Wärmewende: Heizen mit der U-Bahn
Welche Eigenschaften fallen Ihnen zu Tunneln ein? Als Erstes vermutlich ganz allgemein, dass sie Orte auf schnellstem Weg verbinden. Wer gelegentlich in Metropolen unterwegs ist, weiß: In Form von U-Bahn-Netzen entzerren sie dort den Verkehr erheblich. Und sie sind furchtbar teuer. Manchen von Ihnen dürften die Bauwerke sogar unheimlich sein. Doch wären Ihnen Tunnel als Wärmequelle in den Sinn gekommen? Tatsächlich könnten Untergrundbauten zur Wärmewende beitragen, dem klimaneutralen Heizen von Gebäuden.
Es gibt inzwischen einige Beispielprojekte an U-Bahnen, Eisenbahntunneln sowie Tiefgaragen, die das verdeutlichen. Hinzu kommen viele weitere Ideen, um die Wärme in Kabeltunneln oder unterirdischen Trafostationen abzugreifen. Der Weg in die Praxis erweist sich indes als schwierig, obwohl die Technik nach Ansicht von Fachleuten einsatzbereit ist.
Das lässt sich seit dem Jahr 2020 im Londoner Stadtteil Islington sehen: Die Abwärme aus dem U-Bahn-Tunnelsystem wird an einem Lüftungsschacht aufgenommen und in ein lokales Netz eingespeist. Gut 1300 weitere Haushalte werden so mit Heizleistung und heißem Wasser versorgt.
Wärmequelle ist nicht nur der Untergrund an sich, wie er bei der »flachen Geothermie« erschlossen wird, die Erdwärme ohne tiefe Bohrungen nutzt. In Tunneln kommt nämlich noch die Abwärme der Zugbremsen hinzu, die vor jeder Station betätigt werden, sowie die Körpertemperatur der Reisenden (auch wenn diese nur untergeordnet eine Rolle spielt). Gerade die Londoner »Tube« hat sich so streckenweise ein veritables Hitzeproblem geschaffen. In schmalen Tunneln, die schlecht durchlüftet sind, staut sich die Energie und hat über Jahrzehnte hinweg sogar das Erdreich hinter den Wänden erwärmt. Das macht die Tube winters zu einem angenehmen Ort – im Sommer kann sie jedoch unerträglich werden.
Mit einer Wärmepumpe ins Quartier
Eine Gegenmaßnahme gegen die Hitze sind Schächte, über die warme Luft nach draußen geführt wird – ungenutzt. Nicht so in Islington. Dort wird sie am Bunhill 2 Energy Centre über einen Wärmetauscher geschickt; eine Wärmepumpe hebt die Temperatur weiter an, damit das Quartiernetz versorgt werden kann.
»Im gesamten U-Bahn-Netz kommen schätzungsweise 500 Gigawattstunden Wärme im Jahr zusammen«, sagt Henrique Lagoeiro von der London South Bank University, der zu erneuerbaren Wärmequellen forscht. Rund 290 Gigawattstunden ließen sich an Lüftungsschächten gewinnen. »Ganz London benötigt allerdings 70 Terawattstunden Wärme, allein mit der U-Bahn würde man weniger als ein Prozent schaffen«, erklärt der Wissenschaftler. »Auf lokaler Ebene kann das aber sehr interessant sein, wie in Bunhill zu sehen ist.«
Dort trafen einige Ereignisse glücklich aufeinander: Die Verkehrsbehörde Transport for London musste den Schacht ohnehin erneuern, was der Wärmegewinnung eine Chance bot. Zum anderen sollte das Nahwärmenetz in Islington erweitert werden, wie Lagoeiro berichtet. Obendrein gab es Fördermittel für die Umstellung auf eine fossilfreie Versorgung. Dennoch, so der Forscher, war es schwierig, alle Beteiligten vom Schienen- bis zum Wärmenetz zusammenzubringen und zu halten. »Es war riskant, denn es ging um eine neue technologische Anwendung, die obendrein teuer war – gerade im Vergleich zu Erdgas, das in Großbritannien billig ist.« Transport for London hatte bereits weitere Standorte identifiziert, bei denen ein ähnlicher Ausbau machbar erschien. Doch mit der Pandemie kam das Programm vorerst zum Stehen.
Auch in Paris wird die Wärme aus der Metro bereits genutzt. In der Rue de Beaubourg wird ein Gebäude für soziales Wohnen unter anderem mit der Abwärme der Bremsen und Pendelnden beheizt. In anderen Städten wird ebenfalls über diese Möglichkeit diskutiert, in einigen gibt es bereits Pilotprojekte, darunter in Melbourne und Lausanne.
