Virusmutationen: Warum Wissenschaftler Laborviren ansteckender machen
Mikrobiologen können Viren neue Kräfte verleihen, indem sie Mutationen erzwingen. Doch offensichtlich birgt es Risiken, Krankheitserreger zu verändern – insbesondere wenn es darum geht, sie virulenter, resistenter oder ansteckender zu machen. Schließlich ist es möglich, dass die Mikroben aus dem Labor entkommen, sei es aus Versehen oder mit Hilfe. Warum sollte man sich also überhaupt an solcher Gain-of-function-Forschung versuchen? Ein Argument: Das Virus gezielt zu verändern, bietet die Chance, seine Potenziale zu erkennen, noch bevor es in der Natur mutiert und zu einer Bedrohung für die Menschheit wird.
Die Kontroverse über den Forschungsbereich hat zu akademischen Abhandlungen, Konferenzen und sogar zu einem Moratorium im Jahr 2014 geführt. Damals hatte die US-Regierung die Finanzierung ausgesetzt, bis sich die Sicherheit des Verfahrens gewährleisten ließ. Drei Jahre blieb der Bann bestehen, dann gaben die USA die kontroverse Virenforschung wieder frei. Mit der Corona-Pandemie sind Gain-of-function-Experimente erneut stark in der Diskussion.
Welche Experimente sind eher unproblematisch, welche hochriskant? Was könnte schiefgehen? Und welche alternativen Techniken gibt es? Antworten auf vier grundlegende Fragen:
Was meint Gain-of-function-Forschung genau?
Es gehört zur alltäglichen Forschung, Mechanismen in einem Organismus gezielt zu beeinflussen. Teams nutzen die Möglichkeit von Mäusen bis hin zu Masern. Üblich ist es beispielsweise, Gene von Mäusen so zu verändern, dass mehr von einem bestimmten Protein entsteht, das Fettablagerung minimiert.
Doch das gilt als harmlos. Es ist nicht die Art von Gain-of-function-Experiment, die bei Aufsichtsbehörden Befürchtungen auslöst. Gemeint sind Versuche, in denen Teams Mutationen erzeugen, um zu untersuchen, ob ein Krankheitserreger ansteckender oder tödlicher wird. Man möchte auf diese Weise zukünftige Bedrohungen abschätzen, die Experimente gelten allerdings als hochriskant.
Einige Expertinnen und Experten erkennen an, dass sich diese beiden Ansätze bedeutend unterscheiden. Man sollte sie deshalb auch unterschiedlich benennen. Eine Bezeichnung, die für die bedrohliche Untergruppe dieser Forschung in Frage kommt, ist »potenzielle Pandemieerreger«, sagt Marc Lipsitch, Professor für Epidemiologie an der Harvard T. H. Chan School of Public Health. Dieser Ausdruck »hebt den Namen und den Grund für die Besorgnis hervor«, fügt er hinzu. Er hat sich im allgemeinen Sprachgebrauch jedoch nicht durchgesetzt und liefert bei einer Google-Suche nur etwa 8500 Ergebnisse, verglichen mit 13,4 Millionen für »gain of function«.
Zu differenzieren sei aus mehreren Gründen wichtig, sagt Lipsitch. Als die US-Regierung im Jahr 2014 ein Moratorium für die Gain-of-function-Forschung verhängte, bargen einige der betroffenen Experimente kein offensichtliches Risiko, eine Pandemie auszulösen. Durchführen durften Forscher sie aber nicht mehr.
Was ist der Zweck dieser Experimente?
Zu wissen, was eine Mikrobe gefährlicher macht, ermögliche es, Gegenmaßnahmen vorzubereiten, sagt Lipsitch, der einer von 18 Unterzeichnern eines am 14. Mai 2021 in »Science« veröffentlichten Briefs ist. Die Autorinnen und Autoren fordern, einen Sars-CoV-2-Laborunfall als eine von mehreren möglichen Erklärungen für den Ursprung der Covid-19-Pandemie in Betracht zu ziehen. Lipsitch weist auf die Schwierigkeiten hin, Viren für die Entwicklung von Impfstoffen und Behandlungen zu untersuchen, ohne Experimente an Mäusen oder anderen Tieren durchzuführen. Laut ihm gibt es einen »direkten Weg von der Forschung zum Nutzen für die öffentliche Gesundheit«, der es ermöglicht, zwischen Risiken und potenziellen Nutzen abzuwägen.
