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Motive von Wechselwählern: »Eine ganz neue Größenordnung«

Immer weniger Deutsche halten einer bestimmten Partei die Treue. Bei der anstehenden Bundestagswahl könnte der Anteil der Wechselwähler erstmals auf über 50 Prozent steigen. Ein Trend mit erheblichen Folgen für unser politisches System, sagt der Wahlforscher Aiko Wagner im Interview.
Eine Männerhand wirft einen rosa Umschlag in eine Wahlurne
Rund 60 Millionen Stimmberechtigte sind zur vorgezogenen Bundestagswahl 2025 zugelassen.

Herr Wagner, binnen zwei Jahrzehnten hat sich der Anteil der Wechselwähler verdoppelt. Wie kommt es, dass immer mehr Menschen flexibler in ihren Wahlentscheidungen werden?

Das ist inzwischen ein stark verbreitetes Phänomen. Bei der Bundestagswahl 2021 lag der Anteil der Wechselwähler schon bei fast 45 Prozent, das ist eine ganz neue Größenordnung. Zwar gibt es nach wie vor Stammwählerinnen und -wähler, die ihre Stimme regelmäßig derselben Partei geben. Aber fast ebenso viele machen mittlerweile ihr Kreuz mal hier und mal dort. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlich sein. Wechselwähler sind nicht etwa wankelmütig. Sie können durchaus sehr feste Überzeugungen haben. Zum Beispiel kann jemand in der Sozialpolitik der SPD nahestehen, in Migrationsfragen jedoch eher der AfD. Liegt dieser Person bei einer Wahl das eine Thema mehr am Herzen und bei der nächsten Wahl das andere, wechselt sie.

Was verbirgt sich also hinter dem Phänomen der Wechselwahl?

Auf dem Porträtfoto trägt Aiko Wagner eine Brille und einen schwarzen Pullover über einem blau-weiß gestreiften Oberhemd.
Aiko Wagner | Der Politikwissenschaftler forscht an der Freien Universität Berlin zu Wahlverhalten und Parteiensystemen.

Wir sprechen von elektoraler Offenheit oder Availability, also dass mehrere Parteien für mich in Frage kommen. Doch selbst dann kann es sein, dass ich trotzdem nie zum Wechselwähler werde, sondern mich immer wieder so entscheide, wie ich es schon davor getan habe. Spannend ist, dass sich diese Offenheit unterschiedlich auf die verschiedenen politischen Segmente hinweg verteilt: Zwischen Rot, Schwarz, Grün und Gelb ist sie relativ hoch. Hier findet also relativ viel Austausch oder Wählerwanderung statt.

Aber darüber hinaus nicht?

Die AfD-Wähler bilden ein eigenes Segment. Bis vor Kurzem kam für sie kaum eine andere Partei in Frage. Deshalb war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, Wähler auch wieder von der AfD zurückzugewinnen.

Sie meinen, durch die Übernahme populistischer, etwa migrationskritischer Positionen?

Ja. Als Friedrich Merz beispielsweise im September 2023 sagte, dass sich Asylbewerber in Deutschland die Zähne machen ließen und deutsche Bügerinnen und Bürger keine Termine bekämen, verfing das bei AfD-Anhängern nicht. Für sie waren die etablierten Parteien längst unten durch.

Was hat sich geändert?

Zumindest für etwa ein Drittel der potenziellen AfD-Wählerschaft kommt nun das BSW in Frage, dafür besteht eine gewisse Offenheit. Die Segmentierung wird also zumindest teilweise aufgebrochen. Was aber nicht automatisch heißt, dass das bei der anstehenden Wahl tatsächlich geschieht, doch wir sehen zumindest das Potenzial zur Wechselwahl.

Ist elektorale Offenheit per se etwas Wünschenswertes?

Sie ist das Salz in der Suppe der Demokratie: Wähler sollen Dinge sagen können wie »Letztes Mal habe ich SPD gewählt, aber wenn die keine gute Politik macht, dann wechsle ich eben«. Mit solchen Drohungen können wir als Wähler darauf drängen, dass die Politiker auch in unserem Sinne regieren.

Es gibt heute deutlich mehr Parteien, die eine Chance haben, in den Bundestag gewählt zu werden, als noch vor 20 Jahren. Welche Bedeutung haben Parteineugründungen für das Phänomen der Wechselwahl?

Interessant ist hier das BSW. Alle BSW-Wähler sind automatisch Wechselwähler, weil die Partei ja zum ersten Mal auf Bundesebene antritt. Dennoch stehen wir bei dieser Frage vor einem Henne-Ei-Problem: Gibt es mehr erfolgreiche Neugründungen, weil die Leute bereits weniger an die traditionellen Parteien gebunden sind? Oder sind die Menschen heute eher bereit, etwas anderes auszuprobieren, weil es inzwischen schlicht bessere Angebote für sie gibt? Um das herauszufinden, müssten wir ein riesiges Realexperiment machen und zum Beispiel bei der nächsten Wahl für einen Teil der Bevölkerung ein paar neuere Parteien testweise nicht zulassen und die Unterschiede im Wahlverhalten beobachten – was natürlich nicht geht. Fest steht allerdings: Auf nationaler Ebene haben wir heute eine Fragmentierung wie in der frühen Bundesrepublik der 1950er Jahre. Dann setzte eine Konsolidierung ein, die zwischenzeitlich ein Drei-Parteien-System von SPD, Union und FDP hervorbrachte. Heute ist das Parlament jedoch zersplittert wie seit 70 Jahren nicht mehr.

Macht Ihnen das Sorge?

Es stellt die Politiker vor enorme Herausforderungen. Einfache Lagerkoalitionen wie Schwarz-Gelb oder Rot-Grün sind auf Bundesebene unwahrscheinlich geworden. Daher werden wir wohl häufiger lagerübergreifende Koalitionen aus mindestens drei Parteien sehen. Und die bisherigen Erfahrungen mit Jamaika oder der Ampel auf Bundesebene machen nicht unbedingt Mut.

»Die größte Bedrohung für die Volksparteien ist nicht die AfD oder das BSW, sondern der natürliche Tod«

Weil Koalitionen aus drei oder vier Parteien per se kompliziert sind? Oder weil eine Große Koalition aus Union und SPD – sofern sie überhaupt eine Mehrheit hätte – die politischen Ränder stärkt?

Großen Koalitionen wird in der Tat nachgesagt, dass sie durch mangelnde Unterscheidbarkeit den politischen Rand stärken und sich die Koalitionäre damit letztlich selbst schaden. Mehr noch als den Rand müssen die Volksparteien aber die Demografie fürchten, denn sie haben viele sehr alte Wähler. Die größte Bedrohung für die Volksparteien ist also nicht die AfD oder das BSW, sondern der natürliche Tod. Und da die Volksparteien nun mal die Regierungen tragen, stehen uns allein schon aus demografischen Gründen erhebliche Veränderungen bevor.

Können nicht auch neue Volksparteien entstehen? Die AfD etwa erreicht über soziale Medien wie TikTok viele junge Wähler. Könnte sie diese nicht dauerhaft an sich binden?

Das genaue Ausmaß und die Folgen dieses Phänomens zu quantifizieren, ist methodisch sehr schwierig. Für junge Wähler ist die AfD jedenfalls nicht allein deshalb interessant, weil sie eine junge Partei ist. Für heutige Erstwähler gibt es die AfD schon, seit sie politisch denken können. Die AfD wird von ihnen folglich nicht als brandneue Entwicklung mit rechtsradikaler Bedrohung wahrgenommen, sondern als etwas Normales – mit dem Unterschied, dass sie in den Medien, die junge Menschen gern nutzen, offenbar ein wenig frischer daherkommt als die anderen Parteien, da sie eine andere Ansprache hat. Ob die AfD deshalb auf lange Sicht das Zeug zur Volkspartei hat, kann heute aber niemand sagen.

Was ist für die Wahlentscheidung wichtiger: die Kandidaten oder die Sachfragen?

Es kommt darauf an, auf welcher Ebene wir über Sachfragen reden. Wenn ich mich selber als rechts verorte, wähle ich keine linke Partei, nur weil sie einen attraktiven Kandidaten aufstellt. Einzelne Sachfragen – Schuldenbremse, Mindestlohn, Asylobergrenze und so weiter – sind jedoch meist weniger wichtig als die Kandidaten. Wobei es einen großen Unterschied macht, über welche Personen wir reden. Es gibt Kandidaten, die haben eine sehr stark mobilisierende und gleichzeitig abstoßende Wirkung. Und es gibt andere, die lassen uns eher kalt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Frau Wagenknecht ist ein gutes Beispiel. Sie hat eine sehr starke Fanbase, aber viele Leute mögen sie auch gar nicht. Bei der AfD ist das anders. Hier sehen wir bislang eher schwache Effekte des Führungspersonals.

