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Artenvielfalt: Töten, um zu forschen?

Biologen und Naturschützer streiten erbittert darüber, ob Wissenschaftler unbedingt Exemplare von Tieren für zoologische Museen sammeln müssen - auch wenn es sich dabei um seltene Arten handelt.
Bälge südamerikanischer Tangaren

Piotr Naskrecki ist leidenschaftlicher Biologe und ein exzellenter Fotograf von Tieren, die sich nicht immer großer Beliebtheit erfreuen – etwa riesiger Spinnen oder dorniger Heuschrecken. Und Naskrecki schreibt über seine Erlebnisse und Studien in entlegenen Wildnisregionen der Erde. So auch im Oktober 2014, als er von einer nächtlichen Begegnung mit einer Goliath-Vogelspinne berichtete, der wahrscheinlich größten Spinne der Erde.

"Vor einigen Jahren befand ich mich tief im Regenwald Guyanas, als ich ein rennendes Tier rascheln hörte. Ich hörte deutlich, wie seine harten Füße über den Boden klackerten und das trockene Laub unter seinem Gewicht zerbröselte. Ich knipste mein Licht an und richtete den Strahl auf die Lärmquelle – und erwartete ein kleines Säugetier, etwa ein Opossum oder eine Ratte." Tatsächlich handelte es sich um jene riesige Vogelspinne, von der man sich einige Bilder auf seinem Blog ansehen kann. Anschließend beschreibt er voller Begeisterung, warum diese Achtbeiner so groß werden, warum Begegnungen mit ihnen schmerzhaft sind (aber für Menschen nicht tödlich) und warum man sie nachts im Regenwald so gut hört. Diese Begegnung machte anschließend die Runde in verschiedenen Nachrichtenmagazinen – angereichert mit Umschreibungen wie "welpengroße, haarige Spinne".

Präparierte Eulen | Museen sammeln Exemplare von Tieren wie diesen Eulen, damit Biologen daran Arten beschreiben und bestimmen können.

Doch in den Interviews beging Naskrecki einen vermeintlichen Fehler: Er erzählte, dass er einst eine dieser Spinnen getötet und konserviert habe, um sie in einer Museumssammlung zu hinterlegen. Und darauf brach ein Sturm der Entrüstung über den Zoologen herein. Sein Blog, der normalerweise relativ wenige Besucher zählt, wurde überflutet mit Kommentaren, von denen viele ziemlich unfreundlich waren, wie Naskrecki in einem späteren Beitrag offenbart. Beschimpfungen wie "schreckliche Person, die die Erde zerstören wird" fielen noch unter die harmlosesten Beiträge.

Der Sinn des Sammelns

Eine Reaktion, die wohl nicht nur Piotr Naskrecki wunderte, sondern viele Biologen rund um den Globus – hatte er doch nur etwas getan, was seit jeher Aufgabe von Taxonomen ist: Belegexemplare für zoologische oder botanische Sammlungen gewinnen. Sie dienen dazu, neue Arten zu beschreiben, langfristige Umweltveränderungen zu erkennen, mehr über die Ökologie der Tiere und Pflanzen zu erfahren oder sie überhaupt erst zu bestimmen. Denn gerade unscheinbare Käfer oder Spinnen verraten ihre wahre taxonomische Zuordnung erst in zoologischen Labors, wenn unter dem Mikroskop ihre Geschlechtsorgane studiert werden können – im Freiland ist das bei vielen Arten, zumal aus große Gruppen wie den Insekten oder Orchideen, praktisch unmöglich. "Gerade bei Wirbellosen sind wir Biologen uns einig, dass es absurd wäre, keine Typusexemplare zu hinterlegen. Große Sammlungen sind extrem hilfreich, um die Bandbreite innerhalb der Art zu erfassen. Und viele Insekten sind nur über ihre Genitalienstruktur erfassbar, was nicht im Gelände erfolgen kann. Sammeln ist also zumindest bei wirbellosen Tieren alternativlos", erklärt der Insektenkundler Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg. Dabei sind Typusexemplare von entscheidender Bedeutung für die biologische Systematik, so Schmitt: "Sie sind die Referenztiere oder -pflanzen, an denen der Artname und damit die gesamte Systematik hängt. Bei schwierigen Bestimmungsaufgaben nehmen wir Bezug auf das Typusexemplar, um die Art sicher zu bestimmen."

