Japanbeben : Tsunami-Schutt weckt Invasionsängste
Als im letzten Juni ein 165 Tonnen schwerer Block aus Stahl und Beton an die Küste Oregons geschwemmt wurde, erschrak Jessica Miller einigermaßen heftig: Das Gebilde, das einst den Teil einer Hafenanlage im japanischen Misawa bildete und über den Pazifik getrieben war, barst vor Leben, obwohl es 15 Monate auf hoher See schwamm. "Es war surreal", erzählt Miller, die als Marineökologin an der Oregon State University in Newport arbeitet. Sie entdeckte zehntausende Organismen, die das Trümmerteil teilweise bis zu 15 Zentimeter dick überzogen – darunter Braunalgen, rosafarbene Seepocken und garnelenartige Kreaturen aus der großen Gruppe der Flohkrebse. Im Dezember 2012 landete dann ein zweiter großer Brocken aus einem japanischen Hafen an der Küste des US-Bundesstaats Washington an, der ebenfalls von Lebewesen übersät war. Zudem wird laufend weiterer Schutt an die Strände der US-Westküste oder jüngst auch Hawaiis gespült, wie abgetriebene Boote oder Bojen, die alle lebende Tiere beherbergen.
Knapp zwei Jahre, nachdem das Tohoku-Erdbeben verheerende Tsunamis ausgelöst hat, schwemmt es massenhaft Müll und Trümmer von der japanischen Küste 8000 Kilometer entfernt an die Strände Nordamerikas. Das Treibgut dient vielen Organismen als schwimmende Insel – einige Arten gelten als potenziell invasiv. Laut Schätzungen der japanischen Regierung trugen die Tsunamis rund 1,5 Millionen Tonnen Material hinaus auf das Meer. "Wir erwarten, dass Tsunami-Schutt noch jahrelang angeschwemmt wird", meint Peter Murphy von der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in Silver Spring.
Damit hat die Flutwelle einige unerwartete Experimente angestoßen, denn Biologen haben nun die Chance ergriffen, potenzielle Artinvasionen von Anfang an zu beobachten. Ozeanforscher nutzen die Schuttsichtungen, um ihr Bild von Wind- und Meeresströmungen sowie deren Wirkung auf die Müllverlagerung zu verfeinern. Und Meeresökologen verfolgen die Wanderungen von Fischen mit Hilfe von Radioisotopen, die aus dem havarierten Reaktor Fukushima-Daiichi freigesetzt wurden. "Der Tsunami-Müll ist eine einzigartige wissenschaftliche Gelegenheit – örtlich wie zeitlich", sagt deshalb Susan Williams von der University of California in Davis.
Unerwartete Überlebenskünstler
Invasionsbiologen mussten wahrscheinlich am dringlichsten zur Tat schreiten, denn niemand hatte erwartet, dass Arten der Küsten die lange Reise über das offene Meer überleben würden. "Ein derartiges Ereignis kommt so selten vor, dass wir einfach nicht erwartet hatten, so etwas zu beobachten", erläutert James Carlton, ein Experte für Neozoen vom Williams College in Williamstown, der sich mit Miller und anderen Forschern zusammengetan hat, um die Ankömmlinge zu studieren. Zuerst müssen die Wissenschaftler sich vergewissern, dass der von ihnen unter die Lupe genommene Müll tatsächlich eine Folge der Tsunamis ist. Wasserflaschen mit japanischen Schriftzeichen liefern dafür beispielsweise erste Anzeichen. Registrierungsnummern von Booten lassen sich zurückverfolgen, um festzustellen, ob diese als vermisst gelten. Aber von den etwa 1500 Objekten, die in den letzten Monaten angeschwemmt und registriert wurden, bestätigte die japanische Botschaft nur 21, so Murphy.
Die Ankunft potenziell invasiver Arten sorgt die Anwohner der Pazifikküste dabei nicht erst seit heute. Organismen können im Ballastwasser von Ozeanriesen über große Distanzen schippern. Schiffe rekrutieren allerdings normalerweise nie ganze Lebensgemeinschaften, außerdem bewegen sie sich für viele Lebewesen zu schnell zwischen verschiedenen Häfen, als dass diese an Bord gelangen könnten. Die ortsansässigen Küstenlebensgemeinschaften, die von den langsam schwimmenden Schuttmassen verfrachtet werden, sehen deshalb völlig anders aus – und sie können überall an der nordamerikanischen Küste auftauchen und nicht nur in einigen schwer überwachten Häfen. Bis jetzt wurden zwar noch keine Ansiedlungstendenzen ausgehend vom Tsunami-Schutt nachgewiesen, aber Carlton, Miller und Co haben auch nicht von jeder Anlandung Kenntnis, weshalb ihnen potenziell invasive Arten durchaus entgangen sein könnten.