Die riskantere Version der Gain-of-function-Forschung verschafft Viren Fähigkeiten, die sie in der Natur nicht haben. In zwei separaten Studien im Jahr 2011 hatten Experimente an einem H5N1-Grippevirus – auch bekannt als Vogelgrippe – zu einer heftigen Kontroverse geführt. Die Forscher hatten die Viren gentechnisch so verändert, dass sie unter Frettchen über die Atemwege – etwa beim Niesen oder Husten – übertragen wurden. Weil der Erreger sich plötzlich von Säugetier zu Säugetier übertrug, war die Besorgnis groß. Auf die Diskussion in Medien, Wissenschaft und Politik folgte ein Moratorium in den USA.
Im Jahr 2015 schufen Forscher einen Hybriderreger, der Merkmale des ursprünglichen Sars-Virus (Sars-CoV) mit denen eines Fledermaus-Coronavirus kombinierte. Sars-CoV hatte in den frühen 2000er Jahren zu einer Pandemie geführt. Die meisten Fledermaus-Coronaviren können die Zellen, die den menschlichen Atemtrakt auskleiden, nicht infizieren. Mit diesem Experiment sollte nachgeahmt werden, was passieren würde, wenn eine dritte Spezies als Mischkessel für den Austausch von genetischem Material zwischen beiden Viren diente. Das Ergebnis war ein Erreger, der in menschliche Zellen eindringen und auch bei Mäusen Krankheiten auslösen kann.
Die Reaktionen auf diese Arbeit waren divers, wie ein Artikel in »Nature« aus dem Jahr 2015 belegt: Ein zitierter Experte sagte damals, die Forschung habe nur ein neues, nicht natürliches Risiko unter vielen bereits existierenden geschaffen. Ein anderer dagegen behauptete, dass sie das Potenzial für dieses Fledermausvirus zeige, eine klare und gegenwärtige Gefahr zu werden.
Angehörige letzteren Lagers argumentieren, dass Gain-of-function-Virusstudien vorhersagen können, was eines Tages in der Natur passieren wird. Die Beschleunigung der Dinge im Labor gibt demnach starke Hinweise darauf, wie sich ein Virus entwickeln könnte. Das wiederum könne helfen, den Erregern einen Schritt voraus zu sein.
»Ich war der Ansicht, dass der Nutzen sehr gering ist, und diese Ansicht vertrete ich immer noch«
Marc Lipsitch, Epidemiologe
Man müsse von Fall zu Fall abwägen, sagt Lipsitch. »Es gibt nicht die eine Antwort, die für alle gilt«, fügt er hinzu. Aber die Schlüsselfrage bei dieser komplexen Berechnung ist: »Ist diese Arbeit so wertvoll für die öffentliche Gesundheit, dass sie das Risiko für die öffentliche Gesundheit bei der Durchführung übertrifft?«
Lipsitch äußerte sich bei der Influenza-Frettchen-Studie »sehr deutlich«, wie er es ausdrückt. Er war es auch, der sich 2014 mit anderen stark für das Moratorium für ähnliche Gain-of-function-Experimente eingesetzt hat. »Ich war der Ansicht, dass der Nutzen sehr gering ist, und diese Ansicht vertrete ich immer noch.«
Das Moratorium wurde im Jahr 2017 aufgehoben. Ein Gremium der US-Regierung genehmigte später die Wiederaufnahme der Finanzierung für weitere Laborstudien, in denen es um Gain-of-function-Modifikationen von Vogelgrippeviren in Frettchen ging. Zu den Bedingungen gehörten Berichten zufolge erweiterte Sicherheitsmaßnahmen und Berichtsanforderungen.
Was Sars-CoV-2 betrifft, das Virus, das im Moment von größtem Interesse ist, haben die NIH am 19. Mai 2021 eine Erklärung veröffentlicht. Demnach hat weder die Agentur noch ihr National Institute of Allergy and Infectious Diseases »jemals eine Förderung genehmigt, die Gain-of-function-Forschung an Coronaviren unterstützt hat, die deren Übertragbarkeit oder Letalität für den Menschen erhöht hätte«.
Was sind die Risiken?
Vorhersagen, die auf Gain-of-function-Studien beruhen, mögen hypothetisch sein, aber Laborunfälle in den USA sind es nicht. Schwer wiegende Unfälle sind ungewöhnlich und haben selten dazu geführt, dass ein Erreger freigesetzt wurde. Doch schon mehrfach gefährdeten Laborunfälle Forscherinnen und Forscher.
