Tiroler Lech: Ein gezähmter Fluss wird wieder wild
Im Herbst 1985 wurde Peter Hanisch, damals junger Mitarbeiter des Wiener Zivilingenieurbüros Zottl & Erber, an den Tiroler Lech geschickt. Er sollte dort im Auftrag der Wasserbauverwaltung Vermessungsarbeiten durchführen, die klären sollten, ob und wie der Fluss weiter reguliert, also mit Uferbefestigungen und Querstufen an der Sohle verbaut werden sollte.
Etwa ein dreiviertel Jahr davor hatte Peter Hanisch sein Studium der Kulturtechnik und Wasserwirtschaft an der Universität für Bodenkultur in Wien abgeschlossen. Doch was er im Außerfern, dem nordwestlichsten Teil des österreichischen Bundeslandes Tirol, sah, war ihm in all den Jahren an der Uni nicht untergekommen: ein hochdynamischer Fluss, der große Schotterbänke anlagert und wieder abträgt und bei Hochwasser stellenweise fast das ganze Tal ausfüllt.
Drei Wochen lang sprang Peter Hanisch auf mächtigen Schotterbänken hin und her, streifte durch die Aue und erfuhr dabei sehr viel über den Lech. »Man muss einem Fluss zuschauen und zuhören, damit man versteht, was passiert«, ist sein Kredo, das er damals gelernt hat.
Sein damaliger Chef, Hermann Zottl, war nach dem Stopp des Kraftwerksbaus bei Hainburg an der Donau Mitglied der Ökologie-Kommission der Bundesregierung und setzte sich mit dem Geschiebetrieb der Donau auseinander. Zottl zeigte auf, dass sich die Donau unterhalb von Wien pro Jahr um zwei bis drei Zentimeter eintiefte. Grund dafür waren die bestehenden Kraftwerke flussaufwärts in Oberösterreich und Niederösterreich, die das Geschiebe, also den Schotter, den der Fluss transportierte, zurückhielten. Würde man dem tatenlos zusehen, warnte Hermann Zottl damals, würde auch das Grundwasser absinken und die Hainburger Au, ein zu jener Zeit heftig umstrittenes Feuchtgebiet östlich von Wien, in drei Jahrzehnten austrocknen. Im Gegensatz zur damals vorherrschenden Meinung von Ingenieuren vertrat er die Ansicht, dass der Eintiefung auch mit anderen Mitteln als dem Bau eines weiteren Kraftwerks Einhalt geboten werden könne.
Ein »entarteter« Zustand
Auch am Tiroler Lech sank die Flusssohle sukzessive ab. Dort waren es nicht Kraftwerke, die zur Eintiefung des Flusses führten, sondern das Fehlen des »Nährstoffs« für einen ausgeglichenen Geschiebehaushalt: An den Zuflüssen aus den steilen Seitentälern hielten Geschiebesperren das Gestein zurück, und bei Weißenbach hatte ein Kieswerk jahrzehntelang bis 1980 pro Jahr 70 000 bis 80 000 Kubikmeter Schotter aus dem Flussbett gebaggert.
Damals war es gewünscht, dass das Geschiebe reduziert wird, erzählt Wolfgang Klien, Fachbereichsleiter Wasserwirtschaft des Baubezirksamts Reutte. Denn vor allem bei der Schneeschmelze und gleichzeitigem Regen im Frühjahr schwoll der Lech auf eine Breite von bis zu 400 Metern an und führte große Mengen Gestein mit sich. Er riss Uferbereiche weg, lagerte an anderer Stelle Material ab und überflutete bei extremem Hochwasser Felder und Dörfer mit Wasser und Schlamm. Zum Schutz der Siedlungen wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts kleinräumige Schutzbauten an den Ufern errichtet, die aber meist nur bis zum nächsten Hochwasser hielten. 1896 wurde der Lech erstmals mit einem Längsbauwerk zwischen Höfen und Ehenbichl reguliert. Die lokalen Maßnahmen brachten aber immer nur Teilerfolge, weshalb 1907 mit der Planung eines Generalprojekts begonnen wurde.
