Direkt zum Inhalt

Evolution: Warum gibt es so viele Käfer?

Käfer existieren in beispielloser und schier unüberschaubarer Vielfalt. Das dürfte maßgeblich auf die Ernährungsstrategien der Insekten zurückgehen.
Eine Sammlung bunter tropischer Käfer
Käfer sind wahrscheinlich vor mehr als 300 Millionen Jahren im Karbon entstanden. In der Kreidezeit, als sich die Blütenpflanzen diversifizierten, nahm ihre Artenvielfalt explosionsartig zu. Fachleute nehmen an, dass zwischen beiden Entwicklungen ein ursächlicher Zusammenhang bestand.

Caroline Chaboos Augen leuchten, wenn sie von Schildkäfern spricht. Es gibt diese Tiere in zahlreichen schillernden Farben: leuchtend blau, rot, orange, blattgrün oder transparent mit goldenen Sprenkeln. Schildkäfer sind eine Unterfamilie der rund 50 000 Spezies umfassenden Familie der Blattkäfer (Chrysomelidae), einer der artenreichsten innerhalb der Ordnung Käfer (Coleoptera). »Blattkäfer dominieren zusammen mit Rüssel- und Bockkäfern die überwältigende Vielfalt der Coleoptera«, erläutert Chaboo.

Die Entomologin von der University of Nebraska in Lincoln fragt sich schon seit Langem, weshalb die Gruppe der Käfer derart stark innerhalb des Tierreichs vertreten ist: Die gepanzerten Insekten stellen rund ein Viertel sämtlicher Tierarten! Schon Charles Darwin rätselte, woher diese Überdominanz rührt – ebenso wie zahllose weitere Biologinnen und Biologen.

Unter den etwa eine Million bekannten Insektenarten gehören 400 000 zu den Käfern. Und das sind nur die bisher beschriebenen. Jedes Jahr werden tausende weitere Coleoptera-Spezies entdeckt. Warum gibt es so viele? »Die genaue Antwort kennen wir nicht«, räumt Chaboo ein. Aber die Hinweise auf des Rätsels Lösung verdichten sich.

Einer Hypothese zufolge sind die Käfer so zahlreich, weil sie schon sehr lange existieren. »Diese Tiergruppe ist 350 Millionen Jahre alt«, sagt Duane McKenna, Evolutionsbiologe und Entomologe an der University of Memphis in Tennessee. Das ist eine beträchtliche Spanne, in der Spezies jede Menge Zeit haben, sich evolutionär aufzuspalten und ein breites Artenspektrum hervorzubringen. Zum Vergleich: Der moderne Mensch erschien vor gerade einmal rund 300 000 Jahren.

Käfer-Anatomie | Trotz ihrer riesigen Vielfalt besitzen die meisten Käfer den gleichen dreiteiligen Körperbau. Ihre empfindlichen Flügel falten sie unter schützende Deckplatten, so genannte Elytren. Das erlaubt es ihnen, sich durch enge Gesteinsspalten zu quetschen oder sich in Holz hineinzubohren, ohne die Flügel zu verletzen. Dank verschiedenster evolutionärer Anpassungen sind sie in der Lage, sehr unterschiedliche Lebensräume zu besiedeln, was zu ihrem enorm großen Artenspektrum beiträgt.

Doch nur weil es eine Tiergruppe schon sehr lange gibt, bedeutet das nicht automatisch, dass sie deshalb auch mehr Arten umfasst. In einigen uralten Gruppen finden sich nur sehr wenige. Quastenflosser beispielsweise schwimmen seit etwa 360 Millionen Jahren durch die Meere; sie umfassten nie mehr als 90 Arten, und heute existieren nur noch zwei.

Anpassungsfähige Überlebenskünstler

Ein weiterer Ansatz, um den Artenreichtum der Käfer zu erklären, verweist auf ihr ungewöhnliches Beharrungsvermögen. »Sie haben mindestens zwei Massenaussterben überlebt«, sagt Cristian Beza-Beza, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of Minnesota. Aus einer Studie von 2015, in der weit zurückliegende Aussterbeereignisse anhand von Käferfossilien untersucht wurden, geht hervor: Solche Krisen weitgehend unbeschadet zu überstehen, war für die heutige Vielfalt dieser Insekten mindestens ebenso wichtig wie ihre evolutionäre Auffächerung (»Radiation«). Zumindest in der Vergangenheit bewiesen die Coleoptera eine bemerkenswerte Fähigkeit, ihre Verbreitungsgebiete an klimatische Veränderungen anzupassen, was möglicherweise erklärt, warum sie von Massenaussterben relativ wenig betroffen waren.

