Varianten: Zu was das Coronavirus noch mutieren kann
Zu Beginn der Pandemie hieß es immer wieder: Coronaviren mutieren weniger schnell als etwa Influenzaviren, deshalb seien weniger Variationen des Virus zu erwarten. Doch es kam anders. Gerade sorgt die Delta-Variante von Sars-Cov-2 für Infektionswellen rund um den Globus, und in verschiedenen Teilen der Welt verbreiten sich Linien wie Lambda oder Kappa, über deren Potenzial bisher wenig bekannt ist. Wird das griechische Alphabet überhaupt ausreichen, um jede neue Version des Virus zu beschreiben? Und warum entstehen trotz des stabilen Genoms so viele Varianten?
Aufschlussreich ist der Vergleich mit der Grippe. Ein Team von der Berliner Charité hat deshalb die Mutationsraten von Corona- und Influenzaviren verglichen. Influenzaviren des Stamms H3N2 sammelten in den vergangenen 40 Jahren pro Jahr durchschnittlich 25 Mutationen an, zwei altbekannte Erkältungscoronaviren in der gleichen Zeit jeweils nur sechs. Das Grippevirus macht mehr Fehler bei der Vervielfältigung seines Erbguts, genauer gesagt das Enzym, das diesen Vorgang katalysiert. Das entsprechende Enzym der Coronaviren dagegen hat eine Korrekturfunktion, die eine Vielzahl der gemachten Fehler wieder ausbessert.
Doch das ist nicht der einzige Faktor, der das Entstehen von Varianten beeinflusst. »Erst mal ist das Genom von Coronaviren etwa dreimal so groß wie bei Influenza – dadurch allein ergeben sich schon mehr Möglichkeiten für Mutationen«, sagt Friedemann Weber, Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Gießen. Entscheidend für die relativ hohe Mutationsrate zuletzt ist das schiere Ausmaß der Pandemie. »Da das Virus sich innerhalb der Pandemie unvorstellbar oft vervielfältigt und jede Replikation eine Quelle von Mutationen ist, steigt eben auch deren Zahl«, sagt Sébastien Calvignac-Spencer, Forscher am Robert Koch-Institut und Experte für Virenevolution.
Sars-CoV-2 kann sich nicht unbegrenzt wandeln
Auch Jan Felix Drexler vom Institut für Virologie der Charité sieht das so: »Wo es viele Infektionen gibt, kann sich ein Virus auch schneller weiterentwickeln.« Derzeit verändert sich Sars-Cov-2 mit einer Rate von zehn Mutationen pro Jahr und damit deutlich schneller. »Diese schnelle genetische Veränderung von Sars-CoV-2 spiegelt sich in dem Aufkommen vieler verschiedener Virusvarianten weltweit wider«, sagt Drexler, Leiter der Studie über die Mutationsraten bei Influenza- und Coronaviren, laut einer Presseerklärung zur Veröffentlichung.
Allerdings könne das nicht unbegrenzt so weitergehen. »Auf Basis der Evolutionsraten der heimischen Erkältungscoronaviren gehen wir davon aus, dass sich auch Sars-CoV-2 langsamer verändern wird, sobald das Infektionsgeschehen abebbt«, sagt Drexler. »Also nachdem ein Großteil der weltweiten Bevölkerung entweder durch die Erkrankung selbst oder durch eine Impfung einen Immunschutz aufgebaut hat.«
»Wo es viele Infektionen gibt, kann sich ein Virus auch schneller weiterentwickeln«Jan Felix Drexler
Im Moment baut sich allerdings gerade eine neue Welle auf. Die Variante Delta, die leichter übertragbar ist und wahrscheinlich zum Teil dem Immunsystem entgeht. Vielleicht verursacht sie sogar mehr schwere Krankheitsverläufe als bisherige Sars-Cov-2-Mutationen. Werden weiterhin immer gefährlichere Varianten entstehen, wie es im Moment den Anschein hat?
In den Diskussionen um zukünftige Varianten taucht immer wieder die Annahme auf, dass sich das Virus so anpasst, dass es immer harmloser für den Menschen wird. »Das ist eine zu stark vereinfachte Sichtweise, die so allgemein nicht stimmt«, sagt Richard Neher. »Natürlich hilft es keinem Virus, wenn es seinen Wirt blitzschnell umbringt – aber andererseits nützt es einem Erreger, wenn er dem Immunsystem entkommt oder wenn er auf andere Art eine höhere Viruslast verursacht.« Solche Veränderungen können die Übertragbarkeit verbessern – und genau ist bei Sars-CoV-2 passiert, ohne dass das Virus harmloser geworden ist, zum Beispiel bei der Alpha- und bei der Delta-Variante.
Die Impfungen werden nie ganz wirkungslos
Dass das Virus quasi per Naturgesetz harmloser wird, ist also nicht zu erwarten. »Aber seine Möglichkeiten zu mutieren sind andererseits nicht unbegrenzt«, sagt Sébastien Calvignac-Spencer vom RKI. »Das Spike-Protein muss immer noch aussehen wie ein Spike-Protein – viele Positionen können nicht verändert werden, wenn es weiterhin an seinen Rezeptor binden soll.« Viele Mutationen habe das Virus mittlerweile eben schon getestet, auch das spreche dafür, dass Varianten in der Zukunft in weniger schneller Abfolge auftauchen werden.
Entscheidend für die Evolution des Virus – genauso wie dafür, wie krank es uns in Zukunft machen wird – ist die Wechselwirkung mit dem menschlichen Immunsystem. »Eine komplette Immunevasion durch Mutationen ist sehr unwahrscheinlich«, sagt Virologe Friedemann Weber. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist die Vielseitigkeit der Immunantwort. Der Körper bildet verschiedene so genannte polyklonale Antikörper gegen einen Erreger.
Das bedeutet: Selbst wenn das Spike-Protein sich zum Beispiel so verändert, dass ein Antikörper nicht mehr daran binden kann, gibt es andere, die das noch können. Eine aktuelle Studie der Rockefeller University in New York zeigt, dass es 20 Mutationen allein im Spike-Protein braucht, damit polyklonale Seren von Sars-CoV-2-Genesenen oder mRNA-Geimpften unwirksam werden. »Das ist eine hohe Barriere«, kommentiert Leif Eric Sander, Professor für Infektionsimmunologie und Impfstoff-Forschung an der Berliner Charité.
Die Rolle der T-Zellen
Außer den polyklonalen Antikörpern gibt es noch die Abwehr durch so genannte zytotoxische T-Zellen. Sie erkennen virusinfizierte Zellen und töten diese, um die Produktion von Viren zu stoppen. Dabei identifiziert eine zytotoxische T-Zelle spezifisch Zellen, die von einem bestimmten Virus infiziert sind – und zwar anhand von Virusproteinstückchen, die von so genannten MHC-I-Komplexen auf deren Zelloberfläche präsentiert werden. Diese »Präsentierteller« haben variable Bindungstaschen und zeigen darin Proteinbruchstücke aus dem Zellinneren – und damit auch von eingedrungenen Viren.
»Das Virus müsste quasi alle T-Zell-Epitope für alle Menschen verändern, um gänzlich resistent gegenüber T-Zellen zu werden«Richard Neher
Präsentiert wird, was passt – und diese so genannten T-Zell-Epitope sind oftmals ganz andere Teile des Spike-Proteins als diejenigen, die von Antikörpern erkannt werden. Sowohl Antikörpern als auch den zytotoxischen T-Zellen zu entkommen, ist deshalb für ein Virus sehr unwahrscheinlich. »Insbesondere, wenn man bedenkt, dass Individuen genetisch bedingt jeweils unterschiedliche MHC-I-Komplexe haben«, sagt Richard Neher. »Das Virus müsste quasi alle T-Zell-Epitope für alle Menschen verändern, um gänzlich resistent gegenüber zytotoxischen Zellen zu werden.«
Die Gene der MHC-Komplexe – und damit die Bindestellen für Virusproteine – sind beim Menschen besonders vielfältig. Sie sind quasi nur bei eineiigen Zwillingen identisch. Entsprechend könnte je nach Genetik auch die zytotoxische T-Zell-Antwort unterschiedlich gut ausfallen. Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, dass bei Nordeuropäern bestimmte ererbte MHC-Varianten mit erhöhter Anfälligkeit für schwere Covid-19-Verlaufe verbunden sind, in Israel konnten Wissenschaftler allerdings keinen solchen Zusammenhang nachweisen.
Die Varianten bremsen sich gegenseitig
Auch, dass die Infektionswellen von Sars-CoV-2 durch die verschiedenen Varianten ausgelöst wurden und werden, macht es zukünftigen Versionen des Virus immer schwerer, sich effektiv zu verbreiten. »Die nächste Runde an Varianten muss nicht mehr nur einer Immunantwort ausweichen«, sagt Richard Neher. »Es gibt zum Beispiel eine größere Diversität an Antikörpern, so dass es nicht mehr so einfach ist, allen unterschiedlichen Immunantworten auf einmal zu entgehen.«
Viele Experten gehen davon aus, dass sich Sars-CoV-2 in Zukunft ähnlich wie Influenza und andere Erkältungsviren verhalten wird. »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Virus sich kontinuierlich weiterentwickelt und seine Oberflächenproteine so verändert, dass es Menschen, die schon mal infiziert waren, noch mal anstecken kann«, sagt Richard Neher. »Es könnte dann saisonale Infektionswellen mit Sars-CoV-2 im Herbst und Winter geben, die aber wohl relativ mild verlaufen werden, weil die Bevölkerung durch Impfungen und vorangegangene Infektionen eine Vorimmunität hätte.«
Speziell Influenza hat allerdings eine weitere Möglichkeit, sein Genom zu verändern, die man bei den Coronaviren so nicht findet. Neben der Veränderung durch stetige Mutation, Antigen-Drift genannt, sieht man bei der Grippe außerdem sprunghafte Veränderungen, eine so genannte Antigen-Shift – dabei werden Gene komplett ausgetauscht. Die Grundimmunität in der Bevölkerung gegen die entstandenen Viren verschlechtert sich dann schlagartig.
Rekombination ist unwahrscheinlich
Das geschieht bei Influenzaviren deshalb häufig, weil die Gene auf verschiedenen RNA-Segmenten liegen, die bei Doppelinfektionen mit zwei verschiedenen Viren miteinander ausgetauscht werden können. »Bei Coronaviren haben wir alle Gene auf einem Strang, die Gefahr für einen Austausch ist deshalb wesentlich geringer«, sagt Virologe Friedemann Weber. »Aber prinzipiell können Coronaviren durchaus rekombinieren, also Stücke miteinander austauschen, das ist bekannt.« Wissenschaftler entdeckten bei Fledermäusen bereits Sars-CoV-2-ähnliche Coronaviren, die ein anderes Spike-Protein haben, das aber dennoch an den humanen ACE2-Rezeptor binden kann, wenn auch nur schwach. Bei einer Infektion solcher Fledermäuse könnte Sars-CoV-2 theoretisch ein neues Spike-Protein erwerben, was zu einer Antigen-Shift führen würde.
»Das ist ein höchst unwahrscheinliches Szenario«, sagt Sébastien Calvignac-Spencer vom RKI. »Dazu müsste eine wild lebende Fledermaus, die mit einem solchen Virus infiziert ist, sich zugleich mit Sars-CoV-2 anstecken; dann müsste in diesem Tier, was längst nicht immer geschieht, die Rekombination passieren – und von dort müsste dieses neue Virus dann wieder auf den Menschen übertragen werden.« Stattdessen sieht Calvignac-Spencer eine andere Gefahr. »Wenn wir das Virus wie jetzt weitgehend unkontrolliert sich unter den Menschen vermehren lassen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für Doppelinfektionen mit verschiedenen Varianten«, sagt der Biologe. »Das wiederum erhöht die Gefahr, dass zwei genetisch unterschiedliche Sars-CoV-2 ihre Gene austauschen – das können wir nicht wollen.« Denn dabei könne eben eine neue gefährlichere Variante entstehen.
Bislang jedoch gibt es keinen Nachweis, dass Rekombination eine Rolle bei der Bildung der Varianten spielt. »Sie wird zu fitteren Varianten führen – das Virus kann evolutionäre Schritte machen, die ohne Rekombination nicht möglich wären«, sagt Richard Neher. »Um diese Ereignisse möglichst unwahrscheinlich zu machen, müssen wir sehr hohe Inzidenzen vermeiden.« Die Wahrscheinlichkeit für Doppelinfektionen ist dann sehr viel höher. »Der wichtigste Grund, die Infektionszahlen möglichst gering zu halten, ist aber, die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten und jedem Menschen eine Möglichkeit zur Impfung gegen Covid-19 zu geben – auch im Süden des Planeten.«
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