Philipp Krapf, Landesoberbaurat von Tirol und Vorarlberg und zuständig für den Flussbau, schrieb 1910 in seinem Werk über den Wasserbau in Tirol über den Lech:
»Wer eine Wanderung ins österreichische Lechtal unternimmt, wird beim ersten Schritte bereits einen trostlosen Eindruck empfangen, der sich beim weiteren Vordringen noch vertieft (...) beherrscht das wilde Wasser des Lechs (...) in fast schrankenloser Willkür den Talboden (...) Verursacht ist dieser entartete Zustand durch die vielen geschiebereichen Wildbäche ...«
Die Wildbäche der Seitentäler des Lechtals waren deshalb so geschiebereich, weil sie steil sind und die Bäche teils durch Schluchten führen. Aber auch, so merkte Krapf an, weil sie zum Triften von Holz verwendet wurden. Gefällte Baumstämme wurden ins Wasser geworfen, schwammen mit dem Bach in den Lech und mit dem Lech bis nach Augsburg. Die Stämme schlugen in den Schluchten Steine und Erde los. Im Lech selbst, so wurde bereits im 16. Jahrhundert kritisiert, beschädigten und zerstörten sie Brücken, Ufer und Fischbruten. Die massive Abholzung der Wälder in den Seitentälern verstärkte das Aufkommen von Geschiebe noch, weil der Boden dadurch schneller erodierte und bei Regen abgeschwemmt wurde. Der Schotter lagerte sich zum Teil auf der Flusssohle ab und erhöhte damit den Wasserspiegel, was bei Hochwasser schneller zu Überflutungen führte.
Der »entartete Zustand« musste also beendet werden. Der Lech sollte gezähmt, der störende Schotter durch eine Einengung des Flusses und die daraus resultierende Beschleunigung des Wassers abtransportiert werden. In Bayern begann die »Flusskorrektion« des Lech schon 1852. Aus einem breiten Fluss mit vielen Verzweigungen, Schotterflächen und Auen wurde ein Kanal. 1898 baute man dann die ersten Staukraftwerke; insgesamt 23 Staustufen entstanden bis zum Jahr 1978.
In Tirol leitete man ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in Reutte, wenige Kilometer von der Zugspitze entfernt, Wasser in Kanäle aus, wo es Antriebskraft und Strom für Gewerbe und Textilindustrie lieferte. Die ersten quer liegenden Buhnen und Längsverbauungen im Fluss wurden 1909 angelegt. 1927 plante die Bundeswasserverwaltung im III. Bauprogramm eine Regulierung des Lech bis Stanzach, die aber – wohl kriegsbedingt – nur teilweise ausgeführt wurde. Seit 1952 steht ein Wasserkraftwerk beim Kniepass nahe der deutschen Grenze, und ab 1962 baute man an den in den Lech mündenden Wildbächen Hornbach, Namlosbach, Streimbach und Schwarzwasserbach Geschieberückhaltesperren.
Wie gewünscht reduzierte sich der Schotter durch all diese Maßnahmen. Doch weil weniger Geschiebe nachkam, riss der Fluss immer mehr Material von seiner Sohle weg und der Wasserspiegel sank. Das war bei Hochwasser positiv für die Siedlungen. Gleichzeitig ging jedoch der Grundwasserspiegel zurück, Auen wurden seltener oder gar nicht mehr überflutet, konnten sich nicht mehr verjüngen und veränderten ihre Artenzusammensetzung.
Der Fluss grub immer weiter und weiter. Bei der Johannesbrücke bei Weißenbach, die 1936 gebaut worden war, grub sich das Flussbett innerhalb von 60 Jahren um dreieinhalb Meter ein. Der Lech war 1996 schon fast unterhalb der Gründung der Brückenpfeiler angelangt, erzählt Wolfgang Klien. Es wurde klar, dass man ihn stoppen musste. Ein Glück war, dass die Geschiebesperren an den Seitenbächen in der Zwischenzeit großteils mit Schotter vollgefüllt waren, deshalb Schotter überlief und den Lech versorgte.
Lebensraum für Spezialisten
Der Lech war früher bedrohlich für die Bauern und Handwerker, die in seinem Tal lebten, doch für Tiere und Pflanzen war er ein Paradies. Vor seiner Verbauung durch den Menschen wirkte er als Biotopbrücke zwischen den Alpen und der Alb, schreibt Eberhard Pfeuffer, früherer Vorsitzender des Naturwissenschaftlichen Vereins Schwaben, in seinem Buch »Der Lech«. Das bedeutet, Pflanzen und Tiere konnten flussab und flussauf wandern und sich so neue Lebensräume erschließen.