Einige Zweige des Käferstammbaums sind artenreicher als andere. Mistkäfer etwa, deren namensgebendes Merkmal es ist, Kotkugeln zu rollen, gibt es vergleichsweise wenige. »Sie umfassen etwa 8000 Arten, es ist also keine allzu große Gruppe«, sagt der Ökologe Jorge Ari Noriega von der Universität El Bosque in Bogotá, Kolumbien. Die Überfamilie Chrysomeloidea hingegen, zu der neben den Blatt- auch die Bockkäfer gehören, weist 63 000 Spezies auf. Die Buprestidae wiederum, metallisch schimmernde Holz- und Blattbohrer, die wegen ihrer schönen Farben als Prachtkäfer bekannt sind, zählen rund 15 000 Arten.

Von den Pflanzen profitiert

Diese großen Unterschiede bedeuten, dass »es keine universelle Erklärung für die Breite des Artenspektrums gibt, die auf all jene Gruppen gleichermaßen zutrifft«, sagt McKenna. Doch zeichnet sich bei Pflanzen fressenden (»herbivoren«) Käfern, die etwa ein Viertel aller Coleoptera-Spezies ausmachen, mittlerweile ein klares Muster ab. Mittels genetischer Analysen haben McKenna und seine Kollegen Hinweise darauf gefunden, dass die Ausbreitung der Blütenpflanzen während der Kreidezeit entscheidend zur Käfervielfalt beigetragen hat.

Lebende Schmuckstücke | Die vielgestaltigen Schildkäfer (Cassidinae) sind eine Unterfamilie der Blattkäfer (Chrysomelidae), einer besonders artenreichen Gruppe. Viele ihrer Vertreter haben schillernde Farben, wie die hier beispielhaft gezeigten Exemplare.

Zu Beginn der Kreidezeit vor etwa 145 Millionen Jahren explodierte die Zahl der Blütenpflanzen weltweit, und die Gewächse besiedelten die unterschiedlichsten Habitate. Heute stellen Pflanzen etwa 80 Prozent der gesamten irdischen Biomasse. Sich von ihnen zu ernähren, ist eine ökologische Strategie, die nicht nur die Artenaufspaltung der Käfer, sondern auch jene von Ameisen, Bienen, Vögel und Säuger begünstigt hat.

Wie McKenna und sein Team nachgewiesen haben, besitzen herbivore Käfer ein großes Repertoire an Genen, die es den Insekten ermöglichen, Pflanzen zu verdauen. Viele dieser Erbanlagen codieren für Enzyme, die Zellwände von Pflanzenzellen abbauen. Mit deren Hilfe schließen die Insekten den Zucker auf, der in Zellulose, Hemizellulose und Pektin enthalten ist. »Coleoptera-Linien, die über solche Gene verfügen, waren evolutionär besonders erfolgreich«, sagt McKenna.

Auf zu neuen Habitaten

Die Fähigkeit, schwer verdauliche Pflanzenteile in Nährstoffe zu verwandeln, erschloss den Käfern ganz neue ökologische Nischen. Indem sie immer weitere Gewächse ihrem Speiseplan hinzufügten, war es ihnen möglich, in zuvor unerschlossene Lebensräume vorzustoßen. Während sie sich geografisch verbreiteten und dabei zahlreiche verschiedene Ernährungs- und Verhaltensweisen entwickelten, nahmen die genetischen Unterschiede zwischen ihnen zu, was schließlich in die Entstehung neuer Arten mündete.

Aus unbekannten Gründen haben manche Pflanzen fressenden Käfer jene Enzyme, mit denen sie Pflanzenmaterial verdauen konnten, zum Teil wieder verloren, weil die entsprechenden Gene durch Mutationen inaktiviert wurden. Ein Beispiel dafür ist die Erbanlage für das Enzym Pektinase, das den Abbau des Vielfachzuckers Pektin ermöglicht. Der Evolutionsökologe Hassan Salem vom Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen erklärt, dass einige Coleoptera eine Strategie entwickelt haben, um den Enzymverlust auszugleichen: Sie gingen symbiotische Beziehungen mit Bakterien ein, die ihnen bei der Verdauung von pflanzlicher Biomasse halfen.

