Kommentar: Ungleichgewicht des Schreckens
Die Kubakrise von 1962 war viel gefährlicher, als damals angenommen wurde – das offenbaren Geheimdokumente, die nun zugänglich wurden. Ein amerikanisches U-2-Spionageflugzeug flog versehentlich in den sowjetischen Luftraum, und mit Atomraketen bewaffnete US-Kampfjets drangen in die Beringstraße ein, um es zu zurückzubringen. In den Kommandoständen für die sogenannte Minuteman – eine US-Interkontinentalrakete – manipulierte man die Systeme so, dass man die Waffe bei Bedarf hätte eigenmächtig starten können. Strategen im Pentagon bereiteten sich schon auf eine mögliche Invasion Kubas vor – absolut ahnungslos, dass die sowjetischen Atomwaffen bereits auf der Insel stationiert waren und die lokalen Kommandeure die Befugnis hatten, diese taktischen Waffen auch zu nutzen [1]. US-Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Premier Nikita Chruschtschow wendeten den Atomkrieg im Oktober 1962 zwar ab. Doch wissen wir erst heute, wie nah sie an der Katastrophe vorbeischrammten [2].
Fünfzig Jahre später leben wir in einer nuklearen Welt, die nicht mehr nur zwei Supermächte mit Kernwaffenarsenalen, sondern gleich neun Atommächte hat – und in der sich neue bereits am Horizont abzeichnen. Die Regierungen dieser jungen Atommächte machen vielleicht nicht die gleichen Fehler wie die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten damals während des Kalten Krieges, dafür werden ihnen andere unterlaufen. Tatsächlich ist diese neue Ära besorgniserregend: Im Schutz ihrer Atomwaffen glauben Regierungen, sie können aggressiver auftreten und sich dabei sicherer fühlen. Gleichzeitig verbreiten sie Atomwaffen, indem sie ihre Technologie an andere Regierungen verkaufen. Nicht zuletzt erhöht sich dadurch das Risiko, dass kernwaffenfähiges Material oder Atomwaffen in die Hände von Dieben und Terroristen geraten könnten.
Obwohl sie sich dieser Gefahren bewusst sind, behaupteten einige Politiker und Analysten optimistisch, dass neue Atommächte umsichtig handeln werden und eine stabile Form der globalen nuklearen Abschreckung wahrscheinlich sei. So verkündete 2007 Jacques Chirac, der damalige Präsident Frankreichs, der Presse: Es "wäre nicht sehr gefährlich", wenn der Iran nukleare Sprengköpfe erhielte. Wenn die iranische Führung die Bombe jemals benutze, so argumentierte er, würde Teheran sofort durch einen Gegenschlag zerstört [3].
Andere zeigen sich dagegen pessimistischer und sehen präventive militärische Maßnahmen als einzigen Weg, um einer Weitergabe von Atomwaffen wie etwa durch den Iran zu begegnen. Ob solche Angriffe allerdings den gewünschten Erfolg bringen, ist mehr als fraglich. Zudem könnten sie großflächigere Kriege auslösen und auf lange Sicht sogar die Verbreitung von Atomwaffen fördern.
Weder Nichtstun noch ein Präventivkrieg führen also zu einer sichereren nuklearen Zukunft. Angesichts schwerwiegenden potenziellen Gefahren sollten wir umsichtig und stetig weltweit nuklear abrüsten. Die komplizierte globale Natur des zunehmenden nuklearen Risiko erfordert komplexe und globale Lösungen: Wissenschaftler, Ingenieure und Regierungen müssen zusammenarbeiten, um die nukleare Abrüstung besser zu überprüfen sowie Techniken zur Urananreicherung und Plutoniumwiederaufbereitung international stärker zu kontrollieren.
Wachsende Bedrohung
Was droht, lässt sich deutlich in Pakistan beobachten: Wenige Monate nach den ersten Atomwaffentests im Mai 1998, schickte das pakistanische Militär als Mudschahidin-Guerillas verkleidete Soldaten in den von Indien beanspruchten Teil Kaschmirs – ein Schritt, der 1999 den Kargil-Krieg auslöste und zu einer Reihe von nuklearen Drohungen zwischen New Delhi und Islamabad führte. Der pakistanische Atomwissenschaftler Abdul Qadeer Khan baute dann ein berüchtigtes Netzwerk auf, das Zentrifugentechnologie an den Iran, Nordkorea und Libyen verkaufte. In Pakistan zeigen sich aber auch die Gefahren des nuklearen Terrorismus: Die Armee kämpft gegen die interne Bedrohung durch pakistanische Taliban und wurde von radikalen Islamisten unterwandert [4].