Ein dynamischer Alpenfluss wie der Lech hat sehr unterschiedliche Bereiche und extreme Bedingungen, was für eine große Artenvielfalt und die Entwicklung von Spezialisten sorgt. In den Flussrinnen, also den Armen des fließenden Wassers, das auch im Sommer kalt ist, schwimmen Bachforelle, Äsche, Koppe und Schmerle, am Grund gibt es Steinkrebse, Steinfliegen, Schlammfliegen, Köcherfliegen und Eintagsfliegen.
Die Schotterbänke werden im Sommer sehr heiß und im Winter sehr kalt. Dort leben Insekten, die sich an diese Extreme angepasst haben und bei Hochwasser wegfliegen, schwimmen oder mit Hilfe einer Luftblase am Körper unter Wasser überleben können. Im Stillwasser der trocken gefallenen Flussrinnen und Mulden findet man Amphibien, Libellen und den sehr seltenen Zwergrohrkolben. Die Brunnwässer, die sich aus dem Grundwasser speisen, sind Kinderstube und Zufluchtsort vieler Arten bei Hochwasser. Auf der kiesigen und sandigen Schwemmlingsflur mit wenig Vegetation wachsen Pionierpflanzen wie der Knorpelsalat. Angeschwemmte Baumstämme und Äste sind Lebensraum für Käfer und Spinnen, der Flussregenpfeifer und der Flussuferläufer legen auf dem Kies ihre Eier ab.
Wo es länger trocken bleibt, gedeihen Weiden und die stark gefährdete Deutsche Tamariske, die Silberwurz, der Steinbrech, Mehlprimeln oder das Alpen-Leinkraut. Auch die Schlingnatter und die sehr seltene Gefleckte Schnarrschrecke fühlen sich hier wohl. Noch weiter weg vom Wasser folgen Grauerlen-Gebüsche und Schneeheide-Kiefernwälder mit Orchideen wie dem Frauenschuh, die Weiße Waldhyazinte und viele Insekten. Dort, wo der Tiroler Lech noch naturbelassen oder naturnah ist, findet man die größte Artenvielfalt in Mitteleuropa. Auf einer Fläche von 40 Quadratkilometern wurden 1116 Pflanzenarten nachgewiesen, ein Drittel aller in Österreich vorkommenden Pflanzen, von denen 392 vom Aussterben bedroht sind. Mit 110 Brutvogelarten ist die Region auch das wichtigste Brutgebiet für flussbewohnende Vögel in Österreich.
Ringen um den Naturschutz
Die große ökologische Bedeutung des Lech war lange Zeit nur wenigen Naturkundlern bekannt. Mit dem wachsenden ökologischen Bewusstsein in den 1970er und 1980er Jahren begann jedoch eine Auseinandersetzung mit dem naturräumlichen Potenzial des Lechtals. 1987 wurde der Lech von der Abteilung Umweltschutz beim Amt der Tiroler Landesregierung als international bedeutend eingestuft. Der Lech gilt heute, zumindest in Teilen, als der letzte große Wildfluss der Nordalpen.
Auch in der Bevölkerung wuchs das Interesse an Fauna und Flora und den Besonderheiten des Lech. Und es regte sich Widerstand gegen seine weitere Verbauung und zwölf geplante Stauwerke, wie zum Beispiel am Streimbach, der bei Elmen in den Lech fließt. Zu den Widerständigen gehörten auch die beiden Lechtaler Toni Knittel und Peter Kaufmann. Um den Bewohnern die Schönheiten des Tals nahezubringen, wurde im Juni 1990 eine Diaschau über den »Lebensraum Lechtal« mit Fotos des Naturfotografen und Autors Werner Gamerith veranstaltet. Toni Knittel und Peter Kaufmann schrieben dafür zwei Lieder im Lechtaler Dialekt – ein Novum.
Die Bürgerinitiative im Lechtal erhielt später Unterstützung durch den WWF Tirol sowie von 20 weiteren Umweltverbänden und Fachleuten aus dem In- und Ausland. Im Dezember 1992 wurde eine Resolution zum Schutz des Lech als Schutzgebiet gemäß der Ramsar-Konvention über Feuchtgebiete von internationaler Bedeutung verabschiedet, die dem zuständigen Naturschutzlandesrat übergeben werden sollte. Die Frage, ob der Lech zum Naturschutzgebiet werden sollte oder nicht, spaltete jedoch die Bevölkerung: Viele Menschen fürchteten Einschränkungen bei der Bewirtschaftung der Wiesen und Felder oder der Entwicklung der Gemeinden. Nach langem, zähem Ringen einigten sich der WWF und die Tiroler Landesregierung darauf, das gesamte Flusssystem des Lech in Tirol unter Schutz zu stellen. Im Jahr 2000 erklärte die EU den Tiroler Lech zum Europaschutzgebiet Natura 2000, 2004 erhielt der Fluss das Prädikat Naturpark; seither ist der Lech als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Was tun gegen die Eintiefung?
Doch an den Problemen des Flusses änderte das wenig: Weiterhin fehlten Geschiebe und die Flusssohle blieb eingetieft. Ein 1978 vorgestelltes Projekt des Zivilingenieurbüros Zottl & Erber sah die Konstruktion von Sohlstufen im Flussbett vor, um das Gefälle zu verringern und so der Sohleeintiefung vorzubeugen und Hochwasser besser abfließen zu lassen. Dadurch, so die Hoffnung, würde der Fluss weniger Material transportieren, was den Geschiebehaushalt im Flussbett verbessern würde. Zusätzlich forderten die Fachleute, die gewerbliche Schotterentnahme zu reduzieren, was 1978 auch geschah. Von den geplanten Sohlstufen allerdings baute man lediglich eine einzige bei der Ulrichsbrücke in Augsburg – man erkannte dann, dass diese Bauwerke die Verzweigungen des Lech einschränken würden.
Zu Beginn der 1990er Jahre hatte die Bundeswasserbauverwaltung eine wissenschaftliche Überprüfung aller für das Lechtal und den Lech relevanten Teilbereiche in Auftrag gegeben – das Pilotprojekt Lech-Außerfern, – um all die aufgekommenen Fragen des Naturschutzes und des Hochwasserschutzes zu klären. Die Studie kostete 30 Millionen Schilling, umgerechnet 2,2 Millionen Euro, und lief etwa fünf Jahre, bis sie aus Kostengründen beendet wurde. Zuvor jedoch lieferte sie wesentliche Grundlagen für alle weiteren Arbeiten. So entstanden dafür erstmals eine verzerrungsfreie digitale Karte samt Geländemodell im Maßstab 1 zu 1000 sowie ein Überblick über die hydraulische, hydrologische, flussmorphologische und wasserbauliche Situation am Lech.
1996 gab die Wasserbauverwaltung außerdem eine Untersuchung des Feststoffhaushalts des gesamten Tiroler Lech in Auftrag, für die 40 Materialproben des Geschiebes genommen und nach Größe, Zusammensetzung und Herkunft untersucht wurden. Das Ergebnis dieser Untersuchung war, dass man das in der Vergangenheit nachhaltig gestörte Feststoffregime nur durch eine gesamträumliche Lösung in den Griff bekommen kann.
Nachdem der Lech im Jahr 2000 unter Schutz gestellt worden war, konnte auf Basis all dieser Daten und Erfahrungen ein LIFE-Projekt bei der EU beantragt werden. Es trug den Namen »Wildflusslandschaft Tiroler Lech«, kostete 7,82 Millionen Euro, wurde etwa zur Hälfte von der EU gefördert und lief von 2001 bis 2007.
LIFE für den Lech
Ziele des LIFE-Projekts »Wildflusslandschaft Tiroler Lech« waren:
- Die Erhaltung und Wiederherstellung der relativ natürlichen, dynamischen fluvialen Lebensräume
- Der Stopp der Eintiefung der Flusssohle und des Grundwasserspiegels
- Die Verbesserung des Hochwasserschutzes im Einklang mit Umweltschutzzielen
- Die Erhaltung von Tieren und Pflanzen, die von der EU als wichtig oder gefährdet bewertet werden
- Die Verbesserung des ökologischen Bewusstseins der lokalen Bevölkerung
- Die Durchführung eines gemeinsamen Projektes mit Organisationen aus verschiedenen Interessensgebieten
Im Rahmen des Projekts wurden zahlreiche Längs- und Querverbauungen entfernt und einige zur Sicherung der Siedlungen landeinwärts verlegt, damit der Fluss sich wieder ausbreiten kann. Die Johannesbrücke bei Weißenbach, an der es früher eine künstliche Engstelle des Flusses gab, wurde um einen Bogen verlängert, damit der Lech mehr Platz bekommt.