Pilotvorhaben in Berlin gestoppt
Berlin hätte ebenso Potenzial, wie aus einer Analyse vom September 2023 hervorgeht. Die U-Bahn-Linien könnten demnach als Abwärmequelle rund 460 Gigawattstunden liefern, was fast dem Vierfachen der vorhandenen Rechenzentren entspricht.
Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) haben zwei Pilotstandorte ausgewählt, doch die Wärmegewinnung im bestehenden Netz erweist sich als kompliziert. An der einen Station fand sich zwar Platz, um eine Wärmepumpe aufzustellen, aber es fehlte an Öffnungen, um diese mit neuer Luft zu versorgen und alte abzuführen, teilt die BVG mit. An der zweiten Station, unter einem Kaufhaus gelegen, ist das Projekt in der Planungsphase eingefroren worden. Nach Informationen, die dem Autor vorliegen, hängt dies mit der Pleite des Signa-Konzerns zusammen.
»Es geht nicht nur um die anfänglichen Investitionen, sondern auch um laufende Betriebskosten«Sebastian Blömer, Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg
Neben den technischen und juristischen Schwierigkeiten müssen Projektentwickler genau auf die Kosten achten. »Es geht nicht nur um die anfänglichen Investitionen wie Leitungen und Wärmetauscher, sondern auch um laufende Betriebskosten, vor allem Strom«, sagt Sebastian Blömer vom Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu), Mitverfasser der Analyse für das Land Berlin. Verglichen mit Gaskraftwerken, die für eine Kraft-Wärme-Kopplung ausgelegt sind, schnitten Wärmequellen im Untergrund wirtschaftlich schlechter ab. Einerseits seien die Gaspreise gering, andererseits die Strompreise hoch; die Politik versuche mit Quoten für erneuerbare Wärme und steigenden CO2-Preisen gegenzusteuern, erläutert der Geoinformatiker. »Das wird nicht genügen, es müssen zudem die Strombezugskosten für Wärmepumpen sinken.«
Konkurrenz durch Rechenzentren und Kläranlagen
So genannte niedrig temperierte Wärmequellen stärker zu nutzen, hält Blömer für wichtig. Um den Anteil fossiler Brennstoffe rasch zu verringern, würde er das Augenmerk jedoch auf Rechenzentren oder Kläranlagen legen. »Das sind große Quellen, die leicht zu erschließen sind.« Zumal gerade Rechenzentren vielfach erst jetzt gebaut werden und die thermische Nutzung von Beginn an eingeplant werden kann – anders als bei nachgerüsteten Systemen in alten U-Bahn-Schächten. Dennoch befindet Blömer: »Ein Potenzial ist auch dort vorhanden, das sollte jetzt in Pilotvorhaben ausprobiert werden.«
In neu errichteten U-Bahn-Tunneln ist es offenkundig einfacher, die Wärme zu gewinnen. Während des Baus werden – wie bei einer Fußbodenheizung – Leitungen in der Betonschale verlegt, durch die später Wasser zirkuliert und die Umgebungswärme aufnimmt. Forscher der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) haben für die künftige Metrolinie M3 der Stadt berechnet, wie viel Heizleistung zu gewinnen wäre. Das Ergebnis: Würden 60 000 Quadratmeter der Tunneloberfläche entsprechend ausgerüstet (rund die Hälfte der geplanten Bauten), ließen sich 1500 Appartments versorgen. Details zu dem Konzept hat das Team in einer Fachveröffentlichung im August 2019 dargelegt. Ob die M3 wirklich so gebaut wird, sei noch nicht entschieden, sagt Lyesse Laloui von der EPFL.
»Betreiber einer Metrolinie achten darauf, die Personenbeförderung zu verbessern, das ist ihr politischer Auftrag. Die energetische Nutzung haben sie bisher kaum im Blick«Lyesse Laloui, École Polytechnique Fédérale de Lausanne
Laloui ist einer der Pioniere für die Nutzung der Untergrundwärme und hält das Verfahren für technisch ausgereift. Warum es dennoch kaum eingesetzt wird, erklärt er folgendermaßen: »Betreiber einer Metrolinie achten darauf, die Personenbeförderung zu verbessern, das ist ihr politischer Auftrag. Die energetische Nutzung haben sie bisher kaum im Blick.« Zudem sei es mit der Installation nicht getan. Die Anlage muss über Jahrzehnte hinweg betrieben werden. Das sei ein neues Feld für Verkehrsunternehmen, vor dem sich manche scheuen.
