Seelische Leiden: Kids in der Krise
Begleitet von schweren Klavierklängen berichtet eine Jugendliche auf dem Tiktok-Kanal »thequotecircle« von ihrer Depression. »An manchen Tagen ist es wirklich, wirklich schwer, sich einfach nur zu bewegen«, erklärt sie unter Tränen. »Es ist schwer, aus dem Bett zu kommen. Es ist sogar schwer, die Treppe runterzugehen, um etwas zu essen zu holen.«
In den sozialen Medien ist das Thema psychische Störungen heute allgegenwärtig. Viele, vor allem junge Nutzer und Nutzerinnen erzählen dort von ihren Erfahrungen und ihrem oft negativen Befinden, posten selbst produzierte Aufklärungs- oder Selbsthilfeclips. Doch leiden junge Menschen deshalb mehr als früher, stecken sie gar in einer allgemeinen Seelenkrise? Und wenn ja: Was sind die Ursachen – und wie kann man helfen? Sollte Eltern etwa, wie der US-Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der New York University fordert, den Onlinekonsum des Nachwuchses radikal beschränken?
Laut den verfügbaren Zahlen haben seelische Probleme in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen, und zwar besonders bei jungen Menschen. Laut der COPSY-Studie (die Abkürzung steht für »Corona und Psyche«) kletterte die Zahl psychischer Auffälligkeiten bei den rund 1000 untersuchten Kindern und Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren von 18 Prozent vor der Pandemie auf bis zu 31 Prozent im ersten »Coronajahr« 2021. Danach sank die Quote zwar auf 23 Prozent, lag 2022 jedoch immer noch höher als vor der Pandemie. Frauen und Mädchen haben insgesamt häufiger mit Ängsten und Stimmungstiefs zu kämpfen als Jungen, bei diesen wiederum überwiegen Aggressionen oder Hyperaktivität, also stärker nach außen gerichtete, »externalisierende« Störungen.
Auch der »Kinder- und Jugendreport 2023« der DAK bestätigt den teils deutlichen Anstieg. In die bundesweite Analyse flossen die Daten von gut 800 000 DAK-versicherten Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren ein. Demnach litten besonders Mädchen unter psychischen Problemen: Depressionen nahmen bei ihnen zwischen 2019 und 2022 um 24 Prozent zu, Essstörungen um 51 Prozent, Ängste um 44 Prozent. Auch wenn die Zahlen 2022 wieder leicht zurückgingen, lagen sie immer noch über dem Vor-Pandemie-Niveau.
Wie diese Zahlen genau einzuordnen sind, ist allerdings umstritten. »Es lässt sich schwer einschätzen, ob psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen tatsächlich zugenommen haben«, erklärt Christoph Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité. Denkbar wäre auch, dass nicht die Störungen selbst, sondern nur die Diagnosen zugenommen haben. »Es ist durchaus ein Fortschritt, dass Störungen mittlerweile eher entdeckt werden und die Betroffenen zügiger Hilfe bekommen«, meint der Psychiater. »Denn viele psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen werden gar nicht erkannt. Oder die Betroffenen erhalten nur schwer oder mit Verzögerung Hilfe.«
Hilfe auf Abruf
Wenn Sie Hilfe benötigen, wenn Sie verzweifelt sind oder Ihnen Ihre Situation ausweglos erscheint, dann wenden Sie sich bitte an Menschen, die dafür ausgebildet sind. Dazu zählen zum Beispiel Ihr Hausarzt, Psychotherapeuten und Psychiater, die Notfallambulanzen von Kliniken und die Telefonseelsorge.
Die Telefonseelsorge berät rund um die Uhr, anonym und kostenfrei unter den Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und im Chat.
Kinder und Jugendliche bekommen bei der »Nummer gegen Kummer« anonym und kostenfrei Hilfe und Unterstützung bei kleinen und großen Problemen des Lebens: 116111, montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr.
Einigen Experten zufolge haben die Belastungen, mit denen Minderjährige konfrontiert sind, in den letzten Jahren zugenommen. Eine Krise jagt die nächste. Zuerst die Pandemie, die Kindern und Jugendlichen vor allen durch die radikale Einschränkung ihrer sozialen Kontakte zusetzte. Mehr als ein Drittel berichtete damals von Problemen wie sozialen Ängsten, Konflikten in der Familie oder Hoffnungslosigkeit. Mittlerweile ist die Pandemie vorbei, aber die psychischen Folgen bleiben spürbar.
Kaum war Covid-19 einigermaßen überstanden, rückten neue Katastrophen nach. »Unter jungen Menschen herrscht vielfach eine Art Endzeitstimmung«, so Christoph Correll. »In den Köpfen dominiert die Vorstellung, der Planet gehe unter.« Tatsächlich zeigt die Klimakrise inzwischen konkrete Folgen wie Überschwemmungen und Dürren in vielen Teilen der Welt. Und seit dem im Februar 2022 begonnenen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es einen militärischen Konflikt mitten in Europa, der täglich belastende Bilder produziert.
Auch die COPSY-Studie belegt: Deutlich mehr Kinder und Jugendliche machen sich heute Sorgen wegen drohender Katastrophen: Fast die Hälfte äußerte Zukunftsängste im Zusammenhang mit der Finanz- und Energiekrise sowie dem Ukraine-Krieg, und rund ein Drittel berichtete von seelischen Belastungen durch den menschengemachten Klimawandel. »Die Stabilität der vergangenen Jahrzehnte scheint in Frage gestellt«, erklärt Correll. Zudem erlebten manche die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre als Stressfaktor. »Junge Leute haben mitunter das Gefühl, sie müssten denselben Schulstoff nun in kürzerer Zeit durchhecheln.«
Eine andere Erklärung für den Anstieg der Fallzahlen liefern die britischen Psychologen Lucy Foulkes und Jack Andrews von der University of Oxford. Sie vermuten, dass es teils zu einer »Inflation der Prävalenzen« kommt. Demnach hat das wachsende Bewusstsein für psychische Gesundheit möglicherweise zu einer Zunahme von Fremd- und Selbstzuschreibungen unter jungen Menschen gesorgt, die oft als psychiatrische Diagnosen daherkommen. Als treibende Faktoren betrachten Foulkes und Andrews die größere Bereitschaft, ja den Wunsch, (Selbst-)Diagnosen zu vergeben: Aufklärungskampagnen etwa in Schulen könnten dazu führen, dass Jugendliche bei sich und anderen schneller tief greifende Probleme zu erkennen glauben und professionelle Hilfe suchen. Ob sie tatsächlich die Kriterien für eine relevante Störung erfüllen, steht dabei auf einem anderen Blatt.
Aufklärungskampagnen fördern die Sensibilisierung der Gesellschaft. Doch sie führen manchmal auch zu »falsch positiven« Ergebnissen, weil Menschen meinen, dass ihre psychische Gesundheit beeinträchtigt ist, obwohl dies nicht unbedingt zutrifft. Dabei können normale Schwankungen der Stimmung oder andere Symptome vorschnell zur Störung erklärt werden, erläutert Andrews. So tragen den Forschern zufolge etwa Kampagnen wie »Let's talk« – eine Initiative der Weltgesundheitsorganisation von 2017 zur Aufklärung über Depression – womöglich zur »Psychiatrisierung« normaler Lebensprobleme bei.
Hinzu kommt, dass es zunehmend als mutig und bewundernswert gilt, seine seelischen Nöte offenzulegen. Laut Foulkes und Andrews ist das eine zweischneidige Sache. Einerseits sind Scham und Stigmata nach wie vor große Hindernisse in unserem Umgang mit psychischen Problemen. Ihre Überwindung habe jedoch auch Schattenseiten: Kinder und Jugendliche stellen psychische Selbstdiagnosen durchaus auch, weil diese den sozialen Status heben, etwa als Ausweis besonderer Sensibilität, oder weil sie Aufmerksamkeit und Schonung versprechen. Tatsächlich werden psychische Probleme in den sozialen Medien zum Teil romantisiert. Teenager finden es mitunter cool, »edgy« zu sein – beispielsweise ADHS oder eine milde Form von Autismus zu haben. Diese Ausweitung des Störungsbegriffs kann dazu führen, dass sich Jugendliche im medizinischen Sinn als krank betrachten.
Werden Krankheitsbilder immer weiter ausgedehnt?
Die Psychologen Nick Haslam und Jesse Tse von der University of Melbourne beobachteten, dass viele Konzepte der seelischen Notlage in den letzten Jahren erweitert wurden. In einer 2024 veröffentlichten Untersuchung attestierten sie Probanden eine breite Vorstellung von »psychischer Erkrankung«, wenn diese verschiedene Erlebnisse und Verhaltensweisen als störungsrelevant einstuften, darunter eher milder Zustände wie soziale Gehemmtheit. Von diesen Probanden sprachen sich besonders viele selbst eine psychische Störung zu, ohne dass diese tatsächlich diagnostiziert worden wäre.
Haslam glaubt, dieser so genannte »concept creep« – die Ausdehnung von Krankheitsbegriffen – trage dazu bei, dass normale unangenehme oder unangemessene Gefühle zu psychischen Problemen erhoben werden. »Laut unseren Daten haben jüngere Menschen tendenziell ein breiteres Konzept von psychischen Erkrankungen als ältere. Das geht mit einer höheren Rate selbst diagnostizierter Störungen einher.«
Allerdings, so bemängeln Kritiker, beweise dies noch nicht, dass allein die Existenz breiterer Krankheitskonzepte dazu führe, dass junge Menschen sich selbst als krank erleben. Ob dies die Ursache für die Zunahme psychischer Erkrankungen ist, bleibt daher fraglich. Andererseits erscheint auch unwahrscheinlich, dass ein einzelner Faktor dafür verantwortlich ist.
In einer anderen Studie von 2023 bekam die Hälfte einer Gruppe von Studierenden im Alter von durchschnittlich 20 Jahren Social-Media-Posts zu sehen, in denen Ängste als etwas Normales und Weitverbreitetes dargestellt wurden. Diese Gruppe diagnostizierte anschließend auch bei sich selbst häufiger eine Angststörung als Probanden, die Posts sahen, in denen Angststörungen stärker von normalen Ängsten abgegrenzt wurden. Tatsächlich glauben einige Psychologen, dass die starke Zunahme von Darstellungen in sozialen Medien zu einer Inflation von Diagnosen beiträgt.
Selbst wenn in den sozialen Medien korrekte Informationen über psychische Erkrankungen verbreitet werden, kann die erhöhte Sensibilisierung junge Menschen dazu verleiten, Selbstdiagnosen zu stellen. Zudem werden häufig ungenaue Informationen verbreitet, die alltägliche Erfahrungen als psychiatrisch bedenklich oder therapiebedürftig darstellen. Das kann als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung wirken: »Die Selbstdiagnose einer Angststörung kann dafür sorgen, dass Menschen bedrohliche Situationen meiden und dadurch vorhandene Ängste vertiefen und festigen«, so Nick Haslam.
»Die Sensibilisieren für seelische Probleme ist vor allem eine Hilfe«Christoph Correll, Charité Berlin
Der Berliner Psychiater Christoph Correll hält von solchen Thesen eher wenig: »Die Entstigmatisierung von psychischen Problemen und die Sensibilisierung für seelische Probleme ist vor allem eine Hilfe.« Nur so könne offen über entsprechende Schwierigkeiten gesprochen werden. Dass Entstigmatisierung auch zu mehr psychischen Störungen führt, glaubt er nicht. Kinder und Jugendliche schauten heute bei psychischen Problemen genauer hin. »Nur weil man merkt, dass man emotionale Schwierigkeiten hat, erfindet man diese ja nicht.« Es könne zwar sein, dass in Einzelfällen die Aufmerksamkeit für psychische Probleme diese verstärke. Aber das sei nicht die Regel. Und es dürfe kein Argument gegen Aufklärung sein. »Ich sehe eher die Gefahr, dass psychische Störungen unter jungen Menschen unerkannt und damit unterversorgt bleiben.«
Corrells Sichtweise teilen viele Psychologen. Gleichwohl gibt es Hinweise, denen zufolge Programme zur psychischen Gesundheit seelische Nöte bei jungen Menschen verstärken können. In einer großen Untersuchung begleiteten Forscher um Jesus Montero-Marin von der University of Oxford rund 28 000 Teenager über acht Jahre. Die Hälfte der Heranwachsenden wurde von Lehrkräften darin geschult, ihre Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken: auf die eigene Atmung, auf das körperliche Empfinden oder auf alltägliche Aktivitäten. Der Kurs umfasste zehn Lektionen von je 30 bis 50 Minuten Länge. Die andere Hälfte der Probanden kam hingegen in den Genuss »sozial-emotionaler Bildungsangebote«.