Symbiotische Mikroben wurden für viele Käfer zum alternativen Werkzeug, das es ihnen weiterhin erlaubte, Gewächse zu verzehren

Symbiotische Mikroben wurden für viele Käfer zum alternativen Werkzeug, das es ihnen weiterhin erlaubte, Gewächse zu verzehren. Die Erschließung neuer Habitate setzte sich auf diese Weise fort, was die Entstehung und Verbreitung neuer Arten förderte. Die meisten Schildkäferarten beispielsweise – jene Insektengruppe, mit der sich Salem beschäftigt – bauen Pektin mit Hilfe bakterieller Partner statt selbst produzierter Enzyme ab. Die Sechsbeiner erhalten die nützlichen Bakterien von ihren Müttern: Wenn Weibchen Eier ablegen, versehen sie diese über Vaginalschläuche mit mikrobenhaltigen Häubchen. Schlüpft die Larve aus dem Ei, frisst sie sich durch die Eischale und verschlingt dabei die Symbionten. Als das Team um Salem die Häubchen experimentell von den Eiern entfernte, so dass die Insektenlarven keinen Zugriff mehr darauf hatten, starben die aus ihnen hervorgehenden, keimfreien Käfer großteils ab, weil sie das pflanzliche Pektin in Blattnahrung nicht mehr verdauen konnten.

Feinde auf Abstand

Mikroben haben den Käfern nicht nur bei der Verdauung von Pflanzen geholfen. Sie könnten sie zudem vor Fressfeinden geschützt und so zur weiteren Diversifizierung beigetragen haben. Auf Puppen des Schildkäfers Chelymorpha alternans beispielsweise gedeihen während der Metamorphose bestimmte Schlauchpilze aus der Gattung Fusarium. Diese Pilze befallen häufig auch Bananen und Süßkartoffeln. »Wir haben festgestellt, dass die Käferpuppen häufiger von Ameisen gefunden und gefressen werden, wenn man die Schlauchpilze von ihnen entfernt«, erzählt Aileen Berasategui, Evolutionsbiologin am Amsterdam Institute for Life and Environment in den Niederlanden. Mit anderen Worten: Dass Fusarium die potenziellen Fressfeinde des Käfers auf Abstand hält, trägt vermutlich dazu bei, dass Chelymorpha alternans sich besser vermehren und ausbreiten kann.

Vom Ei zum Käfer | Der große evolutionäre Erfolg der Käfer hat vermutlich mit ihrem Lebenszyklus zu tun. Während der Metamorphose besetzen sie unterschiedlichste ökologische Nischen. Dadurch sind sie in der Lage, diverse Habitate und Ressourcen zu nutzen, während sie vom Ei zur Larve, dann zur Puppe und schließlich zum adulten Tier reifen.

Berasategui ergänzt, dass der Ambrosiakäfer und viele weitere Borkenkäfer-Arten ebenfalls von Fusarium profitieren, allerdings aus einem anderen Grund. Sie transportieren die Schlauchpilze in taschenförmigen Organen namens Mycetangien von Baum zu Baum. So sorgen sie dafür, dass die Pilze weitere Bäume infizieren, was ihnen zugutekommt, denn sie ernähren sich von Fusarium-Kolonien. Die Borkenkäfer praktizieren somit eine Art Landwirtschaft, die ihnen hilft, neue Lebensräume zu erobern. »Sie legen an ihrem neuen Siedlungsplatz einen neuen Pilzgarten an, der ihre Versorgung sichert«, sagt Berasategui.

Diese so genannte Fungikultur hat sich bei Ambrosiakäfern siebenmal unabhängig voneinander entwickelt. Die für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft hat vermutlich dazu beigetragen, dass neue Arten entstanden sind. Verschiedene Ameisen- und Termitenspezies haben binnen der zurückliegenden 50 Millionen Jahre ebenfalls das Verhalten entwickelt, Fungikulturen anzulegen, wie eine Forschungsgruppe um Ted Schultz vom National Museum of Natural History in Washington in einer Übersichtsarbeit dargelegt hat.

