Landwirtschaft: Rinderpsychologie: Wie tickt die Kuh?
Am Weidezaun flattern die Reste einer Plastiktüte im Wind. Läuft eine Kuh in der Nähe vorbei, bleibt sie fast unweigerlich stehen und betrachtet den bunten Fetzen mit ihrem linken Auge. Erst nach einer genauen Inspektion hakt das Tier das fremdartige Objekt offensichtlich als ungefährlich ab und trottet anscheinend beruhigt weiter. Die anderen Kühe der Herde reagieren meist ähnlich: Sie mustern die ihnen unbekannte Tüte mit dem linken Auge, kaum einmal aber mit dem rechten, mit dem sie normalerweise ähnlich gut sehen. Was hat es mit diesem auffälligen Verhaltensmuster auf sich, das auch für Pferde typisch ist? Dahinter stecken im Grunde recht einfache, biologische Zusammenhänge – aus denen ein Landwirt viel lernen kann, um seinen Tieren das Leben zu erleichtern und ganz nebenbei den eigenen Ertrag zu verbessern.
Wie bei anderen Säugetieren auch sind bei Rindern und Pferden die Augen über Kreuz mit der jeweils gegenüberliegenden Gehirnhälfte vernetzt. Die Hirnhälften wiederum sind auf bestimmte Aufgaben spezialisiert. »Bei Rindern und Pferden ist die rechte Hirnhälfte zum Beispiel für das Einschätzen eventueller Gefahren zuständig«, erklärt die Verhaltensforscherin Johanna Probst vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick in der Schweiz. Mustert die Kuh also mit dem linken Auge die flatternde Plastiktüte, werden die Informationen in der rechten Gehirnhälfte verarbeitet, und das Tier kann schnell einschätzen, welche Risiken in dem bunten Fetzen stecken könnten. Schaut das Tier dagegen mit dem rechten Auge auf ein unbekanntes Objekt, kann es eine mögliche Gefahr weniger gut beurteilen.
Damit ist aber nicht nur klar, weshalb Kühe überraschend auftauchende Gegenstände oder Lebewesen möglichst mit dem linken Auge inspizieren, sondern auch, weshalb der Bauer seine Rinder so an etwas Ungewohntes heranführen sollte, dass sie es mit links einschätzen können: Nur so können die Tiere in einer für sie neuen Situation schnell mögliche Gefahren abwägen. Das verhindert unnötigen Stress, der wiederum die Gesundheit der Tiere schwächen und auch die Qualität ihres Fleisches nach dem Schlachten verringern kann. Vor allem aber fühlen sich die Rinder mit weniger Stress wohler, was allemal artgerechter ist.
Wenn der Bauer sich nur selten blicken lässt
Was kann ein Bauer aber darüber hinaus tun, um den Stress abzubauen und das Wohlbefinden seiner Tiere zu verbessern? Dazu sollte er sich zunächst einmal die »biologische Grundstruktur« seiner Herde vor Augen führen: »Während Pferde offensichtlich Fluchttiere sind, die einem Raubtier mit hohem Tempo zu entkommen versuchen, wenden sich Kühe auch einmal der Gefahr zu und wehren sich gern mit Hilfe ihrer Hörner«, fasst FiBL-Forscherin Johanna Probst einen grundlegenden Unterschied zwischen diesen beiden Nutztieren zusammen. Taucht ein Fremder bei ihrer Weide auf, flieht eine Stute mit ihrem Fohlen vorsichtshalber, während eine Mutterkuh eher den Kopf senkt und so nicht nur ihren Unmut signalisiert, sondern ebenso ihre Hörner in Kampfposition bringt.
Dieses »Fremdeln« macht spätestens dann Probleme, wenn die Mutterkühe auf der Weide viel weniger Kontakt mit dem Bauern haben als das Milchvieh im Stall. »Früher kam der Bauer zweimal am Tag in den Stall, um die Tiere zu melken, brachte Futter und mistete aus«, schildert Probst den Unterschied. Mensch und Tier lernten sich gut kennen, oft genug entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis. Bei vielleicht 20 Kühen, die man täglich mehrmals im Stall trifft, ist das natürlich leichter als bei viel größeren Mutterkuhherden, die man erheblich seltener sieht. Obendrein wollen die Mütter ihre Kälber gegen Fremde verteidigen. Und das mit gutem Grund. Schließlich ist das Tier in einer ähnlichen Situation wie eine Mutter mit Kinderwagen in der Fußgängerzone, wenn ein Fremder plötzlich ihr Kind aus dem Wagen zerrt. In solchen Situationen schützt eine Mutter ihren Nachwuchs so gut es eben geht.