Seine Kollege Martin Päckert, Ornithologe in den Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen Dresden schließt sich dieser Argumentation an: "Typusexemplare sind quasi unsere Urmeter. Ohne sie lassen sich Artbeschreibungen nicht reproduzieren, und das ist ein Kernkriterium wissenschaftlicher Studien. Will ein Forscher eine neue Spezies beschreiben, muss er diese anhand von diagnostischen Merkmalen von ihren nächsten Verwandten eindeutig unterscheiden. Das kann er aber nicht mehr, wenn wir heute aufhören, Typusexemplare zu hinterlegen. Wir entzögen folglich zukünftiger taxonomischer Forschung die Grundlage."

Eine gesicherte Zukunft für die Taxonomie war dagegen auch Naskreckis Absicht, wie er in einem nachfolgenden Blog-Beitrag erläutert: "Als ich die Spinne sammelte, nahm ich an einer Expedition mit guyanischen Studenten auf Einladung der Umweltbehörde Guyanas teil. Wir sollten (…) den Studenten beibringen, wie man biologische Studien durchführt, und eine umfassende Kollektion der Arten in dieser noch nie erforschten Region anlegen. Zukünftige Forscher und Ökologen sollen an diesen Exemplaren lernen, wie man Organismen identifiziert und einordnet. Das funktioniert nur mit echten Präparaten." Allein die Smithsonian Institution mit ihrem National Museum of Natural History in Washington besitzt mehr als 125 Millionen Präparate; umfangreich ist auch die Zahl der Exemplare des Frankfurter Senckenberg-Museums – eine der führenden naturhistorischen Sammlungen Europas. "Im Senckenberg-Verbund finden sich etwa 38,5 Millionen Exemplare, darunter rund drei Millionen Insekten. Das ist die größte naturhistorische Sammlung Deutschlands – auch wenn manches davon fossile Knochen von ausgestorbenen Sauriern sind", so Schmitt. Allein in den Vogelabteilungen in Frankfurt und Dresden finden sich insgesamt 180 000 Bälge und mehr als 20 000 Gelege, darunter auch von 30 heute ausgestorbenen Arten.

Herpetologische Sammlung | In Museen lagern Millionen Exemplare von Tieren – wie hier in Konservierungsflüssigkeit aufbewahrte Reptilien – und Pflanzen: biologische Archive, die Forscher nutzen, um neue Arten zu beschreiben oder ökologische Veränderungen nachzuverfolgen.

Interne Kritik

Doch nicht alle Biologen sind mit dieser Vorgehensweise einverstanden – vor allem nicht, wenn es um potenziell neue Wirbeltiere geht. Einige bis dahin unbekannte Arten leben in entlegenen Regionen, sind eher selten und lokal beschränkt. Jede Entnahme könne ihr Überleben gefährden, lautet dann die Argumentation. Diese Sorge äußert beispielsweise eine Gruppe von Wissenschaftlern um Ben Minteer von der University of Arizona in Tempe in "Science". Sie verweisen etwa auf Amphibien, die in den letzten Jahren in Costa Rica wiederentdeckt worden waren: Sie galten als ausgestorben, nachdem sie sich mit dem tödlichen Froschkiller Batrachochytrium dendrobatidis infiziert hatten – der Pilz rafft komplette Bestände in kurzer Zeit dahin und gilt als eine der Hauptursachen der globalen Amphibienkrise. In Costa Rica verschwanden 23 Frosch- und Krötenarten für kurze Zeit, nachdem sie sich damit angesteckt hatten.

In der Folge entdeckten Biologen jedoch knapp die Hälfte davon wieder, die in Restbeständen überlebt hatten. Und von manchen Arten wurden erneut Belegexemplare gesammelt, um den Fund zu dokumentieren – eine Praxis, gegen die sich Minteer und Co mittlerweile vehement wehren: "Sie verstärkt das Risiko, dass kleine und isolierte Populationen tatsächlich aussterben", so die Forscher. In diese Notlage hat sie aber eindeutig nicht das Sammeln gebracht, sondern die irrtümliche Einschleppung des Pilzes, wahrscheinlich über südafrikanische Krallenfrösche: Diese wurden in früheren Jahrzehnten als eine Art Schwangerschaftstest genutzt und quer über den Globus gehandelt – mitsamt der für sie selbst ungefährlichen Krankheitserregerfracht.

