Sars-CoV-2: Wer bekommt den Covid-Impfstoff zuerst?
Ob es Wochen dauert, wie US-Präsident Donald Trump angedeutet hat, oder Monate, wie die meisten Gesundheitsexperten erwarten: Es wird mindestens einen zugelassenen Impfstoff gegen das Coronavirus geben, und er wird mit Spannung erwartet. Allerdings wird das Mittel zunächst knapp sein. Da die Pandemie weiterhin täglich Millionen von Menschen gefährdet, darunter Beschäftigte im Gesundheitswesen, ältere und bereits kranke Menschen, stellen sich die Fragen: Wer sollte sich zuerst impfen lassen? Und wer darf?
Anfang September 2020 hat eine strategische Beratergruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen vorläufigen Plan vorgestellt, wie Impfstoffe weltweit zu verteilen sind. Er ergänzt gewissermaßen den Entwurf eines Gremiums der National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (NASEM), den dieses bereits wenige Tage zuvor veröffentlicht hatte.
»Es ist wichtig, dass das Problem von verschiedenen Gruppen durchdacht wird«, sagt Eric Toner, ein Notfallmediziner und Pandemieexperte, der am Johns Hopkins Center for Health Security in Baltimore, Maryland, ähnliche Überlegungen durchgeführt hat. Obwohl die Pläne voneinander abweichen, sieht Toner nach eigener Aussage große Übereinstimmungen: »Es ist großartig, dass es einen Konsens zu diesen Themen gibt.«
Besonders schützenswert: Mitarbeiter des Gesundheitswesens
Der Leitfaden der WHO führt bislang nur auf, welche Personengruppen vorrangig Zugang zu Impfstoffen haben sollten. Die NASEM-Leitlinien gehen weiter, indem sie eine Rangfolge der prioritären Gruppen aufstellen, die als Erste einen Impfstoff erhalten sollten (siehe »Stufenweise Verteilung«).
Nach den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Gesundheitswesens sollten laut NASEM-Entwurf medizinisch gefährdete Gruppen mit als Erste einen Impfstoff erhalten. Dazu gehören zum einen ältere Menschen, die in beengten Wohnverhältnissen leben. Zum anderen fallen Personen mit bestehenden Erkrankungen wie schweren Herzkrankheiten oder Diabetes darunter, weil diese Probleme das Risiko für eine schwerwiegendere Covid-19-Infektion erhöhen.
Der Plan räumt zudem Angestellten in wichtigen Bereichen wie dem öffentlichen Nahverkehr Vorrang ein, da sie durch ihre Arbeit mit vielen Menschen in Kontakt kommen. Ebenso Menschen, die auf engem Raum in Einrichtungen wie Obdachlosenheimen und Gefängnissen leben.
»Einige Menschen, die sich selbst für wichtig halten, ›könnten sich an die vorderste Front drängen‹«
Ruth Faden, Bioethikerin
Viele Staaten haben bereits allgemeine Pläne, wie Impfstoffe zu verteilen sind. Die Pläne sind jedoch eher auf eine Grippepandemie als auf das Coronavirus Sars-Cov-2 zugeschnitten. In der Regel wird dabei Kindern und Schwangeren Vorrang eingeräumt; bei den Covid-19-Plänen ist dies nicht der Fall, da die meisten Vakzin-Tests derzeit keine schwangeren Frauen einschließen und das Coronavirus für Kinder weniger tödlich zu sein scheint als die Grippe. Die NASEM-Leitlinien empfehlen daher, Kinder erst in einer der letzten Phasen gegen Covid-19 zu impfen.
Im Gegensatz zu den NASEM-Leitlinien stellt der Plan der WHO fest, dass Regierungschefinnen und Staatschefs frühzeitig Zugang zu den Impfstoffen erhalten sollten. Das WHO-Team fordert jedoch, dass dieser Personenkreis »eng ausgelegt werden sollte, um eine sehr kleine Zahl einzubeziehen«. Die Sorge: Einige Menschen, die sich selbst für wichtig halten, »könnten sich an die vorderste Front drängen«, sagt Ruth Faden, Bioethikerin am Johns Hopkins Berman Institute of Bioethics in Baltimore, Maryland, die die WHO-Leitlinien mit entworfen hat.