Training für Rinder
Der Landwirt muss allerdings manchmal die Klauen seiner Tiere pflegen oder der Tierarzt ein Kalb impfen. Deshalb wäre natürlich ein Vertrauensverhältnis gut, wie es die Bauern früher zu ihren relativ wenigen Rindern aufbauen konnten. Wie aber gewinnt man die Tiere für sich, die in der Herde auf der Weide stehen und ihren Bauern nicht allzu häufig zu Gesicht bekommen? Die Grundlage dafür lässt sich schon unmittelbar nach der Geburt eines Kalbs legen, haben Tierethologen des Schweizer FiBL und der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich auf einem modernen Bauernhof an insgesamt 27 Tieren untersucht. Ein Teil der Kälber wurde am zweiten, dritten und vierten Tag nach der Geburt sowie an drei weiteren Tagen im ersten Lebensmonat zweimal täglich zehn Minuten lang gestreichelt. Die anderen Tiere mussten ohne eine solche Zuwendung auskommen. Noch neun Monate später erinnerten sich einige dieser jungen Rinder offensichtlich an die positive Erfahrung und näherten sich einem Fremden freiwillig, der in ihrer Nähe auftauchte. Dieses Verhalten aber lässt sich sogar noch nach dem Schlachten der zehn Monate alten Kälber nachweisen: In ihrem Blut finden die Forscher geringere Mengen des Stresshormons Cortisol als bei Tieren, die ohne diese Zärtlichkeiten aufwuchsen. Außerdem ist das Fleisch der Tiere zarter.
Ein solches Vertrauensverhältnis zwischen Rind und Bauer kann auch die Klauenbehandlung der Vierbeiner und nötige Impfungen erleichtern. Dazu müssen die Tiere in einen engen Behandlungsstand. »Für Rinder als Herdentiere ist dabei besonders die Trennung von ihren Artgenossen sehr stressig«, erklärt Johanna Probst. Um die Angst der Kuh vor dem Gatter abzubauen, muss der Bauer das Tier an diese und an andere Einrichtungen auf dem Hof gewöhnen. Dazu kann er die Kuh zunächst einmal einfach durch den Stand führen oder treiben, ohne dass etwas Negatives für das Tier passiert. Eventuell kann der Zweibeiner die Tapferkeit seiner Kuh sogar mit einem Leckerbissen belohnen. Diese klassische Konditionierung funktioniert aber nur, wenn das Rind sofort, also innerhalb von zwei oder drei Sekunden, belohnt wird. Am besten hält der Mensch dabei das Futter vor dem Maul des Vierbeiners ein wenig in die Höhe. Die Kuh streckt dann den Kopf schräg nach vorne und oben zum Futter und nimmt damit eine Haltung ein, die jedes andere Tier der Herde als »unterwürfig« erkennt. Schlecht ist es dagegen, den Leckerbissen ein wenig tiefer vor das Maul zu halten. Dann senkt die Kuh nämlich den Kopf und bezieht damit ihre »Angriffshaltung«. Genau das aber sollte der Bauer vermeiden.
Keine Bestrafung
Bestrafungen hält Johanna Probst bei diesem Training dagegen für schwierig. Schließlich will der Bauer ja eigentlich ein Vertrauensverhältnis aufbauen, Strafen sind da eher kontraproduktiv. Zudem muss das Timing genau stimmen. Das aber ist gar nicht so einfach, erklärt die Verhaltensforscherin an einem anderen Beispiel aus dem Alltag eines Hofs: Führt der Bauer ein Kalb am Halfter auf die Weide, ist das Tier in der ungewohnten Situation häufig unruhig und wehrt sich gegen den Verlust seiner Freiheit. »Nimmt der Bauer dann auf der Weide das Halfter bereits ab, wenn sich das Kalb noch wehrt, merkt sich das Tier, dass es frei gelassen wird, wenn es sich nur kräftig wehrt«, erklärt die FiBL-Forscherin. So lernt es die falsche Lektion und wird beim nächsten Weidegang nur noch heftiger dagegenhalten. Etwas Ähnliches passiert, wenn das Tier sich im Behandlungsstand gewehrt hat, aber erst bestraft wird, wenn es sich schon ein paar Sekunden beruhigt hat. Dann lernt das Kalb, dass es bestraft wird, wenn es sich im Behandlungsstand ruhig verhält, und wird sich beim nächsten Mal umso heftiger wehren.
Neben den Verhaltensweisen unterscheiden sich auch die Sinnesorgane der Kühe deutlich von denen des Menschen. So sitzen die Augen seitlich am Kopf und ermöglichen so einen Rundumblick, der nur einen relativ kleinen Bereich direkt hinter den Tieren ausschließt. Es ist daher keine gute Idee, sich seiner Kuh von hinten zu nähern, weil sie auch bei einer sanften Berührung ähnlich heftig wie ein Mensch erschrickt, dem unerwartet jemand auf die Schulter tippt. Da sich der Sehbereich beider Augen nur direkt vor der Schnauze überschneidet, sehen die Tiere auch nur dort dreidimensional. In allen anderen Richtungen können Kühe daher die Größe von unbekannten Objekten und deren Geschwindigkeit nur schwer einschätzen. Weil auch die Sehschärfe erheblich geringer als beim Menschen ist, reagieren Rinder oft sehr heftig auf unerwartete Bewegungen an ihrer Seite.
»Bewegungen nehmen Kühe dagegen viel detaillierter als Menschen wahr«, nennt Probst einen weiteren Unterschied. Bewegt ein Mensch vor ihnen seine Arme auf und ab, sieht das für eine Kuh recht zappelig aus und kann das Tier leicht erschrecken. Schnelle Bewegungen verbieten sich beim Umgang mit Kühen daher von selbst, und der Bauer sollte alles vermeiden, was die Tiere als hektisch empfinden. Da Kühe ähnlich wie zum Beispiel Katzen mit einer reflektierenden Pigmentschicht im Auge selbst noch schwaches Licht konzentrieren können, sehen sie im Dunkeln dagegen besser als Menschen. Deshalb reagieren ihre Augen empfindlicher auf Lichtreflexe und starke Kontraste. Soll die Kuh daher aus dem hellen Stall in einen Treibgang gehen, sollte dieser ebenfalls beleuchtet sein, um die Tiere nicht zu verängstigen.
Der Geruch der Angst
Kühe riechen zudem sehr gut und manchmal besser, als es dem Tierarzt recht sein kann. So können Rinder im Urin und im Blut von Artgenossen offensichtlich Botenstoffe erschnuppern, die bei Angst und Stress produziert werden. Spätestens wenn der Tierarzt in den Stall kommt und die Kühe auf seinem Kittel die Panik der Tiere riechen, die er vorher vielleicht auf einem ganz anderen Hof behandelt hat, überträgt sich die Angst der Artgenossen. Und das selbst dann, wenn die Tiere vielleicht nur geimpft werden sollen. Daher sollte der Bauer möglichst einen frischen Kittel anbieten, den der Tierarzt überstreift, bevor er den Stall betritt.
Und auch das Gehör der Kühe funktioniert hervorragend. Vor allem hören Rinder ähnlich wie Fledermäuse noch Töne, die für die Ohren eines Menschen zu hoch sind. Hohe und schrille Töne aber weisen in der Natur normalerweise auf Gefahren hin. Genau aus diesem Grund empfinden Menschen das Quietschen der Kreide auf einer Schiefertafel als sehr unangenehm. Den Kühen geht es nicht viel anders: Quietscht die Stalltür laut oder reibt irgendwo ein Metall auf einem anderen, stresst das die Tiere sehr. Andererseits gewöhnen sich Rinder gut an bekannte Geräusche und verbinden zum Beispiel das laute Geräusch des Futterwagens mit der sehr positiven Erfahrung, »es gibt gleich was zu fressen«. Tiefe Töne wiederum wirken beruhigend, deshalb senken Menschen automatisch die Stimme, wenn sie beruhigend auf Tiere einreden.
Ein schweres Missverständnis entsteht auf dem Bauernhof manchmal, wenn Kühe Wunden oder Verletzungen mit oft stoischer Ruhe ertragen. Da könnte leicht der Verdacht keimen, dass die Tiere weniger Schmerz als ein Mensch empfinden. Genau das ist aber nicht der Fall, Kühe spüren Schmerzen vermutlich ähnlich wie wir Menschen. Während wir aber vor Schmerzen manchmal laut aufschreien, leiden Kühe und fast alle anderen Tiere aus einem guten Grund eher stumm: Ein Schmerzensruf würde einem Raubtier signalisieren, dass die Kuh krank oder verletzt ist und daher eine leichte Beute sein könnte. Das aber könnte in der Natur rasch das Todesurteil sein. Daher leidet die Kuh lieber stumm. Schmerzen spürt sie trotzdem, zeigt das nur nicht. Die Kuh tickt eben doch ein wenig anders als ein Mensch.
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