Covid-19: Simulationen, die Regierungen lenken
Als Neil Ferguson das Herz der britischen Regierung in der Londoner Downing Street besuchte, war er der Covid-19-Pandemie viel näher, als ihm bewusst war. Mitte März informierte Ferguson, mathematischer Epidemiologe am Imperial College London, die Beamten über die neuesten Ergebnisse seiner Computermodelle. Zusammen mit seinem Team simuliert er die schnelle Verbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 in der britischen Bevölkerung. Weniger als 36 Stunden später twitterte er, dass er Fieber und Husten hatte. Er wurde positiv getestet. Der Wissenschaftler war zu einem Datenpunkt in seinem eigenen Projekt geworden.
Ferguson ist eines der bekanntesten Gesichter bei der Suche nach mathematischen Modellen, die die Ausbreitung des Virus vorhersagen. Sie sollen zeigen, wie Maßnahmen der Regierung den Verlauf des Ausbruchs verändern könnten. »Die vergangenen Monate waren extrem intensiv und anstrengend«, sagt Ferguson. Covid-19 verursachte bei ihm relativ milde Symptome, er arbeitet weiter. »Seit Mitte Januar hatte ich keinen einzigen freien Tag mehr.«
Nie war Forschung für die Politik wichtiger als jetzt. Neue Daten aus dem Modell des Imperial-Teams deuteten darauf hin, dass das britische Gesundheitswesen bald mit schweren Fällen von Covid-19 überfordert sein würde und es mehr als 500 000 Todesfälle geben könnte, sofern die Regierung nichts unternimmt. Danach kündigte Premierminister Boris Johnson fast augenblicklich strenge Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit der Menschen an. Dasselbe Modell sagte voraus, dass in den Vereinigten Staaten ohne Gegenmaßnahmen 2,2 Millionen Menschen am Coronavirus sterben würden. Nachdem dies dem Weißen Haus mitgeteilt wurde, folgten rasch neue Leitlinien zur sozialen Distanzierung (siehe Infografik »Schockierende Simulation«).
Rund um die Welt verlassen sich Regierungen auf die Hinweise aus mathematischen Berechnungen, um in dieser Pandemie Entscheidungen zu treffen. Computersimulationen machten dabei nur einen Bruchteil der Datenanalysen aus, die die Modellierungsteams in der Krise vorgenommen hätten, stellt Ferguson fest. Doch sie sind ein zunehmend wichtiger Teil der politischen Entscheidungsfindung. Viele Informationen darüber, wie Sars-CoV-2 sich ausbreitet, sind aber noch immer unbekannt und müssen geschätzt oder angenommen werden. Das schränke die Genauigkeit der Prognosen ein, warnen Ferguson und andere Modellierer. So schätzte eine frühere Version des Imperial-Modells beispielsweise, Sars-CoV-2 würde bei Infizierten etwa ebenso häufig zu einer Krankenhauseinweisung führen wie Grippeviren. Das stellte sich als falsch heraus.
Wie gut die Simulationen den Verlauf dieser Pandemie abbilden, sieht man wahrscheinlich erst in einigen Monaten oder Jahren. Um den Wert der Covid-19-Modelle einschätzen zu können, muss man wissen, wie sie erstellt werden und auf welchen Annahmen sie beruhen. »Wir bauen die Realität in vereinfachten Versionen nach. Modelle sind keine Kristallkugeln«, sagt Ferguson.
Die Grundlagen der Virusmodelle
Die Modelle der Forschungsgruppen, die seit Jahren an Mustern zur Ausbreitung von Krankheiten arbeiten, unterscheiden sich zum Teil sehr stark. Die zu Grunde liegenden mathematischen Prinzipien sind jedoch ähnlich. Die Modelle gehen davon aus, dass Menschen sich zwischen drei Hauptzuständen bewegen und versuchen nachzubilden, wie – und wie schnell – dies abläuft. Die Menschen sind entweder anfällig (S) für das Virus, haben sich infiziert (I) und werden das Virus wieder los: sie erholen sich entweder (R) oder sterben. Es wird angenommen, dass die R-Gruppe gegen das Virus immun ist, also die Infektion nicht mehr weitergeben kann. Auch Menschen mit natürlicher Immunität gehören zu dieser Gruppe.