Sind enttäuschte Erwartungen aus der Vergangenheit oder positive Hoffnungen für die Zukunft stärkere Motive dafür, sein Kreuz von Wahl zu Wahl anders zu machen?

»Das Parlament ist zersplittert wie seit 70 Jahren nicht mehr«

Generell gilt, dass bei Wahlentscheidungen prospektive Erwägungen – das heißt die Erwartung, dass wir einer besseren oder aber schlechteren Zukunft entgegengehen, wenn ein bestimmtes Politikprogramm umgesetzt wird – wichtiger sind als der Blick zurück. Allerdings basieren unsere Zukunftserwartungen natürlich stets auch auf unserer Bewertung des Vorherigen. Was eine Partei in der Vergangenheit tat, gibt Aufschluss über ihren wahrscheinlichen Kurs in der Zukunft.

Welche Bedeutung hat strategisches Wahlverhalten bei Wechselwählern?

Eine große. Ich kann mir beispielsweise wünschen, dass die FDP mit in die Regierung kommt, obwohl ich eigentlich vielleicht CDU-Anhänger bin. Dann gebe ich meine Stimme leihweise der FDP, um sie über die Fünf-Prozent-Hürde zu heben. Das funktioniert auch umgekehrt: Eigentlich finde ich die FDP ganz toll, aber ich sehe, dass sie in den Umfragen nur bei vier Prozent liegt, und in dieser Situation riskiere ich, meine Stimme zu vergeuden. Daher wähle ich strategisch meine zweitliebste Partei, etwa die CDU. Es gibt auch koalitionstaktisches Wählen: Vielleicht denke ich, dass die nächste Regierung wohl kaum um die CDU/CSU herumkommt – aber wen will ich in diesem Fall als Koalitionspartner? Und dann wähle ich vielleicht Grün für Schwarz-Grün oder Gelb für Schwarz-Gelb. Strategisches Wählen ist dabei immer eine graduelle Angelegenheit.

Was bedeutet das?

Es gibt aufrichtiges Wählen: Da ist eine Partei, die mir auf Grund ihres Personals, des Programms oder warum auch immer am besten gefällt. Eine andere Partei kommt bei mir auf Platz zwei, eine Partei auf Platz drei und eine auf Platz vier. Je weiter ich mich aus strategischen Gründen von meiner aufrichtigen Präferenz entferne, desto mehr wähle ich strategisch und desto weniger wähle ich nach meinen aufrichtigen Präferenzen.

Gibt es in bestimmten Bevölkerungsgruppen besonders viele Wechselwähler? Was ist mit Ost versus West?

Im Osten ist die Bindung an Parteien deutlich geringer als im Westen. Auch sind die Parteien im Osten schwächer verankert, es gibt weniger Parteimitgliedschaften. Das heißt: Im Osten gibt es grundsätzlich eine größere Offenheit, vielleicht auch mal was anderes auszuprobieren. Aber die Unterschiede sind insgesamt nicht beziehungsweise nicht mehr so groß.

Wie steht es mit Alt und Jung?

Ältere Menschen sind weit häufiger Stammwähler als jüngere. Viele sagen: Ich bin ein Grüner, ein Gelber, ein Roter oder was auch immer. Das ist ein Teil des eigenen Selbst.

Männer versus Frauen?

Keine großen Unterschiede.

Stadt gegen Land?

Nein. Allerdings korreliert der Stadt-Land-Unterschied mit dem Bildungsniveau, bestimmten Berufsgruppen und sozialen Milieus. Dadurch kommt es zu Unterschieden. Aber der katholische Kirchgänger auf dem Land wählt die Union nicht, weil er auf dem Land lebt, sondern weil er katholischer Kirchgänger ist.

Warum wir wählen, wie wir wählen

Politikwissenschaftler haben verschiedene Ansätze entwickelt, um das Phänomen wechselnder Wahlentscheidungen theoretisch zu beschreiben.

Rational-Choice-Ansatz: Es gibt einen Markt, auf dem Politiker und Parteien Angebote machen. Diese treffen auf die Nachfrage der Wählerinnen und Wähler. Daraus ergeben sich die Wahlentscheidungen.