Im Jahr 2014 erfuhren etwa 75 Mitarbeiter der U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, dass sie möglicherweise Anthrax ausgesetzt gewesen waren, nachdem Sicherheitsvorkehrungen ignoriert worden waren. Außerdem tauchten mehrere längst vergessene Fläschchen mit gefriergetrockneten Pocken auf – ein Erreger, von dem man lange glaubte, dass er nur an zwei Orten gelagert wird, einem in Russland und einem in den USA –, als die NIH in jenem Jahr ein Kühlhaus aufräumten. Und die CDC machten einen Monat später wieder Schlagzeilen, nachdem sie Fläschchen mit einem relativ harmlosen Grippevirus verschickten, das mit dem viel tödlicheren H5N1-Vogelgrippevirus kontaminiert war. Der mögliche Grund, wie in »Science« berichtet, war, dass ein Forscher überarbeitet war und es eilig hatte, zu einem Labor-Meeting zu kommen.
Auch wenn es sich bei den Vorfällen nicht um Gain-of-function-Pannen handelte, zeigen sie die möglichen Gefahren, die von einem Biosicherheitslabor ausgehen – sei es durch Nachlässigkeit oder Fehlverhalten.
»Wenn die richtigen Sicherheitsverfahren vorhanden sind und es ein angemessenes Containment gibt, lassen sich die Risiken erheblich mindern«
Michael Imperiale, Mikrobiologe
Der Schlüssel zur Planung von Gain-of-function-Studien besteht darin, geeignete Mechanismen zu haben, um die Bedrohung durch versehentliche oder absichtliche Schäden abzuwenden. So steht es in einem Editorial von »mBio« aus dem Jahr 2020. »Wenn die richtigen Sicherheitsverfahren vorhanden sind und es ein angemessenes Containment gibt, lassen sich die Risiken erheblich mindern«, sagt einer der beiden Autoren, Michael Imperiale, Professor für Mikrobiologie und Immunologie und stellvertretender Vizepräsident für Forschung und Compliance an der University of Michigan.
Labore der biologischen Schutzstufe 4 (BSL-4) verfügen über die höchsten Sicherheitsvorkehrungen, und in den USA sind derzeit 13 oder mehr solcher Einrichtungen geplant oder in Betrieb. In Deutschland gibt es vier Laboratorien dieser Art. Die Forschung an dem neuen Coronavirus wird in Laboren eine Stufe tiefer durchgeführt: BSL-3.
Imperiale und sein Koautor Arturo Casadevall, Chefredakteur von »mBIO«, schreiben in ihrem Editorial, dass selbst die Vorhersage des Bedrohungsgrads einer versehentlichen Freisetzung schwierig ist. Nach der Veröffentlichung der Studien zur Frettchen-zu-Frettchen-Übertragung des manipulierten H5N1 versuchten zwei Gruppen zu prognostizieren, was passiert wäre, wenn dieses Virus in die menschliche Bevölkerung gelangt wäre. Ein Team, so schrieben Imperiale und Casadevall, sagte ein »extrem hohes Niveau« der Übertragung voraus. Das andere, von einem der an der Influenza-Frettchen-Studie beteiligten Labors, kam zu einem anderen Schluss.
Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie, so die Autoren des Leitartikels, ändere die Quelle eines Erregers – ob aus der Natur oder aus einem Labor – nichts daran, wie sich die Welt darauf vorbereiten sollte. Aber Gain-of-function-Experimente sollten durch Transparenz bei der Planung der Forschung, eine »Umwidmung« zur Biosicherheit und ein starkes Überwachungsprogramm, um Verstöße zu erfassen, geregelt sein.
Welche alternativen Techniken gibt es, um die Bedrohung von Viren abzuschätzen?
Wenn ein Virus bereits von einem tierischen Wirt auf den Menschen übergegangen ist, könne die Gain-of-function-Forschung unnötig sein, sagt Imperiale. »In diesen Fällen kann es Tiermodelle geben, die als nützlicher Ersatz für den Menschen dienen«, um die Auswirkungen des Virus zu testen, sagt er.
Zudem können Forscherinnen und Forscher untersuchen, inwiefern Virusproteine sich mit verschiedenen Arten von Zellen verbinden. Mit einer Software lässt sich vorhersagen, wie diese Proteine mit verschiedenen Zelltypen wechselwirken oder wie ihre genetischen Sequenzen mit spezifischen Virusmerkmalen in Verbindung gebracht werden könnten. Wenn die Wissenschaftler Zellen in einer Laborschale verwenden, lassen sich die Viren zudem so gestalten, dass sie sich nicht vermehren.
Eine weitere Option ist die »Loss of function«-Forschung. Heißt: Versionen eines Virus mit weniger pathogenem Potenzial schaffen. Allerdings können sich hochpathogene Formen von ihren weniger bedrohlichen Gegenstücken stark unterscheiden – zum Beispiel darin, wie oft sie sich vermehren –, was den Nutzen solcher Studien möglicherweise einschränkt.
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