Die einfachsten dieser SIR-Modelle gehen von grundsätzlichen Annahmen aus, wie etwa: Jeder hat die gleiche Chance, sich bei einer infizierten Person anzustecken. Dazu müsste die Bevölkerung absolut gleichmäßig gemischt sein. Und man nimmt an, dass alle Erkrankten bis zu ihrem Tod oder ihrer Genesung gleichermaßen infektiös sind. Fortschrittlichere Modelle, die jene zahlenmäßigen Vorhersagen treffen, welche politische Entscheidungsträger während einer sich abzeichnenden Pandemie benötigen, unterteilen die Menschen in kleinere Gruppen. Es wird etwa nach Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Beschäftigung unterschieden, um abzuschätzen, wer wen wann und an welchen Orten trifft (siehe Infografik »Untersuchung der sozialen Durchmischung«).
Mit Hilfe detaillierter Informationen über Bevölkerungsgröße und -dichte, Alter, Verkehrsverbindungen, Umfang der sozialen Netzwerke und der Gesundheitsversorgung erstellen die Modellierer die virtuelle Kopie einer Stadt, einer Region oder eines ganzen Landes. Um die Bewegungen und Interaktionen von Bevölkerungsgruppen in Raum und Zeit zu steuern, verwenden sie Differenzialgleichungen. Dann setzen sie eine Infektion in diese Welt – und beobachten, wie sich die Dinge entwickeln.
Das erfordert wiederum Informationen, die sich zu Beginn einer Epidemie nur grob abschätzen lassen, etwa wie viele der Infizierten sterben und an wie viele Menschen eine infizierte Person das Virus im Schnitt weitergibt, ausgedrückt durch die Basisreproduktionszahl (R0). In ihrem Bericht vom 16. März schätzten die Modellierer vom Imperial College beispielsweise, dass 0,9 Prozent der an Covid-19 erkrankten Menschen sterben würden. Diese Zahl wurde an die spezifische Demografie des Vereinigten Königreichs angepasst wurde. R0 lag laut der Schätzung zwischen 2 und 2,6, und es dauerte 5,1 Tage, bis sich eine Infektion durch Sars-CoV-2 bei einer Person manifestierte.
Die Modellierer gingen auch davon aus, dass Menschen, die keine Symptome zeigen, das Virus verbreiten können, und zwar bis zu 4,6 Tage, nachdem sie sich infiziert hatten. Erkennbar Erkrankte konnten das Virus bereits zwölf Stunden vor dem Auftreten der Symptome verbreiten; jene Gruppe war insgesamt um 50 Prozent infektiöser als die asymptomatisch Erkrankten. Diese Zahlen hingen von anderen Modellierungen ab: Es handelte sich um grobe Schätzungen von Epidemiologen, die im Frühstadium der Pandemie versucht hatten, aus unvollständigen Informationen verschiedener Länder die grundlegenden Eigenschaften des Virus zu bestimmen.
Manche Parameter müssen ohne jeglichen Anhaltspunkt abgeschätzt werden. So nahm das Team um Ferguson beispielsweise an, dass es keine natürliche Immunität gegen Covid-19 gibt. Anfangs gehört demnach die gesamte Bevölkerung zur anfälligen Gruppe. Menschen, die sich von der Krankheit erholen, sollten kurzfristig immun gegen eine Neuinfektion sein.
Ein Simulationslauf mit diesen Parametern würde immer die gleiche Prognose ergeben. So genannte stochastische Modelle bringen jedoch ein wenig Zufälligkeit mit sich. Es ist, als ob ein virtueller Würfel entscheidet, ob jemand aus der I-Gruppe eine S-Person infiziert, wenn sie sich treffen. Wird ein solches Modell mehrfach ausgeführt, gibt es also nicht nur eines, sondern eine Reihe von Szenarien, die eintreten können.
