Streuprozesse: Teilchendynamik reloaded
Es ist schon gut vier Jahrzehnte her, seit Richard Feynman seinen Minibus bemalte – mit eben jenen Diagrammen, die ihm 1965 den Nobelpreis für Physik einbracht hatten. Aber bis heute arbeiten Wissenschaftler am Feinschliff der Feynmanschen Dekoration: an den grafischen Darstellungsformen für Streuprozesse.
Feynman beschrieb grafisch, wie subatomare Teilchen während einer Kollision miteinander in Wechselwirkung treten. Damit hatten Physiker eine anschauliche Methode zur Hand, um "Streuamplituden" zu berechnen: die mathematischen Ausdrücke geben an, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Interaktion stattfindet. Hochenergiephysiker und Quantengravitationsforscher streben gleichermaßen nach einem tieferen Verständnis dieser Wechselwirkungen. So versuchen sie beispielsweise, die Terme, mit denen sich die Streuung von Teilchen berechnen lässt, geometrisch darzustellen oder entwerfen leistungsfähigere Algorithmen.
Solche Bemühungen könnten weit reichende Folgen haben. Das richtige Handwerkszeug würde das Leben von Forscher gehörig erleichtern, wenn diese Ereignisse in Teilchenbeschleunigern berechnen wollen. Und auch auf einer viel grundlegenderen Ebene wäre solches Rüstzeug vielleicht nutzbringend: In einer zukünftigen Theorie der Quantengravitation könnte es die Struktur der Raumzeit offenbaren – ein Durchbruch, der die moderne Physik vereinheitlichen würde.
Die Struktur solcher Berechnungen unter die Lupe zu nehmen, um Hinweise auf die Geometrie der Raumzeit – und wie sich diese unter dem Einfluss der Schwerkraft verformt – zu erlangen, ist ein relativ neuer Trend. Die Analyse der Streuamplituden bei Teilchenkollisionen erlaubte es Physikern am Forschungszentrum CERN bereits, komplexe Teilchenwechselwirkungen im Large Hadron Collider (LHC) zu berechnen [1]. Andernorts bemühen sich Theoretiker im Rahmen der Quantengravitation, die Quantenmechanik – diese beschriebt das Verhalten winziger Teilchen – mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie – diese charakterisiert die Gravitation – zu vereinen.
In den 1940er-Jahren veranschaulichte Feynman in Diagrammen, wie Wechselwirkungen zwischen Teilchen möglicherweise ablaufen – beispielsweise könnte bei der Streuung zweier Elektronen ein einzelnes Photon ausgetauscht werden. Heutzutage ersetzt man die Feynman-Diagramme durch effizientere Algorithmen und Forscher finden neue Wege, um die Terme in diesen Algorithmen geometrisch darzustellen.
Im vergangenen Jahr gelang es David Skinner von der University of Cambridge in England und Freddy Cachazo vom Perimeter Institute for Theoretical Physics im kanadischen Waterloo, Streuamplituden in einer als 'Supergravitation' bezeichneten Theorie darzustellen. Hierin verbinden Wissenschaftler die Allgemeine Relativitätstheorie mit der Idee der Supersymmetrie – alle Teilchen besitzen demnach einen massereicheren 'Superpartner', wodurch die Berechnungen manipulierbarer werden [2]. So lassen sich laut Skinner im Rahmen der Supergravitation die Streuamplituden in eigenartige geometrische Objekte übertragen, Twistorräume genannt. Erstmals beschrieben wurden diese in den späten 1960er-Jahren von dem Physiker Roger Penrose. Seine Berechnungen würden die Vermutung von Penrose unterstützen, berichtet der theoretische Physiker, dass Twistorräume – in denen Lichtstrahlen als Punkte dargestellt werden – die Grundlage einer Quantentheorie der Gravitation bilden könnten. "Sie erzählen uns etwas über das Wesen der Gravitationstheorie", so Skinner.
