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Medienkonsum: Macht Tiktok süchtig?

Der Psychologe Christian Montag erforscht, wie das Videoportal Tiktok junge Leute in seinen Bann zieht und wer dafür anfällig ist. Ein Interview über die App und ihre besonderen Reize.
Mädchen um die 18 Jahre starrt auf ihr Handy, das sie vor dem Gesicht hält. Sie steht vor einer weißen Wand, die leicht orange beleuchtet ist.
Tiktok versteht sich gut darauf, junge Nutzerinnern und Nutzer an den Bildschirm zu fesseln. (Symbolbild)

Jung, trendy und kreativ: Mehr als eine Milliarde Menschen besuchen mindestens einmal im Monat die Social-Media-Plattform Tiktok – viele wahrscheinlich noch sehr viel häufiger. Doch die Kurzvideo-App steht derzeit im Kreuzfeuer der Kritik: In den USA droht ein Tiktok-Verbot, und ein EU-Verfahren soll prüfen, ob Bytedance, der Mutterkonzern von Tiktok, genug gegen die Suchtgefahr und die Verbreitung illegaler Inhalte unternimmt. Über die Folgen von ausgiebigem Tiktok-Konsum ist allerdings noch gar nicht viel bekannt. Der Ulmer Psychologe Christian Montag gehört zu den wenigen, die dazu forschen.

Herr Montag, worum geht es in der aktuellen Debatte um Tiktok?

Einerseits um gesundheitspsychologische Aspekte – vor allem die Frage, ob eine exzessive Tiktok-Nutzung suchtähnliche Züge annehmen kann. Andererseits ist da eine politische Dimension. Die USA gehen wegen Spionageverdacht gegen Bytedance vor, den chinesischen Mutterkonzern von Tiktok. Beide Debatten sind miteinander verquickt. Darüber hinaus haben Bytedance und die Plattform Meta, zu der Facebook, Instagram und Whatsapp gehören, das gleiche problematische Geschäftsmodell: Onlinezeiten verlängern und immer jüngere Nutzer anziehen.

Auf Tiktok sind auffällig viele Kinder und Jugendliche unterwegs. Hat das mit dem speziellen Design der App zu tun?

Vermutlich. Tiktok ist eine Kurzvideo-App, die im Hochformat funktioniert. Dadurch ist sie fürs Smartphone optimiert, anders als zum Beispiel Youtube. Viele Clips sind nur 15 Sekunden lang, und man kann sie ohne Unterbrechung abspielen. Das versetzt das Gehirn in eine ständige Erwartungshaltung: Das nächste Video könnte noch unterhaltsamer, noch witziger sein. Hinzu kommt ein Algorithmus, der äußerst schnell individuelle Vorlieben erkennt. Diese Kombination – Kurzvideos plus hochgradig personalisierte Inhalte – führt eventuell gerade bei jungen Menschen zu einer Übernutzung der Plattform. Bei ihnen ist der für die Selbstkontrolle zuständige Präfrontalkortex noch nicht vollständig ausgebildet. Dadurch fällt es ihnen womöglich schwerer als Erwachsenen, sich vom Smartphone loszureißen.

Christian Montag | Der Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm erforscht unter anderem, wie das Internet, Mobiltelefone und Computerspiele auf die psychische Gesundheit wirken und welche Persönlichkeitseigenschaften mit suchtähnlichem Medienkonsum zusammenhängen.

Besonders kritisiert wird Tiktok Lite, eine abgespeckte Version der App, die weniger Datenvolumen verbraucht. Was macht sie so problematisch?

Das in der App integrierte Bonusprogramm, das allerdings auf Druck der EU inzwischen gestoppt wurde, zumindest vorerst. Fürs Anschauen von Videos erhielt man Gutscheine, die man bei Onlinehändlern einlösen konnte. Man kann sich leicht vorstellen, dass das einen extremen Sog ausübt, vor allem auf Kinder und Jugendliche. Übrigens: Tiktok Lite ist meiner Kenntnis nach eigentlich erst ab 18 Jahren vorgesehen; unklar erscheint mir jedoch, wie gut die Alterschecks sind.

Wie wirkt Tiktok auf die Psyche?

Um diese Frage befriedigend zu beantworten, müsste ich auf der Plattform Forschung machen können. Doch unabhängige Akademiker haben meistens keinen Zugang zu den Nutzerdaten. Diese braucht es, um experimentell zu überprüfen, wie Design-Elemente auf die Psyche wirken. Tiktok ist eine Black Box. Hinzu kommt: Es handelt sich um eine sehr neue Plattform. Auch deshalb wissen wir wenig.

Lässt sich das Tiktok-Design nicht im Labor nachbauen?

Das ist extrem schwierig. Und ich frage mich, ob das zumutbar ist. Ich sage: Nein, das ist Ressourcenverschwendung. In anderen Bereichen der Psychologie schaffe ich neues Wissen, aber in der Social-Media-Forschung soll ich mit Steuergeldern Wissen schaffen, das eigentlich schon vorhanden ist – und zwar hinter den hohen Mauern der Unternehmen. Das ist absurd.