Auch die Aktivitäten der Menschen bilden die Modellierer auf verschiedene Weise nach. In so genannten gleichungsbasierten Modellen werden die Personen in unterschiedliche Bevölkerungsgruppen eingeteilt. Um die Realität möglichst genau widerzuspiegeln, werden diese wiederum in kleinere, soziale Untergruppen zerlegt. Dadurch werden die Modelle immer komplizierter. Alternativ kann man einen agentenbasierten Ansatz verfolgen. Demnach bewegt sich und handelt jedes Individuum nach seinen eigenen Regeln – ähnlich wie die simulierten Charaktere im Videospiel »Die Sims«.
»Ein paar Zeilen Code bestimmen, wie ihre Agenten handeln, wie sie ihren Tag verbringen«, sagt Elizabeth Hunter, die an der Technological University Dublin an Modellen zur Krankheitsübertragung arbeitet.
Agentenbasierte Modelle bauen die gleiche Art virtuelle Welt auf wie gleichungsbasierte. Mit der Ausnahme, dass sich jede Person an einem bestimmten Tag oder in einer identischen Situation anders verhalten kann. »Solche hochspezifischen Modelle sind extrem datenhungrig«, sagt Kathleen O'Reilly, Epidemiologin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM). »Sie müssen Informationen über die Haushalte sammeln, über die Art und Weise, wie Personen zur Arbeit kommen, und darüber, was sie am Wochenende tun.« Im Rahmen eines Citizen-Science(Bürgerwissenschafts)-Projekts der BBC, des nationalen britischen Rundfunkveranstalters, sammelten Forscher der LSHTM, des University College London und der University of Cambridge Sozialkontaktdaten von mehr als 36 000 Freiwilligen. Diesen Datensatz, über den im Februar in einer Vorabveröffentlichung berichtet wurde, haben einige Modellierer verwendet, die die britische Regierung unterstützen.
Welches Modell ist am geeignetsten?
Sowohl agentenbasierte als auch gleichungsbasierte Modelle hat das Team vom Imperial College bei dieser Pandemie bereits verwendet. Bei den Simulationen vom 16. März, die das Team durchführte, um die britische Regierung zu einer Reaktion auf Covid-19 zu bewegen, setzte es ein agentenbasiertes Modell aus dem Jahr 2005 ein. Es wurde ursprünglich entwickelt, um vorherzusagen, was in Thailand passieren würde, falls das Vogelgrippevirus H5N1 zu einer Version mutiert, die sich leicht von Mensch zu Mensch verbreitet. Dasselbe Modell wurde im Jahr 2006 verwendet, um zu untersuchen, wie Großbritannien und die USA die Auswirkungen einer tödlichen Grippepandemie mildern könnten. Damals hatte Ferguson gegenüber »Nature« gesagt, es sei schwieriger, genaue Daten über die thailändische Bevölkerung zu sammeln, als den Programmcode für das Modell zu schreiben. Dieser Code wurde nicht veröffentlicht, als die Prognosen des Teams zur Coronavirus-Pandemie zum ersten Mal verkündet wurden. Es arbeite aber mit Microsoft zusammen daran, den Code aufzuräumen und zugänglich zu machen, sagt Ferguson.
Am 26. März veröffentlichten Ferguson und sein Team globale Vorhersagen über die Auswirkungen von Covid-19. Um diese zu treffen, hatten sie einen einfacheren, gleichungsbasierten Ansatz verwendet. Er teilt die Menschen in vier Gruppen ein: S, E, I und R. Die Gruppe »E« beinhaltet diejenigen, die Kontakt zu Infizierten hatten, aber noch nicht ansteckend sind. »Die Gesamtzahlen sind im Großen und Ganzen ähnlich«, sagt Epidemiologin Azra Ghani, die ebenfalls zum Imperial-Team gehört. Die Hochrechnungen ergaben beispielsweise, dass die Vereinigten Staaten 2,18 Millionen Tote zu beklagen hätten, sofern sie nichts gegen das Virus unternommen hätten. Zum Vergleich: Die frühere agentenbasierte Simulation, die mit den gleichen Annahmen zur Sterblichkeitsrate und Reproduktionszahl durchgeführt wurde, schätzte die Zahl der Toten in den USA auf 2,2 Millionen.