Bei der Nachuntersuchung brachte das Achtsamkeitstraining im Vergleich zur bloßen Aufklärung nicht das erhoffte Plus für die psychische Gesundheit – im Gegenteil, es ging mit einem erhöhten Depressionsrisiko und einem schlechteren Wohlbefinden bei Schülern einher, die vermehrt psychischen Belastungen ausgesetzt waren. Das zeigte sich sowohl unmittelbar nach der Intervention als auch ein Jahr später.
Manche Trainings wirken kontraproduktiv
Das Team um Montero-Marin vermutet: Trainings mit geringer Intensität könnten das Bewusstsein für negative Gedanken, Gefühle und Probleme schärfen, ohne eine ausreichende Stärkung der Resilienz zu bewirken. Auch in anderen Studien sorgten Programme für die psychische Gesundheit bei einem Teil der Probanden für mehr Probleme. In einer Metaanalyse zu Anti-Mobbing-Programmen mit insgesamt fast 60 000 Teilnehmern, die eigentlich zu weniger Ängsten und Depressionen führen sollten, führte zumindest der Einsatz mancher Techniken zu einer erhöhten Grübelneigung bei den Schülern.
Qualitative Interviewstudien lieferten Hinweise, warum einige gut gemeinte Programme ein Problem darstellen könnten. So beschrieb zwar ein Teil der Teilnehmer schulische Achtsamkeitstrainings oder Bausteine aus der kognitiven Verhaltenstherapie als hilfreich und interessant. Andere jedoch berichteten, sie hätten es eher bedrückend gefunden, im Rahmen der Übungen etwaigen negativen Gedanken nachzuspüren, obwohl sie sich anfangs gar nicht schlecht gefühlt hatten.
Das heißt freilich nicht, dass solche Programme gar nichts bringen. Einige Metaanalysen belegen durchaus positive Wirkungen von Achtsamkeitstrainings auf die psychische Gesundheit: So können sie bei Schülern die soziale Kompetenz fördern und emotionale Probleme sowie Verhaltensauffälligkeiten verringern. In einer aktuellen, noch nicht abschließend begutachteten Studie kamen Lucy Foulkes und Jack Andrews zu dem Ergebnis: Rund jede zehnte Intervention geht mit negativen Effekten wie einer Zunahme von Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsproblemen oder depressiven Stimmungen einher. Das betrifft vor allem bestimmte Untergruppen: Kinder, die als besonders gefährdet für psychische Probleme angesehen wurden, jüngere Kinder und solche aus benachteiligten Verhältnissen. Aus Sicht von Foulkes und Andrews sind universelle Maßnahmen möglicherweise nicht gut geeignet, um psychischen Problemen bei jungen Menschen vorzubeugen. Schließlich wenden sich Standard-Interventionen immer an die gesamte Klasse, ohne die unterschiedlichen Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen.
Ein weiterer womöglich unterschätzter Faktor ist das gemeinsame Grübeln, auch Ko-Rumination genannt. »Das bedeutet, zwei oder mehrere Personen sprechen über ein Problem oder schwierige Gefühle, ohne dabei eine Lösung zu finden«, erläutert Andrews. »Dies kann bestehende Unsicherheit verschlimmern und zu erhöhtem Stress führen.« Ko-Rumination komme bei Mädchen häufiger vor als bei Jungen. Das könne unter Umständen erklären, warum heranwachsende Mädchen höhere Raten psychischer Probleme zeigen.
Ein womöglich unterschätzter Faktor ist das gemeinsame Grübeln
Zweifellos kann es befreiend sein, sich eine Last von der Seele zu reden, vor allem wenn man sein Herz nicht vor der ganzen Klasse, sondern gegenüber dem besten Freund oder der besten Freundin ausschüttet. Vielleicht hat das Gegenüber ja sogar einen Tipp parat. Freundschaften, die Halt geben, verringern nachweislich das Risiko für Depressionen im Kindes- und Jugendalter. Das gemeinsame Grübeln, das sich im Kreis dreht, negative Emotionen verstärkt und keine Perspektiven aufzeigt, ist hingegen kontraproduktiv. Mehrere Studien sprechen für einen Zusammenhang zwischen dem gemeinsamen Grübeln und psychischen Problemen unter Heranwachsenden. So setzen etwa bei Heranwachsenden mit stärkerer Neigung zu Ko-Rumination Depressionen früher ein.