Ähnlich argumentiert Christian Moormann von der Universität Stuttgart, der ebenfalls zur »Tunnelgeothermie« forscht. 2010 ließen er und seine Kollegen im Stadtbahntunnel für die Linie U6 im Stuttgarter Stadtteil Fasanenhof Plastikrohre in die Betonwand einbetten. Die Tests bestätigten die Modellrechnungen: Pro Quadratmeter können 20 bis 40 Watt Wärme gewonnen werden. Die Technologie sei laut Moormann einsatzbereit. Einzelne Beispiele wie der Eisenbahntunnel Jenbach in Tirol zeigen das. Dort wird damit der kommunale Bauhof beheizt.
»Oft waren die Planungen für große Bauvorhaben zu weit fortgeschritten, um die thermische Nutzung zu berücksichtigen«Christian Moormann, Universität Stuttgart
Dass die Technik noch immer eine Ausnahme ist, begründet Moormann so: »Bisher kam sie oft zu spät, die Planungen für große Bauvorhaben waren zu weit fortgeschritten, um die thermische Nutzung zu berücksichtigen.« Das ist auch beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 der Fall. Moormann setzt auf einen Bewusstseinswandel. »Wenn heute neue Gebäude geplant werden, dann nie ohne Wärmepumpe«, führt er aus. »Das wird hoffentlich auch bei Tunnelbauten so kommen, dass diese Technologie mitgedacht wird.«
Wärme fürs Elefantenhaus und eisfreie Brücken
Immerhin, einige Fortschritte gibt es. Der Stuttgarter Rosensteintunnel für die Bundesstraße 10 ist bereits thermisch aktiviert worden, um das neue Elefantengehege im nahen Zoo mit Wärme zu versorgen. Allerdings verzögert sich der Bau des Elefantenhauses und damit die Inbetriebnahme der Anlage.
Weiterhin soll die Bundesautobahn 8 zwischen Ulm und Stuttgart am Albaufstieg ausgebaut werden. Ein geplanter Tunnel wird ebenfalls mit wasserführenden Kunststoffleitungen in Wand und Sohle versehen, um Wärme zu gewinnen – die nach einem Temperaturhub mittels Wärmepumpe in die zwei Talbrücken geleitet wird, gewissermaßen als Fußbodenheizung. »Damit werden die frostanfälligen Brücken eisfrei gehalten«, erklärt Moormann.
Was im Großen funktioniert, geht ebenso im Kleinen, meinen die Stuttgarter Wissenschaftler. Aktuell erforschen sie Abwasserrohre, die von einer dünnen Wasserleitung umhüllt sind. Wie bei einem Straßentunnel kann so gleichzeitig die Wärme aus dem Inneren wie auch des umgebenden Untergrunds aufgenommen werden. Sie soll dann in ein lokales Wärmenetz eingespeist werden.
Nachrüstsets für diverse Bauwerke
Es gibt viele weitere Untergrundbauten, die angezapft werden können, beispielsweise Tunnel für Stromkabel. In London sind sie zweieinhalb Meter hoch, damit sich Montageteams darin bewegen können. Zu deren Schutz darf die Temperatur höchstens 44 Grad Celsius betragen, erzählt Gareth Davies von der London South Bank University. »Um die Tunnel zu kühlen, wird Luft zirkuliert. Die könnte man am Auslass nutzen, wie bei der U-Bahn.« Auch unterirdische Trafostationen wären potenziell brauchbare Wärmequellen, schreiben Davies und Kollegen in einer Publikation vom November 2023. Positiver Nebeneffekt: Die elektrischen Einrichtungen leiten mehr Strom und haben eine längere Lebensdauer, wenn sie nicht so heiß werden.
Selbst Tiefgaragen können als Wärmequelle dienen. Enerdrape, ein Start-up aus Lyesse Lalouis Team, hat dazu Panels entwickelt, die auf die Wände geschraubt werden. Sie bestehen im Wesentlichen aus einer langen, gewundenen Leitung für Wasser, das die Wärme aufnimmt, messen 1,4 mal 0,7 Meter und sind weniger als einen Zentimeter flach. Sie werden miteinander verbunden, um eine große Kollektorfläche zu schaffen. Auch ein Tunnel für Heizleitungen unter der Universität von Chicago wurde mit solchen Platten ausgerüstet. Damit sollen weitere Anwendungen getestet werden. Ursprünglich wurden die Module entwickelt, um Tunnel und U-Bahn-Stationen damit nachzurüsten. Das ist bisher nicht geschehen, bleibt aber erklärtes Ziel, teilt Anaëlle Burnand von Enerdrape mit. Denn: »Die Potenziale am Markt und als Beitrag für den Klimaschutz sind enorm.«
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