Lehren aus der Vergangenheit

Die Warnung von Minteer und Co beruht unter anderem auf angeblichen Lehren aus der Vergangenheit. "Die Sammelwut von Wissenschaftlern und Amateuren verursachte beispielsweise einen Rückgang der Mexiko-Zwergeule. Und Pflanzen waren ebenfalls vom Übersammeln schon betroffen, wie dies unter anderem aus Neuseeland berichtet wird." Als klassisches Negativbeispiel dient zudem immer wieder der Fall des Riesenalks, der 1844 zum letzten Mal gesichert beobachtet wurde und entweder im selben Jahr oder kurze Zeit später ausstarb. Über die Jahrhunderte wurde dieser Vogel gejagt und abgeschlachtet, seine Eier eingesammelt. Hinzu kamen Klimaveränderungen und geologische Katastrophen, an die sich die flugunfähigen Riesenalke nur schwer anpassen konnten. Zusammengenommen führten diese Einflüsse zu einem drastischen Bestandseinbruch – der am Ende von umtriebigen Museumskuratoren noch bis zur Ausrottung verschärft wurde, so Minteer.

Wirbellosensammlung | Für viele Wirbellose gehören katastrophale Bestandseinbrüche zur natürlichen Dynamik: Sammelnde Biologen können daher Arten im Normalfall nicht gefährden.

Denn als die Art im 19. Jahrhundert immer rarer wurde, stiegen auch die Preise für Eier und Bälge, die Zoologen zu zahlen bereit waren. Jeder wollte noch ein Exemplar der "Pinguine des Nordens" für seine Sammlung – kein Wunder, dass das letzte Paar Riesenalke auf der isländischen Insel Eldey von Fischern erschlagen wurde, die dann die Tiere an einen örtlichen Chemiker verkauften. Dieser präparierte sie und stopfte sie aus, die Organe landeten in Alkohol: Sie finden sich heute im Zoologischen Museum von Kopenhagen. Und selbst heute streiten Forscher untereinander und mit Naturschützern, ob es denn nötig sei, unbedingt Tiere einer seltenen Spezies durch Tötung zu belegen.

Ursächlich für das Aussterben des Riesenalks waren die Kuratoren allerdings nicht, betont dagegen eine große Forscherversammlung um L.A. Rocha von der California Academy of Sciences (San Francisco) in "Science": "Heute finden sich nur 102 bekannte Exemplare des Riesenalks in Museen, vieles davon Skelette, die erst nach dem Aussterben erworben wurden. Dagegen starben Millionen, weil man ihre Federn, ihr Fett oder ihr Fleisch haben wollte." Ein Punkt, den auch Martin Päckert betont: "Diese Verfolgung ist der eigentliche Grund des Aussterbens. Hier stehen etwa 100 Exemplare im Verhältnis zu Millionen über den Zeitraum historischer Bejagung. Und bei Typenserien reden wir sogar nicht einmal von 100 Exemplaren, sondern von weniger als zehn." Denn eine Typenserie für das Museum umfasst normalerweise eine kleine, sehr überschaubare Anzahl von Präparaten, um innerartliche Unterschiede eindeutig zu dokumentieren, etwa abweichende Größen und Farben zwischen Männchen und Weibchen oder jungen wie alten Tieren.

Bürokratische Einschränkungen

Piotr Naskrecki widerspricht in diesem Punkt ebenfalls vehement – zumal bei "seiner" Goliath-Vogelspinne: "Diese Art ist in ihrem Lebensraum sehr häufig, und man kann sie in vielen Tierhandlungen in den Vereinigten Staaten für wenige Dollar kaufen. Im Regenwald sind sie allerdings scheu und leben zurückgezogen, weshalb man sie eher selten sieht. Wenn man hier ein einziges Exemplar sammelt, unterscheidet sich das überhaupt nicht von einem Vogel, der die Spinne erbeutet. Führte ein einziges stochastisches Ereignis wie dieses zum Aussterben, wäre die Art bereits vorher dem Untergang geweiht gewesen." Der Biologe würde allerdings auch seltene Arten sammeln und führt dafür in seinem Blog Beispiele an, etwa eine Heuschrecke aus Südafrika, die ihre Gefährdung nun sogar im Namen trägt: Paracilacris periclitatus, die Gefährdete Heuschrecke.

"Die Bestände von Wirbellosen besitzen so eine starke Dynamik, dass verantwortungsbewusstes Sammeln kein Problem darstellt: Sie befinden sich zumeist am unteren Ende der Nahrungskette, hohe Verluste etwa durch Fressfeinde sind daher völlig normal. Das machen die Tiere mit ihrer hohen Reproduktivität rasch wieder wett", stimmt auch Thomas Schmitt zu. "Wirbellose sind auf 'Katastrophen' vorbereitet. Normales, verantwortungsbewusstes Sammeln durch Forscher stellt folglich kein Problem dar."

