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Chemische Synthese: Vergoldet verändern

Je mehr Stellschrauben ein Molekül hat, desto genauer müssen angesetzte chemische Schraubenschlüssel passen, um es zu etwa Wertvollerem zu machen. Bei großindustriellen Synthesen wird das zu einem besonderen Problem - denn hier dreht ein billiger Katalysator zwar oft kräftig, oft aber auch an allen Schrauben zugleich.
Nitrobenzol zu Anilin
Wenn fünfzig Sachen aufgezählt werden sollen, ohne die sich die Menschheit schwerer täte – wetten, dass bei kaum jemandem "funktionalisierte Aminobenzene" auf der Liste stünde? Zu Unrecht, würde allerdings eine Minderheit unter den Jemands – wahrscheinlich Chemiker – meckern: Anilin-Verbindungen sind schließlich Grundlage von Medikamentenwirkstoffen, Basis wichtiger Kunstoffe, Pflanzenschutzmitteln, Farbstoffe, Beizmittel und Herzstück vielerlei anderer erlesener Feinchemikalien. Sie sind, kurz gesagt, kaum verzichtbar. Leider aber sind sie auch nicht ganz ohne Aufwand aus gut verfügbaren Rohstoffen herzustellen.

Dabei klingt der Weg vom leicht besorgbaren Benzol (dem klassischen, aus sechs Kohlenstoff-Atomen geknüpften aromatischen Ring) zum ersehnten Endprodukt (einem aus sechs Kohlenstoff-Atomen geknüpften aromatischen Ring mit einem zusätzlichen Stickstoffanhängsel) eigentlich ganz simpel: Man bastle Stickstoff in Form einer NO2(Nitro-)-Gruppe an den Ring und reduziere – mit Katalysatorhilfe und Wasserstoff – diese dann zum Amin-Anhängsel NH2: voilá, ein Anilin. Wäre da nicht der "eigentlich"-Teil des "eigentlich simpel": Eigentlich funktioniert das nämlich nur wie geschmiert, wenn am Benzol und zwischenzeitlichen Nitrobenzol nichts anderes stört, was der Reaktion in die Quere kommen könnte.

Denn ein Wasserstoffe anhängendes Reduktionsmittel, welches -NO2 zu -NH2 umformt, macht vor anderen reduzierbaren chemischen Gruppen nicht einfach Halt, nur weil die Chemiker auf der anderen Seite der Reagenzglaswand das gerne so hätten. Hängt etwa ein Kohlenstoff-Seitenarm mit Doppelbindungen als Rest am Nitrobenzol-Zwischenprodukt, dann wird diese ohne Umstände per H-Anhängung zur Einfachbindung gestutzt. Was wiederum schade ist, wenn genau dieser Seitenarm in seiner unveränderten Form entscheidend für die spätere Funktion des entstehenden "funktionalisierten" Anilin-Gesamtkunstwerkes gewesen wäre.

Womit ein klassisches Problem aller Reißbrettmolekülarchitekten umrissen ist: Selektiv nur bestimmte Grüppchen eines Molekülgerüstes zu reduzieren und dabei andere zu verschonen, ist ihr schon ewig gehegter Traum. Avelino Corma und Pedro Serna von der Polytechnischen Universität Valencias glauben nun aber dem erträumten Ziel näher gerückt zu sein. Sie hoffen mit Gold auf einer Titanmatrix drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und katalytische Bedingungen geschaffen zu haben, die gleichzeitig Nitrogruppen zu Aminogruppen reduzieren und Doppelbindungen an Restgruppen verschonen. Außerdem falle bei ihrem Ansatz weniger des giftigen Zwischenproduktes Hydroxylamin an.

Zuerst zu letzterem: Hydroylamine entstehen, sobald eine Nitrogruppe (-NO2) mit Hilfe des reduzierenden Wasserstoffs zunächst zur Nitrosogruppe (-NO) dehydratisiert und dann weiter zum hydroxylierten (Aryl-)Amin (Aryl-NHOH) umgeformt wird. Was noch ekliger sein kann, als es für Nichtchemiker schon allein klingt, denn Hydroxylamine sind giftig, stören durch das Ausbilden farbiger Kondensationsprodukte und neigen fatalerweise zu "exothermer Dekomposition" – vulgo, zur Explosion. Das zwischen Nitrobenzol und Anilin entstehende Hydroxylamin sollte demnach nicht lange unbeaufsichtigt gelassen, sondern möglichst vermieden oder zumindest fix weiter reduziert werden. Leider geschieht genau dies mit bisherigen Katalysatoren als Reaktionshelfern schlecht: Weil eine feste Bindung zwischen Sauerstoff und Stickstoff erst gebrochen werden muss, ist die Reaktion vom Knallfroschzwischenprodukt zum Anilin ausgerechnet der langsamste aller Einzelschritte.

Kein Problem aber offenbar bei der neuen Katalysatormischung von Corma und Serna: Sie vermengten Goldspuren in Titanoxid- oder Eisenoxid-Matrizes und ließen darauf, unter genügender Wasserstoffzufuhr, verschiedene Anilinreaktionen ablaufen – wobei, ein erstes, überraschend positives Resultat, die Umsetzung derart gut gelang, dass der typische Geschwindigkeitsstau des letzten Reaktionsschrittes kaum ins Gewicht fiel – explosive Hydroxylamine fanden sich kaum in den Reaktionsgefäßen. Wichtiger war für die Chemiker aber natürlich die Ausbeute des angestrebten Endproduktes.

Tatsächlich durften sie sich etwas verblüfft über Umsetzungsraten von bis zu 97 Prozent freuen – Anilinbildung unterstützen Gold/Titanoxidkatalysatoren mindestens ebenso gut wie etablierte Kombinationen. Blieb nur die letzte Frage der erhofften Selektivität: Reduziert Wasserstoff in Gegenwart des vergoldeten Kats alle reduzierbaren Gruppen verschiedener Ausgangsproduktes – oder nur, wie gewünscht, die Nitrogruppe?

Letzteres. Im besten Fall werden sogar stolze 97,3 Prozent Selektivität erreicht, vermelden Corma und Serna – was bedeutet, dass der Katalysator nur gut
"Ein wertvolles neues Instrument im Werkzeugkasten"
(Hans-Ulrich Bauer)
zwei Prozent reduzierbarer Gruppen neben den Nitroanhängseln unerwünschterweise mithydrogeniert hatte. Die Chemoselektivität des neuen Gemisches "ist exzellent", schreibt Corma. Und somit sei der Gold/Titan-Kat schon fast serienreif, glauben die Spanier.

Hans-Ulrich Blaser von der in chemischen Synthesen engagierten Solvias AG würde dies gerne glauben: "viel versprechend" und "eine willkommene Zugabe zum Werkzeugkasten des chemoselektiven katalytischen Nitroreduktions-Handwerks" seien die neuen Kat-Mischungen – auch, wenn sie vielleicht schlecht wieder verwendbar und relativ teuer seien [2]. Und ziemlich unerklärlich bleibt ihm auch, wieso die goldige Mischung überhaupt funktioniert, wie sie funktioniert: Bislang war das gelbe Edelmetall eher dafür bekannt, selektiv Doppelbindungen zu hydrogenieren und Nitrogruppen eher links liegen zu lassen. Die Mischung macht's offenbar, denn der neue spanische Kat-Cocktail macht eigentlich genau das Gegenteil. Wenn's trotzdem klappt – warum nicht.
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