Die verschiedenen Modelle hätten jeweils ihre Stärken und Schwächen, sagt Vittoria Colizza, Modelliererin am Institut Pierre Louis d'Epidémiologie et de Santé Publique in Paris. Sie berät die französische Regierung in der aktuellen Notlage. »Es hängt davon ab, welche Frage man stellen möchte«, sagt sie.
Ein Unterschied liegt beispielsweise in der Zahl der Menschen, von denen die Modellierer annehmen, dass sie sich gleich verhalten. Die Möglichkeit, Menschengruppen innerhalb eines gleichungsbasierten Modells zu bündeln, macht die Dinge einfacher – und schneller. Das Modell muss dann nicht auf der hochauflösenden Ebene laufen, bei der jeder als Individuum behandelt wird. Colizza und ihr Team verwendeten beispielsweise ein gleichungsbasiertes Modell, um zu testen, wie es sich auf die Infektionsraten auswirkt, wenn ein Großteil der französischen Bevölkerung gezwungen wird, von zu Hause aus zu arbeiten. »Es war nicht nötig, jeden Einzelnen zu verfolgen, um zu sehen, wie viel Zeit er am Arbeitsplatz oder in der Schule verbringt«, sagt sie.
Auch wenn sich die Vorhersagen der verschiedenen Ansätze kaum unterscheiden, ist es natürlich fraglich, wie zuverlässig die Simulationen sind. Es ist schwierig, während einer laufenden Pandemie Daten – etwa über die Infektionsraten – zu erhalten, gegen die man die Prognosen eines Modells abgleichen kann.
»Man kann die Zahlen hochrechnen und dem gegenüberstellen, was man sieht. Aber das Problem ist, dass unsere Überwachungssysteme ziemlich schwachsinnig sind«, sagt John Edmunds, der als Modellierer an der LSHTM arbeitet. »Ist die Gesamtzahl der gemeldeten Fälle korrekt? Nein. Ist da irgendetwas genau? Nein.«
»Es wird selten untersucht, wie genau die Prognosen waren, die während eines Ausbruchs getroffen wurden. Erst vor Kurzem haben Modellierer damit begonnen, ihre Ergebnisse, Codes, Modelle und Daten für retrospektive Analysen zur Verfügung zu stellen«, bemerkte Edmunds' Team 2019 in einem Paper, in dem es Vorhersagen beurteilte, die bei einem Ebolaausbruch in Sierra Leone 2014/15 getroffen worden waren. Die Forscher stellten fest, dass der Verlauf der Epidemie für ein oder zwei Wochen zuverlässig vorherzusagen war. Mehr ließen die Unsicherheiten und das fehlende Wissen über den Ausbruch allerdings nicht zu.
Um die Auswirkungen unvollständiger Daten und falscher Annahmen zu minimieren, fertigen die Modellierer in der Regel Hunderte von einzelnen Durchläufen an. Jedes Mal passen sie ihre Eingaben ein wenig an. Diese »Empfindlichkeitsanalyse« soll verhindern, dass die Ergebnisse der Modellierung stark schwanken, wenn man einen einzelnen Parameter verändert. Um auszuschließen, dass man sich zu sehr auf ein einziges Modell verlässt, holte die britische Regierung zudem den Rat mehrerer Modellierungsgruppen ein, etwa vom Imperial College und der LSHTM. »Wir kamen alle zu ähnlichen Ergebnissen«, sagt Ferguson.
Ein entscheidendes Update
Anfang März brachte das Imperial-Team sein Modell auf den neuesten Stand. Medienberichten zufolge war das ein entscheidender Faktor, der die britische Regierung dazu veranlasste, ihre Politik in Bezug auf die Pandemie zu ändern. Die Forscher rechneten zunächst damit, dass 15 Prozent der Krankenhausfälle auf einer Intensivstation (ICU) behandelt werden müssten. Dann erhöhten sie ihre Schätzung auf 30 Prozent. Diese Zahl wurde verkündet, als ihre Arbeit am 16. März erstmalig veröffentlicht wurde. Das zugehörige Modell zeigte, dass das britische Gesundheitssystem, das über nicht viel mehr als 4000 Betten auf der Intensivstation verfügt, gänzlich überfordert wäre.