Die Europäische Kommission hat ein Verfahren eingeleitet, um zu überprüfen, ob Tiktok gegen das Gesetz über Digitale Dienste, den Digital Service Act, verstößt und seiner Verpflichtung zum Schutz von Minderjährigen nicht nachkommt. In dem Zusammenhang könnten unabhängige Forschende Zugang zu den Nutzerdaten erhalten …

… was meines Wissens bis jetzt nicht stattgefunden hat. Mit Kollegen habe ich gerade einen Kommentar in »Nature Reviews Psychology« veröffentlicht, in dem wir genau das fordern. Meine Hoffnung ist, dass wir bald endlich unsere Arbeit aufnehmen können.

»Das nächste Video könnte noch unterhaltsamer, noch witziger sein«

Man vermutet, dass Tiktok Depressionen, Angst und Einsamkeit verursacht.

So pauschal ist das sicherlich nicht der Fall. In der Gesamtbevölkerung hängt die Nutzungsdauer sozialer Medien zwar schwach mit negativem Wohlbefinden zusammen. Die Effektstärken sind aber so klein, dass sie möglicherweise keine Alltagsrelevanz haben. Wir brauchen einen personenzentrierten Ansatz, um zu verstehen, wer auf Grund der eigenen Nutzung Probleme entwickelt: Welches Alter, Geschlecht, welcher soziodemografische Hintergrund erhöhen das Risiko? Lässt man sich auf Tiktok passiv berieseln, verwendet man die App zum Spaß und Vergnügen oder kommt die App beruflich zum Einsatz? Wir müssen sehr genau schauen, denn Menschen zeigen unterschiedliche Reaktionen im Kontext ihrer Social-Media-Nutzung.

Sie haben herausgefunden, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale mit einer exzessiven Tiktok-Nutzung zusammenhängen – welche sind das?

Neurotizismus und geringe Gewissenhaftigkeit, wobei die Übernutzung über depressive Tendenzen vermittelt wird. Die Ergebnisse stammen zwar von Erwachsenen. Es könnte jedoch gut sein, dass das auf Jüngere übertragbar ist.

»Neurotizismus und geringe Gewissenhaftigkeit machen eine Übernutzung von Tiktok etwas wahrscheinlicher«

Was haben Neurotizismus und geringe Gewissenhaftigkeit mit dem ständigen Schauen von Kurzvideos zu tun?

Die Theorie dahinter: Wenig gewissenhafte Menschen verfügen tendenziell über geringere Selbstregulationsfähigkeiten und kommen deswegen schlechter von Tiktok los. Und neurotische Menschen berichten vermehrt von negativen Emotionen, sie nutzen die Plattform womöglich, um ihren Alltag zu vergessen. Solch ein Bewältigungsstil kann zum sozialen Rückzug führen, was neue Probleme aufwirft. Wir haben es mit sehr dynamischen Prozessen zu tun. Die Studie bitte nicht falsch verstehen: So etwas wie eine Suchtpersönlichkeit existiert nicht. Neurotizismus und geringe Gewissenhaftigkeit sind zwei Stellglieder von vielen, die eine Übernutzung von Tiktok etwas wahrscheinlicher machen. Wenn verschiedene Faktoren zusammenkommen, etwa die erwähnten Persönlichkeitsmerkmale, jugendliches Alter und passives Konsumieren, dann resultiert daraus vielleicht ein echtes Problem. So etwas zu überprüfen ist aber extrem aufwändig.

Kann man dann überhaupt von einer Tiktok-Sucht sprechen?

Das soll im von der Europäischen Kommission eingeleiteten Verfahren zumindest im Hinblick auf das Plattform-Design überprüft werden. Als offizielle Diagnose ist die so genannte Soziale-Netzwerk-Nutzungsstörung übrigens bislang nicht anerkannt. Es gibt erste Hinweise. Wir haben in einer Studie das Rahmenwerk der Weltgesundheitsbehörde zur Diagnose der offiziell anerkannten Computerspielsucht auf Tiktok übertragen und geschaut, ob wir suchtähnliches Verhalten abbilden können. Die Daten sehen aus statistischer Sicht danach aus. Allerdings ist die Evidenz noch lange nicht ausreichend.

Welche Belege braucht es noch?

Wir müssen die Kolleginnen und Kollegen in den auf Medienabhängigkeit spezialisierten Kliniken befragen, ob es dort überhaupt Betroffene gibt. Dann gilt es beispielsweise zu überprüfen, ob wir es eher mit einer Sucht oder mit zwanghaftem Verhalten zu tun haben. Und es braucht neurobiologische Evidenz. Bekommt ein alkoholabhängiger Mensch ein Glas Bier vorgesetzt, aktiviert das bestimmte Schaltkreise im Gehirn, und die Person spürt ein starkes Verlangen. Passiert das auch bei einem Tiktok-Konsumenten, wenn man ihm ein Mobiltelefon vor die Nase hält? Meine persönliche Meinung: Ja, ich denke, dass Tiktok suchtähnliches Verhalten auslösen kann. Wir brauchen aber mehr empirische Evidenz, um das abschließend beantworten zu können.