Islamabad ist sich dieser Gefahren bewusst und verstärkte, teils mit Unterstützung der USA, die Sicherheitsmaßnahmen. Diese sollen unter anderem die Vertrauenswürdigkeit der Mitarbeiter sicherstellen und das nukleare Arsenal vor Terroristen zu schützen, während die Atomwaffen in einem Bunker auf einer Militärbasis gelagert werden [5]. In einer zukünftigen Krise mit Indien wird das pakistanische Militär sein Kernwaffenarsenal höchstwahrscheinlich einsatzbereit machen, also die Sprengköpfe mit mobilen Raketenwerfern versehen, die Raketen aus den Basen befördern und diese in Stellung bringen. Damit wäre Pakistan zwar weniger gefährdet durch einen Angriff von Indien, doch die Waffen wären auch sehr viel leichter zugänglich für Terroristen.
Ähnliche nukleare Gefahren lassen sich im Irak beobachten – ein Staat, der versucht hatte, eine Atombombe zu bauen, und daran scheiterte. Inzwischen weiß man aus Dokumenten, die nach der Eroberung Bagdads im Jahr 2003 sichergestellt wurden, dass Saddam Hussein sein geheimes Entwicklungsprogramm für Kernwaffen aufgab, nachdem UN-Inspektoren es im Zuge des ersten Golfkriegs aufgedeckt hatten. Saddam stellte sich den Einsatz von Atomwaffen wie ein Schutzschild für den Angriff anderer Nationen vor. Hieraus lässt sich viel über das Verhalten von neuen Atommächten lernen.
"Wir können einen langen Krieg garantieren, der auf unseren Feind vernichtend wirkt, uns in aller Ruhe jeden Meter Land nehmen und den Feind in Strömen von Blut ertränken"
Saddam Hussein
Innerhalb von fünf Jahren würde der Irak Atomwaffen besitzen, prophezeite Saddam den sichergestellten Dokumenten zufolge vor der Invasion Kuwaits im Jahre 1990. Rhetorisch fragte er seine Mitstreiter: Verfügten die Araber über eine Atombombe, würden sie dann nicht die Gebiete einnehmen, die 1967 besetzt wurden?" [6]. Der Besitz von Atomwaffen erlaube es dem Irak, so erklärte Saddam in den späten 1970er Jahren gegenüber der irakischen Führung, einen gewöhnlichen Krieg gegen Israel anzufangen – ohne Angst haben zu müssen, dass Tel Aviv aus lauter Verzweiflung mit seinem Atomwaffenarsenal zurückschlage. Auch das Transkript von Saddams Geheimrede lässt erschaudern: "Wir können einen langen Krieg garantieren, der auf unseren Feind vernichtend wirkt, uns in aller Ruhe jeden Meter Land nehmen und den Feind in Strömen von Blut ertränken" [7]. Die Welt kann sich glücklich schätzen, dass Saddam nach dem Golfkrieg von 1991 gezwungen war, sein Atomprogramm aufzugeben.
Nordkorea dagegen stellt bereits eine ernsthafte nukleare Bedrohung dar: Die Regierung des Landes tritt seit ihrem ersten Atomtest im Jahr 2006 und einem zweiten 2009 aggressiv auf; im Jahr 2010 beschuldigte man den Staat, ein südkoreanischen Marineschiff – die "Cheonan" – versenkt zu haben, wobei 46 Seeleute ums Leben kamen. Die nordkoreanische Artillerie beschoss die südkoreanischen Insel Yeonpyeong im November 2010 und tötete dabei zwei Marinesoldaten sowie zwei Zivilisten. Darüber hinaus ist Nordkorea wirtschaftlich ein derart hoffnungsloser Fall, dass es bereit zu sein scheint, nahezu alles zu Geld zu machen: von gefälschten Arzneimitteln, illegalen Drogen und Falschgeld bis hin zu lukrativeren Geschäften wie dem Schmuggel von Raketen- und Kerntechnik. Die nordkoreanische Führung verkauft zwar nicht direkt Atombomben an andere Länder – das ihnen verfügbare Kernmaterial reicht gerade einmal für eine Handvoll an Waffen für das eigene Land –, aber sie lieferten Raketen ohne Atomsprengköpfe an Pakistan und den Iran. Auch erwischte man sie dabei, wie sie im Jahr 2004 heimlich Uranhexafluorid an Libyen und 2007 an Syrien verkauften – daraus kann man Brennelemente für Kernreaktoren oder eine Bombe herstellen.