Totholz, das der Fluss bei Hochwasser mitführt, bleibt nun nicht mehr an der Brücke hängen, sondern fließt ruhig ab und kann beim Sinken des Durchflusses auf einer Schotterinsel liegen bleiben und als Keimzelle neuen Lebens dienen. Durch die Aufweitung des Flussbetts hat Hochwasser auch mehr Platz, in die Breite zu gehen, statt über die Ufer. Am Schwarzwasserbach wurde die Geschiebesperre komplett entfernt, am Hornbach wurde sie abgesenkt.
Zwei Strommasten flussabwärts der Johannesbrücke, die früher hinter der Längsverbauung am künstlich angelegten Land standen, wurden aus Kostengründen belassen und stehen jetzt auf kleinen Inseln, die mit großen Steinen gegen Erosion gesichert sind.
Die umfangreichen baulichen Maßnahmen wurden von der Firma DonauConsult geplant, das ist das Nachfolgeunternehmen des Zivilingenieurbüros Zottl & Erber. Peter Hanisch, seit 1995 einer der Geschäftsführer, sagt über die Situation des Tiroler Lech im Jahr 2001: »Wenn die Folgen einer Maßnahme schon so weit fortgeschritten sind, dass der Fluss aus seinem selbst gegrabenen Bett nicht mehr selber herauskommt, muss ich einen Initialeingriff setzen, um wieder in die Dynamik zu kommen.« Es habe damals viele Diskussionen mit der Naturschutzabteilung des Landes und Sachverständigen gegeben, wie man dem Lech am besten helfen könne, ohne ökologisch noch mehr Schaden anzurichten. Rückblickend gesehen sei es ein gutes Beispiel, wie man einen Fluss revitalisieren kann. Geholfen hat dabei das große Hochwasser im Jahr 2005. Die Renaturierungsmaßnahmen, die dem Lech seit bald 20 Jahren seine Wildheit zurückgeben, wurden dadurch erleichtert, dass die benötigten Grundstücke großteils der Republik Österreich gehören.
Allerdings konnten nicht alle Probleme mit dem Geschiebe beseitigt werden. Im Siedlungsraum von Reutte, in dem 70 Prozent der Bevölkerung des Bezirks leben, gab es Probleme, weil drei Kilometer oberhalb von Reutte ein streng regulierter Flussabschnitt liegt und das Gefälle abnimmt, erzählt Peter Hanisch. Der Lech lagerte deshalb bei Reutte eine Menge Schotter ab, was bei Hochwasser Überflutungsgefahr bedeutete. Die Planer von DonauConsult hatten eine geniale, von der Wasserbauverwaltung erkannte und aufgegriffene Idee, wie man das Problem lösen könnte: mit einer Geschiebedosieranlage.
Dafür wurde auf einem freien Grundstück rechts des bestehenden Flussbetts ein neuer, naturnah strukturierter Flussarm angelegt, durch den das Wasser bei normaler Wasserführung fließt. Am Eingang der neuen Umgehungsstrecke gibt es einen betonierten Durchlass, der die Wassermenge reguliert und nur einen Teil des Geschiebes durchlässt. Für Fische oder andere Lebewesen ist er in beide Richtungen durchgängig.
Bei Hochwasser strömt der Fluss zusätzlich in das alte, regulierte Flussbett, das auf 300 Metern Länge deutlich verbreitert wurde, so dass das Geschiebe liegen bleibt. Geht die Wassermenge zurück, fällt dieses Bett nahezu trocken und der Schotter kann herausgebaggert werden. Er dient entweder als Ausgleich für Stellen, an denen die Flusssohle zu tief liegt, oder er wird gewerblich verwendet.