Als Nächstes will das Biologenteam feststellen, welche Organismen die Reise über den Pazifik überlebt haben und wie ihnen das gelang. In den neun Monaten, seit das erste Hafenteil angetrieben wurde, haben sie rund die Hälfte der insgesamt auf allen Trümmern festgestellten 175 Arten identifiziert. Der Meeresbiologe John Chapman vom Hatfield Marine Science Center reist noch diesen Monat nach Misawa, um zu dokumentieren, welche Spezies im zeitigen Frühling an den Hafenanlagen hausen – der Jahreszeit, in welcher der Tsunami zuschlug.
Heikle Passagiere
Bislang lassen die ersten Resultate durchaus ein reales Risiko für Invasionen erahnen: Zwischen dem Treibgut fanden sich zum Beispiel drei als Neophyten sehr gut bekannte Algenspezies, sagt Gayle Hansen, eine Expertin für Meeresalgen an der Oregon State University in Newport. 75 Prozent der 46 von ihr gesammelten Algenarten seien reproduktiv gewesen und hätten Sporen freigesetzt, so Hansen. Dadurch hätten sie gute Chancen, sich zu etablieren, und könnten möglicherweise einheimische Arten im pazifischen Nordwesten verdrängen.
Behördenvertreter, die für gewöhnlich als Erste vor Ort erscheinen, vernichten meist sehr rasch alle Organismen, die sich an den Schutt klammern, um potenziellen Invasionen vorzubeugen. Das macht es für Carltons Team zur Herausforderung, Proben zu bekommen. Doch das Problem verkleinere sich langsam, so Carlton, da sich immer mehr Erstbegutachter bewusst seien, dass Belegexemplare von den Neuankömmlingen benötigt werden. Er fügt jedoch hinzu, dass bislang nur wenige Hinweise auf Trümmer mit lebenden japanischen Arten aus Alaska, British Columbia und Kalifornien gebe, was entweder mit einem Mangel an übermittelten Daten zu tun habe oder ein Artefakt der Ozeanografie sei.
Wegen der großräumigen Muster von Wind- und Meeresströmungen sollte im letzten Winter und im kommenden Frühling ein erster Höhepunkt der Anlandungen erreicht werden. Der Hauptweg der Trümmer verläuft nördlich von Hawaii und wurde von Computermodellen der NOAA entsprechend vorausgesagt, wobei sie auf Beobachtungen von Seeleuten zurückgriffen. Aber der Ozeanforscher Nikolai Maximenko von der University of Hawaii in Honolulu schränkt ein, dass die exakte Landung der Betonblöcke schwer vorauszusagen sei: Ihr Auftrieb falle so groß aus, dass Wind und die Meeresströmungen annähernd mit gleicher Kraft auf sie einwirken.
Die Spur der Strahlung
Maximenko hilft außerdem dabei, die Wolke der Radioisotope aus Fukushima nachzuverfolgen, die zeitlich dem Müll hinterherhinkt und nur langsam ostwärts wandert, aber Ökologen bei ihren Studien dienlich ist. Im Februar etwa zeigten der Meeresforscher Nicholas Fisher von der Stone Brook University in New York und seine Kollegen, dass die beiden Radioisotope Zäsium-134 und Zäsium-137 als Marker für die Wanderungen von Blauflossentunfischen zwischen Japan und Kalifornien genutzt werden können. Fishers Team bestätigte, dass beide Isotope in Tunfischen vor der kalifornischen Küste vorhanden waren, weshalb sie aus japanischen Gewässern gekommen sein müssen. Die gemessenen Konzentrationen stellen allerdings kein Risiko für die menschliche Gesundheit dar. "Wir finden Belege, dass die Fische den Pazifik innerhalb eines Monats queren können, was uns sehr erstaunt", so Fisher. Andere Forscher nutzen dieses erzwungene Experiment, um herauszufinden, ob im Nordpazifik zwei unterschiedliche Bestände des Weißen Thuns (Thunnus alalunga) existieren, was sich in unterschiedlichen Isotopenprofilen widerspiegeln würde. Und Fishers Team möchte die Methode auch heranziehen, um das Wanderungsverhalten anderer großer Meeresbewohner wie Albatrosse, Unechter Karettschildkröten oder Haie zu ergründen.
Doch trotz der gewaltigen neuen Möglichkeiten, die ihnen die Radioisotope oder die Trümmer für das Studium von Lebewesen bieten, vergessen die Wissenschaftler nie, welches Leid die Tsunamis über die japanische Bevölkerung gebracht haben. "Das ist ein Experiment, das besser nie stattgefunden hätte", mahnt Chapman.
Der Artikel erschien unter dem Titel "Tsunami triggers invasion concerns" in Nature 495, S. 13–14, 2013.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben