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Linguistik: Verben mit Halbwertszeit

Ein ganzer Strauß von Faktoren treibe zwar die Entwicklung einer Sprache voran, meinen Linguisten - was aber vor allem zähle, sei die Häufigkeit, mit der Wörter gesprochen werden. Korrekt? Evolutionsbiologen und Mathematiker haben einmal genau nachgerechnet.
Beowulf
Was dem Engländer der "father", ist dem Deutschen sein "Vater"; der "pater" aus dem alten Rom heißt im Iran noch heute "pedar". Die einfache, seit langem bekannte Erklärung für diese rätselhafte Übereinstimmung: Alle genannten Sprachen stammen von ein und derselben Ursprache, dem Indoeuropäischen, ab.

Soweit, so gut. Warum aber erhielten sich diese und andere Verwandtschaftsbezeichnungen über mehrere Jahrtausende, während andere Begriffe heute völlig unterschiedlich klingen ("Vogel", "bird", "avis" und "parandeh")? Ein Team um den Evolutionsbiologen Mark Pagel von der Universität Reading in England machte sich jetzt daran, mittels statistischer Verfahren nachzuweisen, was Linguisten für die plausibelste Erklärung halten: Es sei keineswegs Zufall, dass ein bestimmtes Wort seine Form beibehält. Je häufiger es im Alltag gebraucht wird, desto stärker widersetzt es sich auch Veränderungen [1].

Die Forscher wählten dazu 200 Konzepte, wie "Wasser", die "Zwei" oder "sterben" aus, und erfassten, wie viele verschiedene Ausdrücke es dafür in den indoeuropäischen Sprachen gibt. Das Ergebnis dieser linguistischen Volkszählung überraschte kaum: Manche dieser Grundbedeutungen wurden seit Jahrtausenden überall beinahe gleich ausgedrückt, für andere dagegen existieren über vierzig verschiedene Wortwurzeln – in letzterem Fall fand offenkundig eine sehr rasche Evolution statt.

Die steile Karriere des -ed

Mit einem in der Evolutionsbiologie weit verbreiteten Verfahren analysierten die Wissenschaftler nun dieses Resultat: Rein statistisch gesehen gibt allein die Häufigkeit, mit der ein solches Grundkonzept gebraucht wird, zu 50 Prozent darüber Auskunft, wie schnell sich der entsprechende Ausdruck verändert. Andere Faktoren, wie die Struktur der Sprechergemeinschaft oder der phonologische Aufbau des Wortes, spielen demnach nur eine untergeordnete Rolle.

Einen ähnlichen Befund ergab auch eine gleichzeitig veröffentlichte Studie des Harvard-Mathematikers Erez Lieberman [2]. Er und seine Ko-Autoren nahmen sich englische Verben vor, deren Vergangenheitsformen – man erinnere sich an den Schulunterricht, Stichwort: "sing, sang, sung" – teils unregelmäßig, teils regelmäßig mit der Endung "-ed" gebildet werden können. Ganz wie im Deutschen laufen die regelmäßigen seit jeher den unregelmäßigen mehr und mehr den Rang ab: "Ich buk Pfannkuchen" etwa ist das deutsche Pendant zu einem englischen Satz wie "He was clad in a suit" ("Er hatte einen Anzug an") statt "clothed".

Auch hier entschied eindeutig die Häufigkeit, mit der ein Verb gebraucht wird, darüber wie konservativ es gegenüber Veränderungen ist, der Vergleich mit alt- und mittelenglischen Wortschatzsammlungen, den die Forscher anstellten, lässt da keine Fragen offen. Bedeutender ist jedoch, dass es den Wissenschaftlern gelang, eine Art "Halbwertszeit" für Verben zu berechnen: Sie ist proportional zur Quadratwurzel ihrer Häufigkeit, beziehungsweise – weniger kompliziert ausgedrückt – ein Verb, das einhundert Mal so selten ist wie ein anderes, wird sich zehn Mal schneller an die allgemeine Regel assimilieren.

Linguistische Evolutionstheorien

Zwar seien die Ergebnisse beider Studien im Kern nicht neu, urteilt der Linguist W. Tecumseh Fitch von der Universität von St. Andrews [3]. Der "wichtige Schritt vorwärts" sei jedoch, dass hier eigentlich fachfremde Wissenschaftler die Schranken zwischen den Disziplinen hätten fallen lassen. Um die Prozesse des Sprachwandels quantitativ zu untersuchen, seien die fortschrittlichen Methoden der Bioinformatik und Genetik bestens geeignet.

Hintergrund dieser Einschätzung dürfte sein, dass eine evolutionäre Sichtweise auf Sprachwandel, wie sie den beiden Arbeiten zugrunde liegt, derzeit en vogue ist in der Linguistik: Was die so genannte Memetik für die Erklärung kultureller Entwicklung leistete, sollen entsprechende Abkömmlinge der Genetik nun für die Evolution von Sprachen bewerkstelligen.

Diese Ansätze liefern Forschern die methodischen Grundlagen, um komplexe individuelle Eigenschaften, wie angeborene Grammatikprinzipien, mit gesamtgesellschaftlichen Faktoren – etwa dem Vernetzungsgrad innerhalb eines Gemeinschaft – in Wechselwirkung treten zu lassen. Bemerkenswert einfache Regelmäßigkeiten lassen sich unter dieser Sichtweise ausmachen, wie Liebermans und Pagels Studien deutlich gemacht haben.

Damit wiederum verabschiedet sich das Phänomen Sprache stückchenweise aus der Welt des Nebulösen und erscheint zunehmend berechenbarer. Das hätte sich vor Jahren noch kaum ein Forscher getraut: "to wed" ("heiraten") wird das nächste Verb sein, das sich aus den Reihen der Unregelmäßigen zurückzieht, prognostiziert Lieberman. Wir dürfen gespannt sein.

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