Bei Teens besonders beliebt ist das gemeinsame Grübeln auf Social Media. Laut einer Studie von 2021 ging dies mit mehr Depressions- und Angstsymptomen einher. Ist also die Dauerpräsenz psychischer Probleme in den sozialen Medien doch der wahre Grund des Übels?
Diese These vertritt der US-Sozialpsychologe Jonathan Haidt mit großer Überzeugung. Er führt das nicht nur auf Ko-Rumination zurück; auch ständige soziale Vergleiche und der unpersönliche Austausch förderten die negative Entwicklung, welche Mädchen mehr schade als Jungen. »Mädchen vergleichen sich stärker mit anderen in Sachen Aussehen und Aktivitäten und werden online oft härter beurteilt«, so Haidt. Außerdem gebe es im Web 2.0 viel mehr sexuelle Belästigung und Ausbeutung von Mädchen. Aber auch bei Jungen leide die Psyche unter zu viel Social-Media-Konsum: Laut Haidt verschwenden viele endlose Stunden im Netz und finden aus der Dauerschleife der sozialen Vergleiche und Bewertungen kaum noch heraus.
Wie bei der Frage nach der Henne und dem Ei bleibt allerdings unklar, ob die Dauernutzung von Instagram, Tiktok und Co. auf die Stimmung drückt oder ob umgekehrt negativ gestimmte Kids eher ins Internet abwandern als ihre munter-fröhlichen Altersgenossen. Vermutlich ist beides der Fall. Die schönen Bilder der Freunde oder die Hochglanzfotos von Promis lassen das eigene Leben fad und unspektakulär erscheinen. Ebenso dürften sich Heranwachsende, die ohnedies eher zu Depressionen neigen, verstärkt in sozialen Netzwerken tummeln – etwa, weil es im realen Leben mit den Sozialkontakten nicht so klappt. Um herauszufinden, was Ursache und was Wirkung ist, bräuchte es mehr Langzeitstudien, die Heranwachsende über längere Zeit begleiten. Solche Studien sind jedoch Mangelware.
Eine der wenigen Untersuchungen stammt von Amy Orben und Andrew Przybylski von der University of Oxford. Die beiden Forscher nahmen repräsentative Langzeitdaten von 10- bis 15-Jährigen aus Großbritannien unter die Lupe. Ergebnis: Eine intensive Nutzung von Social Media drückte die Lebenszufriedenheit nur leicht. Außerdem gab es Hinweise auf den umgekehrten Zusammenhang: Unzufriedene Jugendliche nutzten vermehrt soziale Medien. »Soziale Medien verstärken eher Tendenzen, die schon vorher da waren«, erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin Claudia Lampert vom Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg. Wenn ein Jugendlicher mit sich hadert und wenig sozialen Kontakt in der Offline-Welt hat, könne sich eine Abwärtsspirale in Gang setzen. »Er wird sensibler für ausbleibende Likes oder negative Kommentare als jemand, der in seiner Identität eher gefestigt ist.« Dabei müsse man bedenke, so Lampert weiter: »Social-Media-Angebote werden durch Algorithmen gesteuert, die darüber entscheiden, welche Inhalte dem Einzelnen angezeigt werden. Im ungünstigen Fall erhält eine Person vermehrt Inhalte, die sie als belastend wahrnimmt.«
Die Frage nach den möglichen Ursachen der seelischen Krise von Kindern und Jugendlichen ist also vielschichtig. Psychologen und Psychiater können bislang nicht sagen, ob junge Menschen auf Grund gestiegener Belastungen und wahrgenommener Krisen psychisch stärker leiden oder ob die vermehrte Aufmerksamkeit und Sensibilität zu mehr Diagnosen führt. So positiv es ist, wenn Erkrankungen, die früher unerkannt blieben, heute eher auffallen – es könnte auch dazu beitragen, dass leichte Formen von psychischen Problemen als ausgewachsene Erkrankungen wahrgenommen werden. Zudem können die ständige Präsenz und die Bewertungsorgien im Netz Heranwachsenden psychisch zusetzen. Doch das gilt wohl vor allem für bereits vorbelastete Jugendliche.
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