Zudem wird es heutzutage ohnehin immer schwieriger, eine Sammelgenehmigung zu erhalten: Tropische Länder fürchten zum Beispiel Biopiraterie – die wirtschaftliche Nutzung von biochemischen oder genetischen Daten exotischer Tiere und Pflanzen im Rahmen der grünen Gentechnik oder für neue Medikamente, ohne dass die ursprünglichen Heimatstaaten der Arten dafür eine finanzielle Entschädigung erhalten. Und auch in Deutschland müssen Forscher einen hohen bürokratischen Aufwand betreiben, um Arten zu Forschungszwecken zu fangen und je nach Bedarf zu töten. In jedem Antrag muss genau spezifiziert werden, wozu man Tiere sammeln möchte und was damit passiert. In Schleswig-Holstein etwa benötigt ein Wissenschaftler eine entsprechende Genehmigung vom Landesministerium, wenn es sich um gesetzlich geschützte Arten handelt. Damit müssen die Biologen zur Unteren Naturschutzbehörde des jeweiligen Landkreises, die dann den Antrag für ein bestimmtes Gebiet bewilligen muss – sofern es sich nicht um Privatbesitz oder die Liegenschaft einer Naturschutzorganisation handelt.

"Auf nationaler und internationaler Ebene kommen weitere Vorgaben hinzu, etwa über das Nagoya-Protokoll, das den völkerrechtlichen Rahmen für den Zugang zu genetischen Ressourcen festlegt. In Deutschland müssen wir je nach Bundesland selbst eine Reihe von Anträgen stellen, wenn wir während einer Vogelberingung einem Tier auch nur eine einzige Feder entnehmen wollen. Und wer auf den Kanarischen Inseln sammeln möchte, benötigt für jede Art eine gesonderte Genehmigung. Schon allein wegen dieses unverhältnismäßigen Aufwands und der extrem hohen Hürden gibt es im 21. Jahrhundert mit Sicherheit keine 'sammelwütigen Biologen' mehr. Und unverhältnismäßig gilt im Vergleich zu der haarsträubend großzügigen Haltung, die beispielsweise verschiedene europäische Staaten zum massenhaften illegalen Singvogelfang im eigenen Land einnehmen", so Päckert.

Naturhistorisches Museum | In großen Museen lagern oft mehrere Millionen Tier- und Pflanzenpräparate – wie diese Walskelette im Naturhistorischen Museum von Paris –, die die Vielfalt des Lebens dokumentieren.

Unblutige Sammlungen

Unabhängig davon schwören einige Forscher wie Minteer auf alternative Methoden, um Arten zu dokumentieren und zu bestimmen, ohne ihnen einen Schaden hinzuzufügen: Haut-, Blut- und Haarproben, dazu im Feld erhobene Daten zu Gewicht, Größe, Zahnmustern und anderen anatomischen Details.

"Das vielleicht stärkste Werkzeug sind aber heutige Kameras: Eine Bilderserie könnte jedes Typusexemplar ersetzen, wenn sie mit Tonaufnahmen und biometrischen Daten kombiniert wird. Die meisten Smartphones besitzen heute eine ausreichend gute Kamera und Aufnahmegeräte, um hoch aufgelöste Bilder wie den Paarungsruf der Tiere zu speichern", schreiben Minteer und Co und verweisen auf den Bugunhäherling (Bugun liocichla), der 2006 in Indien entdeckt und nur auf Basis dieser Daten wissenschaftlich beschrieben und anerkannt wurde. Und das gelte umso mehr für wiederentdeckte Spezies, von denen bereits ausreichend Typusexemplare in den Museen vorhanden sein sollten.

Auch Nick Clemann vom Arthur Rylah Institute for Environmental Research im australischen Heidelberg gibt den Sinn dieser neuen Werkzeuge zu: "Die Technologie bietet heute starke Möglichkeiten, mit denen wir im Gelände viel mehr leisten können als früher." Und natürlich wirkten praktisch unschädliche Eingriffe wie Gewebeproben aus dem Ohr eines Beuteltiers oder von der Schuppe einer Schlange attraktiv, da sie die Tiere am Leben ließen. "Und dennoch können sie nicht vollständig ersetzen, was wir bislang tun mussten", so Clemann. Das genetische Material von Gewebeproben reiche meist nur für eine einzige oder allenfalls wenige Studien. Zudem gäben die darin enthaltenen biomolekularen Informationen nur einen Teil des gesamten Erbguts oder der Proteine wieder.

