Vogelgrippe: Das nächste Pandemievirus ist vielleicht schon da
Das nächste Pandemievirus ist vielleicht schon da. Die Geflügelpest, auch Vogelgrippe oder hochpathogene aviäre Influenzaviren (HPAI) genannt, grassiert seit Monaten in vielen Ländern. Auch in Deutschland. Diese Viren könnten eine weitere globale Seuche auslösen, warnen nun Weifeng Shi und George F. Gao von der chinesischen Akademie der Wissenschaften in »Science«. Eine bessere weltweite Überwachung und strenge Maßnahmen zur Eindämmung der HPAI-Viren seien notwendig, schreiben sie.
Die Veröffentlichung sei auch der Versuch eines Weckrufs, um eine weitere Pandemie noch rechtzeitig zu verhindern, sagt Koautor Gao gegenüber »Spektrum.de«. Vor allem der Subtyp H5N8 stelle eine erhebliche Gefahr für die globale öffentliche Gesundheit dar, sagen Gao und Shi. Sie verweisen darauf, dass es in Russland im vergangenen Dezember erstmals auch zu Übertragungen von H5N8 auf Menschen gekommen war. Dort hatten sich sieben Arbeiter mit dem Virus infiziert, als sie nach einem Vogelgrippe-Ausbruch bei der Bergung der Tiere halfen. Auch aus Nigeria wurde seitdem ein weiterer Fall bekannt.
Bisher gibt es aber keine Anzeichen, dass sich das Virus von Mensch zu Mensch verbreitet, der entscheidende Faktor für das Pandemierisiko. Dennoch machten die globale Ausbreitung des auch auf Menschen übertragbaren Virus H5N8 zu einem großen Problem nicht nur für die Geflügelwirtschaft und Wildtiere, sondern auch für die menschliche Gesundheit, glauben die Forscher.
Ob eine durch H5N8 ausgelöste weltweite Pandemie ähnlich verheerende Auswirkungen auf Gesundheit und Weltwirtschaft hätte wie Covid-19, sei zum jetzigen Zeitpunkt schwer einzuschätzen, sagt Studienautor Gao. Grund zur Wachsamkeit gebe es aber ausreichend. Die Überwachung von HPAI-Viren müsse daher sowohl in Geflügelfarmen als auch auf Lebendmärkten und bei Wildvögeln zu einer »globalen Priorität im Bereich des Gesundheitsschutzes« gemacht werden.
Eine halbe Million potenzielle Pandemien
Auf Grund der Covid-Pandemie seien die Prioritäten bei der Überwachung und Analyse von Viren auf die Bekämpfung der aktuellen Pandemie ausgerichtet worden. Die Überwachung von Geflügelfarmen und von Wildvögeln müsse dringend wieder auf das Niveau vor der Covid-Pandemie oder darüber hinaus gebracht werden, fordern die Wissenschaftler.
HPAI-Viren sind kein neues Phänomen. Schon 1959 wurde ein erster Ausbruch in Schottland festgestellt. Möglicherweise gingen auch schon Massensterben von Geflügel im späten 19. Jahrhundert auf HPAI zurück. Dabei ist die Vogelgrippe nur ein weiterer Vertreter jener Gruppe, zu der auch Sars-CoV-2 gehört: den Krankheitserregern tierischen Ursprungs – so genannte Zoonosen –, die zukünftige globale Seuchen auslösen können.
Im vergangenen Herbst trugen zwei Dutzend Fachleute des Weltbiodiversitätsrates IPBES aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über solche Erreger in einem Bericht zusammen. Das Potenzial für neue globale Epidemien schätzen die Wissenschaftler darin als immens ein. Die IPBES-Forscher billigen von den etwa 1,7 Millionen bislang unentdeckten Viren in Wirtstieren wie Vögeln und Säugetieren zwischen einer halben Million und 850 000 ein Pandemiepotenzial zu.
Vor allem die stetige Ausweitung der Land- und Forstwirtschaft und die dahinter stehenden Produktions- und Handelssysteme zerstörten die Natur und erhöhten den Kontakt zwischen Wildtieren, Vieh, Krankheitserregern und Menschen, konstatieren die Experten. »Das ist der Weg zu Zoonosen und Pandemien«, sagte Studienleiter Peter Daszak bei der Vorstellung des Berichts. Schon heute sind Zoonosen ein ernstes Problem der Medizin. Von den in den vergangenen Jahren neu auftretenden Infektionskrankheiten haben 75 Prozent einen tierischen Ursprung. »Wir halten seit 20 Jahren die Warnflagge in die Luft, besonders was Corona-Viren angeht, aber wir wurden zu oft ignoriert«, beklagte Daszak.
Die Gefahr ist schon da
Schon zu Beginn der 2000er Jahre hatte ein Aaviärer Influenzavirus bereits einmal Sorge vor einer weltweiten Ausbreitung verursacht. Damals starben vor allem in Asien hunderte Menschen am Virustyp H5N1. Das derzeit in Europa neben H5N8 und weiteren Subtypen zirkulierende H5N1-Virus ist zwar in einem Gen verwandt, aber in anderen Genen völlig anders als das damals tödliche H5N1-Virus. »Im Ergebnis schafft die neue Viruskonstellation H5N1 nicht mehr den Wirtssprung vom Vogel zum Menschen – glücklicherweise«, sagt die Viren-Expertin des Friedrich-Loeffler-Insituts für Tiergesundheit (FLI), Anja Globig.
Grund zur Entwarnung sehen die chinesischen Wissenschaftler dadurch aber nicht. Die neuen HPAI-Viren hätten sich im Aufmerksamkeitsschatten der laufenden globalen Covid-19-Pandemie im vergangenen Jahr in vielen Ländern der Erde stark ausgebreitet, schreiben sie. In inzwischen mindestens 46 Ländern in Europa, Asien und Afrika seien H5N8-Infektionen sowohl bei Wildvögeln als auch bei Geflügel festgestellt worden.
»Wir brauchen mehr Forschung, um in dieser Sache wachsam zu bleiben«George F. Gao
In Deutschland treten seit Ende Oktober nach einer Übersicht des FLI wieder verstärkt die Subtypen H5N5 und H5N8 auf. Das dem Bundeslandwirtschaftsministerium unterstellte Institut listet aktuell seit Ende Oktober etwa 1200 Fälle bei Wildvögeln und knapp 250 Ausbrüche bei Geflügel auf. 14 Bundesländer sind demnach betroffen. Europaweit meldeten 20 Länder Ausbrüche oder Fälle bei Wildvögeln. Unter Wildvögeln war das Wattenmeer Ende vergangenen Jahres ein Schwerpunkt des Infektionsgeschehens: Nationalparkranger mussten täglich in dicke Gummianzüge und mit schweren Atemschutzmasken ausschwärmen, um verendete Weißwangengänse, Pfeifenten, Alpenstrandläufer oder auch Wanderfalken und Seeadler zu bergen.
Wie sich die Tiere angesteckt haben, ist umstritten. Das FLI geht davon aus, dass bei den bisherigen Ausbrüchen Zugvögel die Viren auf ihrem Weg möglicherweise aus Zentralasien mitgebracht haben, wo zuvor Ausbrüche registriert wurden. Auch Gao sieht in Wildvögeln den Ursprung, mahnt aber zugleich, dass andere Faktoren eine wichtige Rolle bei der Verbreitung spielten. »Wir brauchen mehr Forschung, um in dieser Sache wachsam zu bleiben«, sagt Gao. Auch die Geflügeltransporte zwischen den Ländern seien ein wichtiger Faktor, auch wenn diese schwierig zu begrenzen seien, sagt Gao.
Welche Rolle spielt die Tierhaltung?
Der Biogeograf und Ornithologe Peter Petermann, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt, bezweifelt dagegen die Zugvogel-Hypothese. Viel naheliegender sei die Verbreitung über die Geflügelindustrie, argumentiert er. Die Möglichkeit der Verbreitung bei den Geflügeltransporten werde aber möglicherweise aus Rücksichtnahme auf den wichtigen AgrarwWirtschaftszweig weitestgehend ausgeklammert, kritisiert Petermann auch an die Adresse des FLI. »Es wird zu wenig untersucht, wie die Ausbreitungswege in der Geflügelwirtschaft wirklich sind.«
Petermann sieht beispielsweise in Geflügeltransporten auf der Straße gefährliche Übertragungswege. Durch die notwendige Belüftung für die dicht gedrängt eingepferchten Tiere entstünden auch ideale Bedingungen für die Verbreitung von Viren über große Entfernungen. Auch am Straßenrand verstreute Federn aus den Transporten quer durch Europa seien ideale Wege zur Weiterverbreitung. Ein weiteres Problem entstehe, wenn ein Ausbruch nicht erkannt werde und die toten Hühner oder Puten im Zuge der Entsorgung beispielsweise zu Dünger oder Fischfutter weiterverarbeitet würden.
Dass durch Geflügelhandel quer durch die Republik und darüber hinaus Superspreader-Events entstehen können, ist belegt. Das nordrhein-westfälische Umweltministerium beispielsweise hat die Infektionskette nachverfolgen lassen, die durch einen Betrieb im Kreis Paderborn ausgelöst wurde. Das Unternehmen hatte gut 150 Legebetriebe in Thüringen, Baden-Württemberg und Bayern per Lkw beliefert. In jedem dritten der Betriebe wurden anschließend Fälle von Vogelgrippe festgestellt.
Auch Ausbrüche in anderen Ländern könnten ihren Ursprung Petermann zufolge in Deutschland oder anderen Hochburgen des Geflügelexports wie die Niederlande haben. So versorge ein einziges Unternehmen mehr als 100 Länder mit Eintagsküken. »Kommen in so einen Betrieb die Viren, können innerhalb von Stunden dutzende Länder verseucht werden.« Die Zugvögel seien mithin Opfer und nicht Verursacher der Übertragungen, glaubt der Ornithologe. »Man kann immer sagen, hypothetisch kommt es über den Vogelzug, denn es gibt zu jeder Jahreszeit irgendwo Vogelzug«, sagt Petermann. »Aber das ist kein Beweis.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.