Ab welchem Alter sollten Heranwachsende frühestens Zugang zu Tiktok haben?

Das wissen wir nicht. Tiktok und andere soziale Medien nennen meist ein Mindestalter von 13 Jahren. Doch das ist willkürlich gesetzt und geht auf den Children’s Online Privacy Protection Act aus dem Jahr 2000 zurück, ein Gesetz zum Schutz der Online-Privatsphäre von Kindern. Damals gab es noch gar keine sozialen Medien. Niemand weiß, ob 13 ein gutes Alter ist. Ich würde sagen: eher später. Von jüngeren Kindern spreche ich bewusst nicht, sie sollten meiner Meinung nach überhaupt nicht auf Tiktok sein.

»Die mit sozialen Medien verbrachte Zeit fehlt jungen Menschen für wichtige Entwicklungsaufgaben«

Was für Bedenken haben Sie bei Jugendlichen?

Wir haben es bei jüngeren Jugendlichen mit einer besonders vulnerablen Personengruppe zu tun – und einer Industrie, die diese in jeder freien Minute auf die Plattform ziehen will. Mir geht es nicht um moralische Empörung. Aber die mit sozialen Medien verbrachte Zeit fehlt jungen Menschen für wichtige Entwicklungsaufgaben wie das Erlernen sozialer Kompetenzen, die Identitätsfindung und die Entdeckung der eigenen Sexualität.

Woran erkennen Eltern, dass der Tiktok-Konsum ihres Nachwuchses problematisch ist?

Ein Anzeichen ist der Kontrollverlust: Die Jugendlichen wollen eigentlich seltener auf der Plattform unterwegs sein, es gelingt ihnen jedoch nicht. Dann wäre da der hohe Stellenwert von Tiktok – andere Interessen rücken in den Hintergrund. Hinzu kommt eine gewisse Unbelehrbarkeit, zum Beispiel immer wieder bis tief in die Nacht Kurzvideos zu schauen, obwohl man weiß, dass man dann am nächsten Morgen müde sein wird. Und schließlich die Folgen: Das Verhalten ist so exzessiv, dass es zu großen Problemen führt und der Nachwuchs deshalb zum Beispiel in der Schule sitzen bleibt.

Wenn ein Jugendlicher in der Schule mitkommt, sozial eingebunden ist, ausreichend Sport macht und dann vielleicht noch eine halbe Stunde am Tag auf Tiktok ist, gibt es also kein Problem.

Vermutlich nicht. Eltern sollten stets einen ganzheitlichen Blick auf ihren Nachwuchs haben – also bitte keine unbegründete Panikmache.

An wen können sich verunsicherte Eltern wenden?

Auf Medienabhängigkeit spezialisierte Anlaufstellen sind beispielsweise die Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Mainz, die LVR-Klinik in Bonn, das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und die Psychosomatische Klinik Kloster Dießen am Ammersee. Hier erhalten nicht nur Kinder und Jugendliche Hilfe, sondern auch Erwachsene, die bei sich ein Problem erkennen.

Müssen auch die Eltern ihr Verhalten ändern, wenn ihr Kind ein Problem hat?

Wenn Eltern den ganzen Tag aufs Smartphone starren, tun Kinder das natürlich irgendwann auch. In Familien sollte man einander auf Augenhöhe begegnen. Eine Möglichkeit ist, dass man gemeinsam einen Medienvertrag aufsetzt. Dort hält man fest, wie Tiktok und Co. genutzt werden dürfen. Die Regeln gelten also auch für die Erwachsenen.

Was können Eltern tun, wenn ihre Kinder auf Tiktok mit Gewalt, Propaganda, Fake News oder pornografischen Inhalten konfrontiert werden?

Eigentlich ist es zu banal, um es zu erwähnen: Sie sollten immer ein offenes Ohr haben. Es hilft, die Plattform gemeinsam zu erkunden. Viele Eltern waren noch nie auf Tiktok. Die App ist aber Teil der Jugendkultur, und man sollte sich darum bemühen, die Faszination zu verstehen, die sie auf junge Leute ausübt. Hauptverantwortlich sind allerdings nicht die Eltern, sondern die Industrie. Das möchte ich betonen. Die eigentliche Frage lautet doch: Wie sieht eine gesunde Social-Media-Plattform aus? Wir müssen radikal neu denken und weg vom Datengeschäftsmodell. Nutzerdaten und die Aufmerksamkeit der Nutzenden sind die schlechteste Währung überhaupt. Solange wir damit zahlen, werden wir keine gesunden Plattformen sehen.

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  • Quellen

Montag, C. et al.: Safeguarding young users on social media through academic oversight. Comment. Nature Reviews Psychology, 2024

Montag, C. et al.: On the psychology of TikTok use: A first glimpse from empirical findings. Frontiers in Public Health 9, 2021

Montag, C. et al.: Depressive inclinations mediate the association between personality (neuroticism/conscientiousness) and TikTok use disorder tendencies. BMC Psychology 12, 2024

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