"Seltenheiten stellen zudem unter den neuen Arten häufig einen Extremfall dar. Die Regel sind eher kryptische Arten, die bereits bekannten Spezies sehr ähneln, so dass sie nur bei sehr genauem Hinsehen, über ihren Gesang oder durch genetische Studien erkannt werden. Darüber haben wir beispielsweise einen neuen Laubsänger aus China beschrieben, der überhaupt nicht selten oder nur kleinräumig verbreitet ist, sondern in einem großen Gebiet vorkommt. Der Vogel glich einfach fast perfekt einem nahen Verwandten", beschreibt Martin Päckert seinen Arbeitsalltag. "Kritik am Sammeln von biologischem Material ausgerechnet an Typusexemplaren aufzuhängen – von denen auch bei Wirbeltieren in der Regel eine stochastisch definitiv völlig vernachlässigbare Zahl an Individuen entnommen wird –, ist schlicht unverhältnismäßig und geht am Kern jeglichen Naturschutzgedankens vorbei."

Der Blick über die Jahrhunderte

Naskrecki, Päckert und viele ihrer Kollegen betonen deshalb vor allem einen Aspekt, der für das Sammeln von Museumsexemplaren spricht. "Wir denken in Jahrhunderten", sagt Clemann. Viele ökologische Veränderungen spielen sich über größere Zeiträume ab, deren Entwicklung in der Natur nicht immer oder nicht mehr nachvollziehbar ist. "Wir wissen nicht, welche Fragen zukünftige Forscher stellen wollen. Beantwortet werden könnten sie aber über zoologische Sammlungen. Die Verbannung von DDT beruhte unter anderem auf Eierkollektionen in Museen, die Jahrhunderte umfassten. An ihnen konnten Forscher nachvollziehen, wie die Eierschalen im Lauf der Zeit immer dünner wurden – bis kein Küken mehr daraus schlüpfen konnte", argumentiert Naskrecki in seinem Blog. Auch die weltweite Ausbreitung des tödlichen Froschpilzes Batrachochytrium dendrobatidis über seine ursprüngliche Heimat in Südafrika hinaus ließ sich nur über Museumsexemplare nachverfolgen: Der Erreger rottete bislang wahrscheinlich mindestens 200 Amphibienarten aus, nachdem sie neu mit ihm in Kontakt geraten waren. "Ohne die Dokumentation auch von historischer Biodiversität über längere Zeiträume in Museen – eine Art biologische Archive – hätte man diese Information möglicherweise nie erhalten!", bricht der Dresdner Ornithologe nochmals eine Lanze für seine Studien.

Goliath-Vogelspinne | Stein des Anstoßes: Eine Goliath-Vogelspinne sorgte für erregte Diskussionen, weil ein Biologe ein Exemplar im Regenwald tötete und in eine biologische Sammlung überführte.

"Gerade in den Tropen sammelt man, um unbekannte Arten überhaupt erst zu finden", ergänzt Schmitt und verweist dabei auf die Käfer, von denen es mehr als 350 000 beschriebene und wohl noch zahllose unbekannte Arten gibt. Nur absolute Spezialisten können diese Vielfalt überblicken und sind dabei auf die riesigen Museumssammlungen angewiesen. "Einzig über diesen Abgleich konnte einer meiner Kollegen beispielsweise vor Kurzem über 100 neue Rüsselkäferarten beschreiben, die er aus Neuguinea mitgebracht hatte. Und nur über diese Kenntnisse können wir Verbreitungsgebiete erarbeiten und Vielfaltszentren erkennen – die wir letztlich schützen wollen."

Und schließlich und endlich könnten Arten sogar davon profitieren, weil Wissenschaftler erst über Sammlungen auf sie aufmerksam werden, so der Biologe Naskrecki. "Die einzige Höhlenheuschrecke der Erde steht heute auf der Roten Liste der bedrohten Arten und wird von Naturschützern beachtet. Und das nur, weil ich ein 70 Jahre altes, unbestimmtes Exemplar der Art beschrieb, das ein Forscher unwissentlich gesammelt hatte." Wer sich heute erregt, dass Biologen Tiere für ihre Forschung sammeln, sollte seine Aufmerksamkeit lieber auf andere Krisenherde lenken, meinen Schmitt wie Naskrecki: die um sich greifende Naturzerstörung, die Tiere und Pflanzen in immer kleinere Flecken Wildnis zurückdrängen, bis sie aussterben.

Thomas Schmitt sieht daher beim Sammeln vor allem an anderer Stelle Handlungsbedarf: "Man muss die schwarzen Schafe ausschalten, die tatsächlich alle Exemplare einer Art fangen und töten wollen. Das sind Geschäftemacher, keine ernst zu nehmenden Wissenschaftler, denn verantwortungsvolles Sammeln gefährdet keine Bestände. Ich habe in meinem Leben noch keine Art in ihrer Existenz bedroht."

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