Davor hatten Regierungsbeamte die Theorie aufgestellt, man solle die Krankheit ausbrechen lassen und lediglich die Ältesten der Gesellschaft schützen. Der Großteil der Infizierten würde sich erholen und Immunität für den Rest der Bevölkerung bieten. Als sie die neuen Zahlen sahen, änderten sie jedoch ihren Kurs und ordneten kontaktreduzierende Maßnahmen an. Kritiker fragten daraufhin, warum man nicht schon früher über soziale Distanzierung nachgedacht hätte, warum nicht flächendeckend getestet worden sei und weshalb die Modellierer zuvor überhaupt die 15-Prozent-Marke gewählt hatten. Eine im Januar veröffentlichte Studie hatte bereits gezeigt, dass mehr als 30 Prozent einer kleinen Gruppe von Covid-19-Erkrankten in China auf Intensivstationen behandelt werden mussten.
Die Bedeutung der Aktualisierung würde möglicherweise übertrieben, sagt Ferguson. Schon vorher hätten die Modelle darauf hingedeutet, dass Covid-19 – sofern nichts dagegen unternommen würde – im Lauf des Jahres etwa eine halbe Million britische Bürger töten könnte und die Intensivstationen des Landes weit über ihre Kapazität hinaus belasten würde. Beratungsteams hatten über soziale Distanzierung zur Unterdrückung der Pandemie diskutiert, doch die Abgeordneten befürchteten, dass dies im Lauf des Jahres zu einem zweiten, noch größeren Ausbruch führen könnte. Großflächige Tests, wie man sie in Südkorea durchführt, wurden nicht in Betracht gezogen. Laut Ferguson ist dies zum Teil darauf zurückzuführen, dass die britische Gesundheitsbehörde den Regierungsberatern mitgeteilt hat, sie sei nicht in der Lage, die Testkapazität schnell genug zu steigern.
Was die chinesischen Daten zu den Intensivstationen betrifft, so hatten sich die Ärzte diese zwar angesehen, aber festgestellt, dass nur die Hälfte der Fälle ein mechanisches Beatmungsgerät zu benötigen schienen. Die anderen erhielten zwar Sauerstoff unter erhöhtem Druck, benötigten jedoch wahrscheinlich kein Bett auf der Intensivstation. Auf Grund dieser Tatsache und ihrer Erfahrung mit viralen Lungenentzündungen hatten Kliniker den Modellierern zur Annahme der 15-Prozent-Marke geraten.
Das wichtige Update kam in der Woche, bevor Ferguson die Regierungsbeamten in der Downing Street informierte. Ärzte, die mit entsetzten Kollegen aus Italien gesprochen hatten, sagten, der unter Druck stehende Sauerstoff reiche nicht aus und alle 30 Prozent der schweren stationären Fälle müssten auf einer Intensivstation invasiv beatmet werden. Die Prognosen zur Sterblichkeit hätten sich bei den aktualisierten Modellen nicht wesentlich verändert, sagt Ferguson. Sie gingen davon aus, dass viele der vorhergesagten Todesfälle eher innerhalb der Gemeinschaft als in Krankenhäusern auftreten würden. Doch die Vorstellung eines völlig überforderten Gesundheitssystems und die Erfahrungen Italiens hätten zu einer »plötzlichen Anspannung der Gemüter« geführt, sagt er. Die Regierungsbeamten schwenkten rasch auf sozialdistanzierende Maßnahmen um (siehe Infografik »Ein Lockdown hält die Neuinfektionen in Schach«).
Tests sind dringend notwendig
Während andere Forscher mehr über das Virus herausfinden, aktualisieren die Modellierer viele andere Schlüsselvariablen. In seinem Bericht vom 26. März zu den globalen Auswirkungen von Covid-19 korrigierte das Imperial-Team seine bisherigen Schätzungen (vom 16. März) zu R0-Wert auf eine Zahl zwischen 2,4 und 3,3. Als die Forscher am 30. März über die Ausbreitung des Virus in elf europäischen Ländern berichteten, setzten sie den Wert zwischen 3 und 4,7 fest.