Andere Wissenschaftler entwerfen alternative geometrische Formen, um die Streuung von Teilchen bildhaft zu machen. Nima Arkani-Hamed vom Institute for Advanced Study in Princeton, US-Bundesstaat New Jersey, und seine Kollegen bereiten gerade eine Publikation vor, in der sie eine Struktur namens Amplituhedron vorstellen wollen. Dieses Gebilde stellt Streuamplituden durch das Volumen eines Polygons dar, bei dem die Anzahl von Eckpunkten mit der Teilchenanzahl übereinstimmt. Der Zusammenhang zwischen dieser Struktur und der Quantengravitation ist zwar noch unklar, doch Arkani-Hamed hofft, dass dieser Ansatz den Weg zu einer eleganten und universellen geometrischen Darstellung der Gravitation weist.
Und es gibt noch weitere Ideen. Um Streuamplituden zu berechnen, muss man in der Regel über alle möglichen Wechselwirkungen integrieren. Im August zeigten Pedro Vieira und seine Kollegen am Perimeter Institute jedoch, wie sich die Streuamplituden direkt berechnen lassen – ohne den Umweg über die Integration [3]. Demnach ergeben sich die Streuamplituden aus der Fläche einer gekrümmten Oberfläche, die durch ein Polygon begrenzt wird. Eine Seifenblase, die man durch ein polygonförmiges Loch bläst, käme dieser Form wohl nahe. Verglichen mit dem Amplituhedron handelt es sich offenbar um ein gänzlich anderes geometrisches Gebilde, dennoch schließen sich die beiden gegenseitig nicht aus. "Wir verwenden unterschiedliche Ansätze, doch beide sind richtig", sagt Vieira.
Solche Fortschritte haben auch praktische Konsequenzen. Im Juli berichteten Forscher um Zvi Bern von der University of California in Los Angeles vom Einsatz eines Algorithmus, der entwickelt worden war, um Feynman-Diagramme zu erweitern. Das Team berechnete damit die Streuung von Quarks und Gluonen in den Protonenstrahlen des LHC, aus der ein W-Boson sowie fünf Teilchenjets hervorgehen können [1]. Mit Feynman-Diagrammen allein lassen sich dagegen nur zwei solcher Jets berechnen.
Durch diese Berechnungen können Wissenschaftler am LHC in ihren Experimenten nach subtileren Signaturen der Supersymmetrie suchen, erläutert CERN-Sprecher Joe Incandela, als sie zunächst für möglich gehalten hatten.
Supersymmetrie ist ein heißer Kandidat für eine Theorie, die weit über das heutige Standardmodell der Teilchenphysik hinausgeht. Letzteres beschreibt das Verhalten der meisten bekannten Teilchen und Kräfte. Bisher fahndeten die Forscher vor allem nach den auffälligsten Anzeichen für neue Teilchen und blieben damit erfolglos. Denn in den experimentellen Daten fanden sich keine Belege für zusätzliche Ereignisse, die auf Wechselwirkungen mit den Superpartnern zurückgehen. Auch eine tiefer gehende Suche nach Ereignissen, in denen ein W-Boson zusammen mit fünf Teilchenjets entsteht, lieferte in diesem Jahr keine Anhaltspunkte. Wären supersymmetrische Teilchen erzeugt worden, hätte man dies aber erwartet. In einem nächsten Schritt will das CERN-Team Ereignisse mit sechs oder sogar sieben Jets modellieren, sagt Incandela. "Es ist einfach phantastisch, dass wir derart komplexe Ereignisse untersuchen können."
Bisher haben die Theoretiker den Weg für die Experimentalphysiker geebnet. Doch Incandela erwartet, dass die am LHC gesammelten Daten letztlich auch die Arbeit der Theoretiker voranbringen werden: Die komplexen Berechnungen der Streuvorgänge lassen sich mit den tatsächlichen Ereignissen aus dem Teilchenbeschleuniger vergleichen. "Sie werden einen Realitätscheck gut gebrauchen können", sagt er.
Der Artikel ist unter dem Titel "Rethinking particle dynamics" in Nature erschienen.
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