Irans nuklearer Schild
Warum sollten wir uns Sorgen über Iran als Atommacht machen? Die größte Gefahr besteht nicht etwa darin, dass die Führung in Teheran einen selbstmörderischen atomaren Erstschlag auf Israel oder die Vereinigten Staaten verüben will. Wirklich besorgniserregend ist die Tatsache, dass die Führung in Teheran eventuelle Atomwaffen als Schutzschild sehen könnte, hinter dem sie sich an konventionellen und terroristischen Angriffen beteiligen kann.
Iran ist bereits heute ein wichtiger Zulieferer für die Hisbollah und unterstützt deren Angriffe auf zivile und militärische Ziele in Israel und anderen Ländern des Nahen Ostens. Der Iran stattete auch verdeckt die irakischen Schiiten mit Waffen aus, die im Irak gegen US-Truppen kämpften. Darüber hinaus steuert die Iranische Revolutionsgarde, die terroristische Vereinigungen unterstützt, das Atomprogramm.Die Kombination aus Befehlsgewalt über Nuklearwaffen und Verbindungen zu Terrororganisationen ist eine potenziell tödliche Mischung. Wenn der Iran die Bombe bekommt, erklärten offizielle saudische Stellen, so werden auch sie Atomwaffen entwickeln, was die Liste gefährlicher neuer Atommächte weiter erweitert.
Bedenkt man, wie weit der Iran mit seinem Atomprogramm bereits fortgeschritten ist, befürworten einige Politiker und Analytiker Luftangriffe – oder sogar einen Präventivkrieg – gegen das Land. Ein Angriff wäre jedoch nicht nur enorm teuer, sondern würde vor allem in der iranischen Zivilbevölkerung viele Opfer fordern und wäre zudem wohl kaum die Lösung des Problems. Präventivschläge können ein geheimes Atomwaffenprogramm eher beleben, anstatt es zunichte zumachen. Das zeigte sich im Jahr 1981 als israelische Kampfflugzeuge den einzigen irakischen Kernreaktor bombardierten. Anschließend startete Saddam ein neues Atomwaffenprogramm, das sich auf geheime Urananreichungsanlagen stützte [8].
Glücklicherweise befindet sich die Weltgemeinschaft noch nicht an dem Punkt, an dem sie nur noch zwischen zwei Optionen wählen kann: Entweder den Staat angreifen oder aber mit einem nuklear bewaffneten Iran leben. Wir müssen über Sanktionen und Cyberangriffe nachdenken, um Irans Fortschritte zu verzögern und das Atomwaffenprogramm zu verteuern und es so diplomatischen Initiativen zu ermöglichen, dass sie effektiv wirken können. Als mögliche Verhandlungslösung könnte man sich unter anderem darüber verständigen, dass der Iran seine Urananreicherungsanlage bei Natanz sowie einen Vorrat an niedrig angereichertem Uran behalten darf, sofern regelmäßige internationale Inspektionen stattfinden. Diese Lösung wäre zwar nicht ideal, denn sie würde es dem Iran ermöglichen, sein Programm irgendwann doch wieder aufzunehmen. Dennoch wäre sie allemal besser als ein Präventivschlag oder blindes Vertrauen in die nukleare Abschreckung.
Atomwaffen mögen eine gefährliche Notwendigkeit gewesen sein, damit der Kalte Krieg tatsächlich kalt blieb. Doch Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger, die wehmütig an die simplen Mechanismen der nuklearen Abschreckung in jener Ära zurückdenken, begreifen nicht, wie sehr sich die Welt verändert hat. Heute entscheiden wir uns nicht zwischen einer atomwaffenfreien Welt und einer Rückkehr zu einer bipolaren Abschreckung wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern zwischen einer Welt ohne Atomwaffen und einer mit vielen weiteren Atommächten.
Der Weg zur Abrüstung
Den Befürwortern der nuklearen Abrüstung stellen sich schwierige und nahezu unlösbare Herausforderungen, sowohl technischer als auch politischer Natur. Uns fehlen geeignete Techniken, um die Abrüstung zu überprüfen – wie beispielsweise die Fernerkundung von geheimen, waffenrelevanten Aktivitäten. Einige Verbündete verlassen sich auf ausgeweitete nukleare Sicherheitsgarantien, etwa die Zusage seitens der USA, mit Atomwaffen zurückzuschlagen, sobald die Alliierten angegriffen werden. Und eine wachsende Anzahl an Ländern wollen sowohl die Kernkraft nutzen als auch das Recht beanspruchen, Urananreichungsanlagen sowie Wiederaufbereitungsanlagen für Plutonium zu bauen, die für friedliche, aber ebenso für verächtliche Zwecke verwendet werden könnten. Es ist keineswegs sicher, dass die Vereinigten Staaten und andere Atommächte diese Herausforderungen in absehbarer Zeit bewältigen können. Eindeutig ist nur, dass die bestehenden Atommächte nicht abrüsten können, wenn die noch atomwaffenfreien Staaten nicht kooperieren [9].