Aber einige entscheidende Informationen bleiben den Modellierern verborgen. Ein zuverlässiger Test, um herauszufinden, wer infiziert war, ohne Symptome zu zeigen – und dann der genesenen Gruppe zugeordnet werden kann –, wäre für die Modellierer ein großer Schritt nach vorn. Das könnte den vorhergesagten Verlauf der Pandemie erheblich verändern, sagt Edmunds.
Um die Notwendigkeit eines solchen Tests hervorzuheben, merkte ein Team der britischen University of Oxford unter der Leitung der theoretischen Epidemiologin Sunetra Gupta an, das Muster der registrierten Todesfälle im Vereinigten Königreich könne zu verschiedenen SIR-Modellen passen – einschließlich zu einem, das davon ausgeht, dass Millionen von Menschen bereits infiziert sind, aber keine Symptome zeigen. Nur Tests, die solche vergangenen Infektionen aufzeigen, können belegen, was in Wirklichkeit vor sich geht.
Es gibt allerdings noch eine weitere wichtige Unbekannte: Wie reagieren die Menschen auf erzwungene Verhaltensänderungen? Und: Reduzieren solche Veränderungen die Infektionsraten so stark, wie es die Wissenschaftler erwarten? Laut Umfragen aus China hatten die Bürger von Wuhan und Schanghai während der von den Behörden verhängten Distanzierungsmaßnahmen sieben- bis neunmal weniger tägliche Kontakte zu anderen Menschen. Obwohl die Berichte zu den Modellen des Imperial College und der LSHTM dies nicht ausdrücklich angeben, seien sie anscheinend von Veränderungen in derselben Größenordnung ausgegangen, sagt Marco Ajelli, der die chinesische Studie begleitet hat und an der Bruno Kessler Foundation im italienischen Trient die Ausbreitung von Infektionskrankheiten untersucht.
Wenn alle Länder Strategien zur strikten sozialen Distanzierung, Testung und Isolierung von Infizierten anwenden, bevor 0,2 von 100 000 Menschen pro Woche sterben, könnten die weltweiten Todesfälle durch Covid-19 bis zum Ende des Jahres auf weniger als 1,9 Millionen gesenkt werden, so schätzt das Imperial-Team. Die Reaktion Großbritanniens stimme ihn »einigermaßen zuversichtlich«, dass die Gesamtzahl der Todesfälle in Großbritannien unter 20 000 gehalten werden könne, sagte Ferguson am 25. März.
Mit Hilfe landesweiter Lockdowns in ganz Europa würde bereits daran gearbeitet, die Übertragung von Sars-CoV-2 zu reduzieren, so Ferguson. Wie lange die sozialen Distanzierungsmaßnahmen noch aufrechterhalten werden müssen, ist eine große Frage für die Länder, die sich um ihre Wirtschaft und die geistige und körperliche Gesundheit ihrer Bürger sorgen. Die soziale Distanzierung dämmt die Ausbreitung des Virus zwar vorerst ein. Eine Aufhebung dieser Maßnahmen könnte später im Jahr oder im nächsten Jahr jedoch eine zweite Welle der Pandemie einläuten, prognostiziert ein Modell des Imperial College (siehe Infografik »Eine zweite Welle«).
Ferguson sagt, er hoffe, die Länder könnten dem praktischen Beispiel Südkoreas folgen. Das Land hat es geschafft, eine weniger strenge Version der sozialen Distanzierung durchzusetzen, indem es extrem viele Tests und die Rückverfolgung der Kontakte von Infizierten eingeführt hat. Werden die Sperrmaßnahmen gelockert, müssen die betroffenen Regionen genau überwacht werden, wie es momentan in der chinesische Provinz Hubei der Fall ist. Nur solche Studien können Modellierern die Informationen liefern, die sie brauchen, um die längerfristigen Auswirkungen der Pandemie vorherzusagen.
Der Artikel ist im Origal unter dem Titel »Special report: The simulations driving the world’s response to COVID-19« in »Nature« erschienen.
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