Sicherstellen, dass »Hochrisikogruppen« künftig geschützt sind
Mit Blick auf frühere Misserfolge drängt die WHO die reicheren Länder, dafür zu sorgen, dass auch ärmere Staaten die Impfstoffe in den ersten Tagen erhalten. Während der H1N1-Grippe-Pandemie 2009 »war die Pandemie zu dem Zeitpunkt vorbei, als die Welt herausgefunden hatte, wie Impfstoffe in einige Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen gelangen konnten«, sagt Faden.
Was der WHO-Entwurf noch nicht klärt: Sollten die am stärksten betroffenen Länder eine größere Menge eines frühen Impfstoffs erhalten, bevor andere Länder die Chance haben, ihre vorrangigen Gruppen zu impfen? Darauf hat etwa Angus Dawson hingewiesen, ein Bioethiker an der University of Sydney in Australien, der Anfang 2020 einen Überblick über die Ethik der Grippe-Impfstoffverteilung veröffentlicht hat.
Die NASEM haben ihren Plan im Auftrag der US-Seuchenbehörde CDC und der National Institutes of Health erarbeitet. Eine Forderung führender Vertreter beider Organisationen: Der Bericht solle sich mit der Frage befassen, wie »Hochrisikogruppen«, inklusive »racial and ethnic groups«, den Impfstoff vorrangig bekommen können. Die Statistik zeigt nämlich, dass in den USA Menschen dieser Gruppen auffallend häufiger an den Folgen von Covid-19 gestorben sind als andere.
In dem ersten Entwurf hat das Gremium nun festgestellt, dass diese Gruppen vor allem aus sozioökonomischen Gründen anfällig sind, die mit dem systemischen Rassismus zusammenhängen – zum Beispiel haben sie risikoreiche Arbeitsplätze und leben in Hochrisikogebieten.
»Wir versuchen sicherzustellen, dass auch People of Color Vorrang haben«, sagt Helene Gayle, Kovorsitzende des verantwortlichen NASEM-Ausschusses. Diese Gruppen seien unverhältnismäßig stark von Covid-19 betroffen. Gleichzeitig dürfe beispielsweise die ethnische Herkunft allein nicht der ausschlaggebende Faktor sein, um einen Impfstoff zu bekommen, sagt Gayle weiter.
Die US-Bundesstaaten sollten laut NASEM auch den Social Vulnerability Index der CDC nutzen, um leichter entscheiden zu können, wer wann eine Schutzimpfung bekommt. Dabei handelt es sich um ein Instrument, das in der Regel die Zuteilung von Hilfsgütern nach einer nationalen Katastrophe steuert. Es berücksichtigt, wo die Menschen leben sowie Gesundheitsprobleme, die häufiger unter People of Color auftreten.
Der WHO-Leitfaden ist nicht verpflichtend
Die WHO-Gruppe wird ihre Leitlinien weiterhin aktualisieren. Zunächst gilt es, ihren Prioritätsgruppen eine Rangfolge zuzuweisen, um dann reale Daten aus Impfstoffversuchen einzubeziehen, etwa wie wirksam ein bestimmter Impfstoff bei älteren Menschen ist. Zwar steht der Leitfaden allen WHO-Mitgliedsländern zur Verfügung, jedoch ist kein Land gezwungen, ihn umzusetzen.
In den Vereinigten Staaten soll der NASEM-Ausschuss im Oktober einen endgültigen Plan vorlegen. Letztlich werden die CDC diese Empfehlungen unter anderem berücksichtigen, um die Verteilung im eigenen Land zu koordinieren. Die CDC-Leitlinien wiederum sollen noch dieses Jahr feststehen – an sie sollen sich Gesundheitsämter, Ärzte und Apotheken halten. Vorausgesetzt, ein Impfstoff hat sich als sicher erwiesen und die Menschen sind bereit, sich impfen zu lassen.
Manche Politiker halten es für wünschenswert, einen Impfstoff in den USA bis November 2020 zuzulassen, rechtzeitig vor den US-Präsidentschaftswahlen also. Das jedoch könne überstürzt wirken und das Vertrauen der Menschen in das Mittel untergraben, sagt Sandra Crouse Quinn, Verhaltensforscherin am Center for Health Equity an der University of Maryland in College Park.
Wenn es darum geht, einen dieser Pläne in die Tat umzusetzen, sagt Angus Dawson, »muss man den politischen Kontext berücksichtigen«.
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