Für diese Geschiebefalle, wie die Anlage meist vereinfacht genannt wird, wurde auch ein 20 Meter langes 1:80-Modell gebaut, über einen längeren Zeitraum detailliert gemessen und mit Zeitrafferaufnahmen beobachtet, wie sich das Geschiebe bei unterschiedlicher Wasserführung verhält.
Im Zuge des LIFE-Projekts 2001 bis 2007 wurden auch zahlreiche Maßnahmen für besonders gefährdete Arten gesetzt, wie zum Beispiel für das Frauenschuh-Vorkommen bei Martinsau, die Libellenart Bileks Azurjungfer oder kleine Fische wie die Koppe. Damit diese Arten sich in Ruhe wieder ansiedeln oder entwickeln können, wurden auch Einrichtungen zur Information und Lenkung der Besucher des Naturparks geschaffen und Projekte mit Kindern durchgeführt.
LIFE II für mehr Dynamik
Seit September 2016 bis Ende des Jahres 2021 läuft nun ein zweites LIFE-Projekt für den Lech mit dem Titel »Dynamic River System Lech«. Das Budget von mehr als sechs Millionen Euro wird dafür eingesetzt, die natürliche Dynamik des Flusses und seiner angrenzenden Auwälder mit ihren typischen Pflanzen- und Tierarten zu erhalten. Dafür werden weitere Flussverbauungen entfernt. Oberhalb der Johannesbrücke kann sich der Lech dadurch bis zu 900 Meter in der Breite Platz nehmen. Für 20 ausgewählte Arten sollen neue Möglichkeiten entwickelt werden, diese zu fördern oder wieder anzusiedeln, sagt Leopold Füreder, Limnologe an der Universität Innsbruck, der am Projekt beteiligt ist (Limnologie ist die Wissenschaft von den Binnengewässern als Ökosysteme). So soll zum Beispiel der Steinkrebs wieder angesiedelt werden, von dem es am Lech in Bayern noch intakte Bestände gibt.
Um Brutgebiete von störungsempfindlichen Vogelarten wie dem Flussuferläufer und dem Flussregenpfeifer zu schützen, wird die Besucherlenkung verbessert. Der Lech und seine Schotterbänke und Auen sollen weiterhin zugänglich sein, während der Brutzeit könnte man aber eventuell Schotterbänke, die von den Vögeln zur Eiablage genutzt werden, sperren.
Das Projekt Lech LIFE II wird auch dem Lech auf bayerischem Gebiet nützen. Am 13. Dezember 2018 fand der Spatenstich der Flussbaumaßahme C.11 »Revitalisierung des Lech von der Staatsgrenze bis zur Lechschlucht« statt. Kernstück der Maßnahme ist ein Sporn am Auslauf des Kraftwerks Weißhaus, der die Strömung des Lech in Richtung des linken Ufers drängen soll. Dadurch wird der Lech gezwungen, die verfestigte Kiesfläche aufzubrechen und umzulagern. Oberhalb der Einmündung des Kraftwerkskanals werden am rechten Ufer sechs Buhnen errichtet, die wieder Anlandungen in diesem Bereich ermöglichen sollen. Die flussbaulichen Maßnahmen werden in Österreich gesetzt und werden sich wesentlich auf der deutschen Seite des Lech auswirken.
Die Bevölkerung des Lechtales ist mittlerweile eher positiv gegenüber dem Schutz des Lech und seiner Fauna und Flora eingestellt. Dazu beigetragen hat, dass gleichzeitig mit der Unterschutzstellung ein Regionalförderprogramm gestartet wurde. Im Jahr 2006 haben 24 Lech-Gemeinden einen Naturparkverein gegründet. Der Naturpark Tiroler Lech informiert die Besucher und hat ein Naturparkhaus, das passenderweise über dem Fluss gebaut wurde. Es wurde ein 125 Kilometer langer Wanderweg entlang des Lech angelegt – von der Quelle bis zum Lechfall –, der jährlich von etwa 7000 Wanderern begangen wird. Das bringt ein positives Image und Geld in die zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise arme Region. Einst mussten die Bauern und Bäuerinnen des Lechtals dem Fluss und dem Wald einen kargen Ertrag abringen, heute sorgt die Natur dafür, dass viele von ihnen ein besseres Auskommen haben.
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