Fäkalschilder könnten Käfern geholfen haben, in offenere Lebensräume vorzudringen

Bei Pflanzen fressenden Käfern sind noch weitere evolutionäre Entwicklungen hinzugekommen, die es ihnen ermöglicht haben, sich stärker zu spezialisieren als andere Käfergruppen. Bei den Blattkäfern, die Caroline Chaboo erforscht, fällt beispielsweise das Auftreten von »Fäkalschildern« – Verteidigungsstrukturen, die aus Exkrementen und abgestreiften Teilen des Exoskeletts bestehen – »mit einer starken Artenauffächerung zusammen«, wie die Entomologin darlegt. Bei den meisten Käfern, die Fäkalschilder nutzen, handelt es sich um einzelgängerische Spezies, doch manche leben auch in Gruppen und bilden Formationen, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Fäkalschilder könnten ihnen geholfen haben, in offenere Lebensräume vorzudringen, vermutet Chaboo.

Unabhängig davon, ob sie Pflanzen fressen oder sich andere Nahrungsquellen wie Aas erschlossen haben, verfügen die Käfer aller Gruppen über eine beeindruckende Palette an Werkzeugen, um die verschiedensten Probleme zu lösen. Doch so widerstandsfähig sie auch sind, ihr Überleben ist nicht selbstverständlich. An vielen Orten gehen die Insektenpopulationen zurück, »und ja, das betrifft ebenfalls Käfer«, sagt Beza-Beza. Wie sie das menschengemachte Artensterben überstehen werden, ist »eine entscheidende Frage«, fügt er hinzu – und wettet trotzdem darauf, dass es Käfer auf der Erde »länger geben wird als Menschen«.

Die Tricks der Käfer

Im Zuge der Evolution haben Käfer beeindruckende Fähigkeiten entwickelt. »Sie haben Lösungen für Probleme gefunden, an denen Menschen scheitern«, sagt die Entomologin Marianne Alleyne. In ihrem Labor für bioinspiriertes Design an der University of Illinois in Urbana-Champaign erforscht sie die Merkmale der Käfer zusammen mit Ingenieuren und Robotik-Experten. Zu den verblüffendsten evolutionären »Innovationen« zählen die spektakulären Sprünge von Schnellkäfern (Elateridae), die sich mehr als 20 Körperlängen nach oben in die Luft katapultieren, ohne dafür ihre Beine zu benutzen; sie bewegen dafür Teile ihres Exoskeletts.

Die Forscherinnen und Forscher haben mit Hilfe von Röntgenaufnahmen herausgefunden, dass die Tiere den Fortsatz einer brustseitigen Chitinplatte in ein Widerlager des Außenskeletts einrasten lassen und dann mit großen Muskeln eine Kraft darauf ausüben, um mechanische Spannung aufzubauen. Wenn der Fortsatz schließlich hinter das Widerlager rutscht, wird die aufgebaute Energie explosionsartig freigesetzt. Mit einem »Klick« schnellt das Insekt dann nach oben und bewegt sich dabei, »100-mal schneller als ein Wimpernschlag«, wie die Raumfahrtingenieurin Aimy Wissa von der Princeton University beschreibt.

Ein ähnlicher Mechanismus treibt die bei Kindern beliebten Hüpf-Popper-Spielzeuge an: Potenzielle Energie, etwa von Federn oder verformten Gummi-Teilen aufgebaut, wird schlagartig in kinetische umgewandelt, was das Spielzeug in die Höhe katapultiert. Ophelia Bolmin, Maschinenbauingenieurin an der Carnegie Mellon University, legt dar, dass die Schnellkäfer damit Maximalbeschleunigungen erreichen, die das 300-Fache der Erdbeschleunigung übersteigen. Marianne Alleyne hofft, dass die Biomechanik der Insekten dabei helfen kann, beinlose Sprungroboter zu entwickeln.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

  • Quellen

Berasategui, A. et al.: The leaf beetle Chelymorpha alternans propagates a plant pathogen in exchange for pupal protection. Current Biology 32, 2022

Salem, H. et al.: Symbiont digestive range reflects host plant breadth in herbivorous beetles. Current Biology 30, 2020

Smith, D., Marcot, J.: The fossil record and macroevolutionary history of the beetles. Proceedings of the Royal Society B 282, 2015

Schultz, T. et al.: The evolution of agriculture in insects. Annual Reviews of Ecology, Evolution, and Systematics 26, 2005

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.