Makrosoziologischer Ansatz: Vor dem Hintergrund konfessioneller oder klassenspezifischer Konflikte entscheidet die Zugehörigkeit zu Großgruppen wie der katholischen Kirche oder der Arbeiterschaft die Wahlentscheidung.

Mikrosoziologischer Ansatz: Kleinere Einheiten des gesellschaftlichen Umfelds wie Familie, Verein oder Freundeskreis prägen die Wahlentscheidung.

Sozialpsychologischer Ansatz: Die individuellen Einstellungen und Präferenzen einer Person bestimmen ihre Wahlentscheidung.

Wie gehen Sie methodisch vor, um das Phänomen der Wechselwahl zu erforschen?

Unsere am häufigsten verwendete Methode sind Rückerinnerungsverfahren per Telefon, persönlich oder online. Bei der anstehenden Bundestagswahl wird vor dem Wahltag erhoben, wie jemand wählen will, oder alternativ nach der Wahl, wie jemand gewählt hat, und außerdem wird nach der Wahlentscheidung bei der letzten Bundestagswahl im Herbst 2021 gefragt.

Gedächtnisforscher würden hier zucken …

Natürlich gibt es da Fragezeichen. Wir unterstellen, dass sich die Leute richtig erinnern – und wissen, dass das nicht der Fall ist. Für viele Menschen sind Wahlen nicht das Entscheidende im Leben, da kann die Erinnerung schon mal trügen. Es gibt auch einen psychologischen Hang, konsistent zu sein: Man will nicht als flatterhaft erscheinen, wenn man befragt wird, also sagt man vielleicht: Ja, letztes Mal habe ich auch schon so gewählt. Diese Probleme umgehen wir mit Panelbefragungen.

Inwiefern?

Hier wird eine große Personengruppe über lange Zeiträume hinweg immer wieder zu aktuellen Einstellungen und Parteipräferenzen befragt. Niemand muss dabei zurückblicken, denn die Daten der Vergangenheit liegen bereits vor. Doch auch diese Methode hat ihre Schwachstellen: Wenn Menschen sterben, reißt ihre Datenreihe ab. Oder es gibt systematische Dropouts: Manche Leute haben irgendwann einfach keine Lust mehr, alle paar Monate an weiteren Befragungen teilzunehmen. Und dieser Schwund ist leider keine zufällige Auswahl aus allen Befragten im Panel, sondern bestimmte Teilgruppen springen eher ab als andere, zum Beispiel Leute, die vielleicht gerade viel um die Ohren haben, die politisch grundsätzlich eher wenig interessiert sind oder die vielleicht besonders mobil sind und aus Deutschland wegziehen. Wir können kaum davon ausgehen, dass diese Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Wechselwähler sind wie der Durchschnitt aller Wahlberechtigten. Mit anderen Worten: Bei Panelbefragungen kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu systematischen Fehlern, die wir aber in ihrem Ausmaß nicht genau kennen können. Folglich wissen wir nicht, wie weit wir danebenliegen.

Welche Methode gibt es noch?

Die dritte Methode ist die Vor-Ort-Befragung direkt vor den Wahllokalen, also das, was kommerzielle Institute wie Infratest Dimap und andere am Wahltag machen. Dabei werden auch soziodemografische Angaben und die Entscheidung bei der letzten Wahl abgefragt. Da hier sehr hohe Fallzahlen erzielt werden, ist die Genauigkeit prinzipiell hoch. Doch auch diese Methode hat ihre Schwächen: Briefwähler beispielsweise trifft man eben nicht vor dem Wahllokal an. Hier sprechen wir über einen erheblichen Teil der Wählerschaft. Bei der Bundestagswahl 2021, während der Pandemie, lag der Anteil der Briefwähler bei mehr als 47 Prozent. Und Briefwähler wählen anders als der Durchschnitt, zum Beispiel weniger AfD. Kurzum: Keine der drei Methoden ist für sich genommen wirklich zufrieden stellend, aber in Kombination funktionieren sie ganz gut.

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  • Quellen
Jankowski, W.: Das Schließen der Repräsentationslücke? Die Wählerschaft des Bündnis Sarah Wagenknecht – Eine Analyse basierend auf Paneldaten. Politische Vierteljahresschrift, 2024

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