zu verwechseln.
Wie sich in den Untersuchungen zeigte, ist die Spannweite der Halbwertszeiten extrem groß. Kurzkettige PFAS mit Kettenlängen von vier bis sieben Kohlenstoffatomen wurden relativ rasch über den Urin ausgeschieden. Perfluorpentansäure (PFPeA) und Perfluorhexansäure (PFHxA) waren innerhalb weniger Tage abgebaut, Perfluorbutansäure (PFBA) hatte eine Halbwertszeit von 51 Tagen, Perfluorheptansäure (PFHpA) eine von 152 Tagen. »Die Abnahme der Werte im Blut entsprach eins zu eins der Ausscheidung über den Urin«, sagt Studienleiter Abraham.
Moleküle mit Ketten von acht bis zwölf Kohlenstoffatomen hingegen fanden sich auch nach der Untersuchungszeit von 450 Tagen noch im Körper des Probanden und verließen ihn erst nach und nach über den Magen-Darm-Trakt. Anhand der gesammelten Proben ermittelte das Forschungsteam Halbwertszeiten für diese Stoffe zwischen neuneinhalb Monaten und fünfeinhalb Jahren. Die längsten Halbwertszeiten hatten PFOA (5,5 Jahre), PFNA (3,6 Jahre), PFHxS (4,5 Jahre) und PFOS (3,3 Jahre). Es ist also kein Wunder, dass gerade diese vier vorrangig im menschlichen Blut zirkulieren.
Mit dem Blut gelangen sämtliche Substanzen in die Nieren, wo Giftstoffe herausgefiltert und über den Urin ausgeschieden werden. Das Experiment hat gezeigt, das genau das mit den kurzkettigen PFAS geschieht. Was aber passiert mit den langkettigen Vertretern? Fachleute haben eine Vermutung: Demnach schleusen Transportmoleküle in der Niere sie wieder in den Körper ein, die normalerweise nützliche Stoffe zurück ins Blut bringen. Anscheinend passen PFAS bestimmter Kettenlängen besonders gut an die Bindungsstelle der Transporter. Ein weiteres Ergebnis des aktuellen Experiments stützt diese These: »Bei höheren Kettenlängen sinken die Halbwertszeiten wieder«, sagt Abraham. Die größeren Moleküle können also offenbar nicht mehr so gut an den Transporter andocken. Die langkettigen PFAS werden nach einiger Zeit schließlich über den Stuhl ausgeschieden.
Keine gesundheitlichen Bedenken beim Selbstversuch
Dass die Ausscheidung der längerkettigen PFAS eingehend untersucht wurde, sieht Abraham als einen zentralen Punkt der Studie. Darüber hinaus liefert die Arbeit erstmals Erkenntnisse zur Kinetik von kurzkettigen und so genannten alternativen PFAS. Die Produktion solcher Stoffe nimmt zu, da sie als Ersatz für mittlerweile verbotene Vertreter dienen. »Alternative« PFAS enthalten nicht nur von Fluoratomen besetzte Kohlenstoffketten, sondern sind komplizierter aufgebaut und verhalten sich daher möglicherweise ganz anders.
»Vor 20 Jahren waren wir alle noch viel stärker mit PFAS belastet als heute«Klaus Abraham, Bundesinstitut für Risikobewertung
Gesundheitliche Bedenken hatte der Wissenschaftler bei dem Experiment nicht. Der für ihn gemixte Cocktail enthielt zwei der zugesetzten PFAS in Mengen von 20 Mikrogramm, von allen anderen jeweils 4 Mikrogramm. Damit werde der Wert für die wöchentliche PFAS-Aufnahme, der als unbedenklich gilt, nicht überschritten, es bestehe für den Probanden also kein erhöhtes Risiko durch die Substanzen, schreibt sein Team in der Veröffentlichung. Abraham sieht das ebenfalls entspannt: »Insgesamt haben die aufgenommenen PFAS einen Spitzenwert von 0,5 Mikrogramm pro Liter produziert«, sagt der Mediziner. Die durchschnittliche Belastung in der Bevölkerung liege für PFOS und PFOA derzeit bei wenigen Mikrogramm pro Liter Blut. Dann schiebt er einen wichtigen Hinweis hinterher: »Vor 20 Jahren waren wir alle – Sie vermutlich eingeschlossen – noch viel stärker mit PFAS belastet als heute.« Der Wissenschaftler hat seine früheren Blutwerte noch einmal herausgeholt: »1997 hatte ich einen PFOA-Wert von 12,8 Mikrogramm pro Liter But. Jetzt liegt er bei 1,5.«
Den Studienautoren ist klar, dass eine Versuchsperson nur einen begrenzten Rückschluss auf die breite Bevölkerung zulässt. Das war auch nicht das Ziel. »Zum einen konnten wir sehen, wie sich die unterschiedlichen PFAS im Vergleich zueinander verhalten«, schließt Abraham. Zum anderen seien besonders die Erkenntnisse über die Ausscheidemechanismen wichtig, um mehr über die Prozesse im Körper zu erfahren. Im Anschluss an die Studie rekrutiert das BfR daher derzeit Teilnehmende für weitere Tests. An 12 Personen wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Kinetik kurzkettiger PFAS untersuchen. »Wir müssen genauer wissen, wie stark sich die Ausscheidung bei verschiedenen Menschen unterscheidet und welche Mechanismen hierbei ablaufen«, sagt der Mediziner.
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