Im Gegensatz zu früheren US-Präsidenten stellte Barack Obama folgerichtig fest, dass die Mitgliedschaft der USA im Atomwaffensperrvertrag oder Nichtverbreitungsvertrag (NVV) dazu verpflichtet, auf die nukleare Abrüstung hinzuarbeiten [10]. Seine Verpflichtungen ernst nehmend, legt seine Regierung in der US-Atomwaffendoktrin 2010 dar: "Wir verstärken unsere Bemühungen, eine breite internationale Unterstützung für die notwendigen Maßnahmen zu mobilisieren, so die Regelungen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen zu kräftigen und Kernmaterial weltweit zu sichern" [11]. Auf der erfolgreichen NVV-Überprüfungskonferenz im Jahr 2010 lobten die meisten Nichtvertragsstaaten den "New START" (New Strategic Arms Reduction Treaty) – das amerikanisch-russische Abrüstungsabkommen – und unterstützten Prüfprotokolle für Atomanlagen. Dies zeigt, dass der Abrüstungsprozess auch die Nichtverbreitung voranbringt [12].
"Wir müssen über Sanktionen und Cyberangriffe nachdenken, um Irans Fortschritte zu verzögern und das Atomwaffenprogramm zu verteuern"
Wenn viele Länder ihre eigenen Urananreicherungs- oder Plutoniumwiederaufbereitungsanlagen betreiben, die nukleare Brennstoffe für die Atomenergie ebenso wie für Waffen produzieren könnten, erschwert dies die Abrüstung. Es ist daher zwingend notwendig, dass die Regierungen zusammenarbeiten und eine internationale Kontrolle solcher Fabriken durchsetzen – denn obwohl sie vorrangig eingesetzt werden, um Kernbrennstoffe für Atomkraftwerke zu produzieren, ließen sie sich auch missbrauchen. Alle diese Einrichtungen sollten zukünftig von einer internationalen Behörde verwaltet und Sicherungsabkommen von den Ländern eingehalten werden. Letztere würden sicherstellen, dass ein Staat die Anlagen nicht legal für ein Atomwaffenprogramm nutzen darf, wenn es sich aus dem Atomwaffensperrvertrag zurückzieht.
Es gibt viele wichtige Aufgaben für Wissenschaftler und Ingenieure auf dem – im besten Fall – langen und steinigen Weg zur nuklearen Abrüstung. Wir brauchen erweiterte Prüftechnologien, die geheime waffenrelevante Aktivitäten aus der Ferne aufspüren können. Auf dem Weg zur Abrüstung sind verbesserte Programme erforderlich, die sicherstellen, dass die atomaren Sprengköpfe in den kleiner werdenden Arsenalen zuverlässig funktionieren – ohne dass dazu Atomtests durchgeführt werden müssen. Und wir müssen auch fortschrittliche Kernreaktoren entwickeln, die zwar Energie für zivile Zwecke produzieren, ohne dass dies zur Verbreitung von Atomwaffen oder zum Diebstahl von Nuklearmaterial durch Terroristen führen kann.
Eine atomwaffenfreie Welt wird nicht frei sein von Interessenkonflikten oder Krieg. Es wird natürlich auch keine ideale Welt sein, in der Regierungen sich nie versucht fühlen, sich ihrer globalen Verpflichtungen zu entziehen. Tatsächlich würde das Aufrechterhalten von "Global Zero" es erfordern, dass konventionell bewaffnete Großmächte die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung und die Nichtverbreitung gegebenenfalls in einer fairen und energischen Art und Weise durchsetzen. Stehen Länder im Verdacht, Atomwaffen zu verbreiten, müssen diese möglicherweise "gezwungen" werden, die Auflagen zu erfüllen.
Die strategischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind enorm. Letzten Endes leben wir wahrscheinlich mit einem kleinen Bestand an Kernwaffen am sichersten, anstatt weltweit eine vollständige nukleare Abrüstung zu erreichen. Dies wäre immer noch eine weniger gefährliche Welt als die heutige. Wenn wir scheitern, gemeinsam nuklear abzurüsten, wird die Welt morgen mit noch mehr Atomstaaten, Atomwaffen und der Bedrohung durch nuklearen Terrorismus eine weitaus gefährlichere.
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