Plastikmüll: Kehrwochen im Ozean
So weit das Auge reicht, dümpelt eine überdimensionale Wurst aus orangerotem Kunststoff auf dem Pazifik. 100 Kilometer soll das Riesending lang sein und Plastikmüll aufsammeln, der mit den Meeresströmungen auf diese Barriere zutreibt. Die Arbeit dürfte solchen Müllsammlern nicht so bald ausgehen. Schließlich sollen in den Ozeanen knapp 5000 Milliarden Plastikteilchen schwimmen, von Winzlingen, die nur unter dem Mikroskop zu sehen sind, bis hin zu Turnschuhen, Badeenten und Plastiktüten. Zudem driften jedes Jahr rund 4,8 bis 12,7 Millionen Tonnen Kunststoffmüll neu ins Meer, und das mit einer kräftigen Tendenz zur Zunahme. Als dünne Müllsuppe schwimmt diese Mischung auf der Wasseroberfläche, vergiftet Muscheln und andere Organismen, verstopft die Verdauungsorgane von Meeresschildkröten und Seevögeln. Wenn die riesige Plastikwurst schon einen Teil des Abfalls aus dem Wasser fischt, sterben weniger Tiere, hofft deshalb der Geschäftsführer des Unternehmens "The Ocean Cleanup" Boyan Slat.
Dabei ist die schwimmende Barriere momentan noch Zukunftsmusik. Getestet habe Boyan Slat und seine Mitarbeiter bisher jedenfalls nur eine Art Miniaturversion der geplanten 100 Kilometer langen Sperre: Im März 2014 bei den Azoren und im September des gleichen Jahres im Hafen von Rotterdam schwammen nur 40 Meter auf dem Wasser. Sie bestehen aus mit PVC beschichtetem Gewebe und damit aus einem der Kunststoffe, die später aus dem Wasser geholt werden sollen. Damit die Vorrichtung nicht davontreibt, wird sie am Meeresgrund verankert. Der lag allerdings bei den Azoren nur 25 Meter unter dem Wasserspiegel und damit in guter Reichweite. Im Pazifik dagegen beträgt die Wassertiefe einige tausend Meter. Wenn sie dort ihre PVC-Riesenwurst verankern wollen, betreten die Betreiber technisches Neuland.
Als Versuchsobjekte warfen Boyan Slat und seine Mitarbeiter eine Kunststoffboje, eine Plastikflasche und je ein mittleres und ein kleines Plastikstück über Bord eines Begleitboots und beobachteten deren Verhalten. Wie sie es vermutet hatten, trieben die von den Gezeiten ausgelösten Strömungen vor den Inseln die vier Teile zunächst auf die PVC-Barriere und später an deren Krümmung entlang auf ihre Mitte zu. Genau so soll später auch die fertige Anlage funktionieren: Im Pazifik treibt ein riesiger Wasserwirbel den Abfall im Kreis herum – der so genannte pazifische Müllstrudel. Wie groß die betroffene Fläche ist, lässt sich schwer abschätzen, da die Plastikkonzentration vom Zentrum des Wirbels nach außen hin offensichtlich kontinuierlich abnimmt. Je nachdem, bei welchem Plastikgehalt sie die äußere Grenze des Müllwirbels festlegen, kommen Forscher auf Flächen zwischen 700 000 und 15 Millionen Quadratkilometer. Der erste Wert entspricht etwa der doppelten Fläche Deutschlands und der zweite der eineinhalbfachen Fläche Europas.
Gelingt der Einsatz im großen Stil?
Sobald die Strömungen die Teilchen in das Sperrwerk und an diesem entlang bis in das Zentrum der Barriere getrieben haben, sollen sie dort mit einem Förderband aus dem Wasser geholt und in einem Silo oder in einem Frachtschiff deponiert und schließlich entsorgt werden. Allerdings haben sich die Planer auch in diesem Punkt noch nicht auf eine Methode festgelegt. Im Test bewegte sich der 70 Zentimeter über die Wasseroberfläche aufragende PVC-Schlauch mit den Wellen auf und ab, ohne vom Wasser und damit von den darin schwimmenden Plastikteilchen überspült zu werden. Demnach konzentriert sich der Müll wohl tatsächlich hinter der Barriere und könnte von dort aufgelesen werden. Das soll ein weiterer Test mit einer 100 Meter langen Barriere in der Nordsee vor der holländischen Küste im Lauf des Jahres 2016 zeigen.
Damit erschöpfen sich vorerst die praktischen Erfahrungen des Projekts. Der Rest des Konzepts besteht in einer mehr als 500 Seiten dicken Machbarkeitsstudie, an der rund 100 Forscher gearbeitet haben. An dieser Stelle setzt jedoch auch die Kritik an. Etliche Wissenschaftler, die sich wie Marcus Eriksen vom Five Gyre Institute in Los Angeles, Martin Thiel von der Universidad Catolica del Norte im chilenischen Coquimbo und Reinhold Leinfelder von der Freien Universität Berlin seit Jahren mit der Verschmutzung im Meer beschäftigen, haben nicht nur Zweifel an der technischen Durchführbarkeit des Vorhabens, das Boyan Slat als "die größte Reinigungsaktion der Geschichte" bezeichnet. Die Forscher sind vor allem davon überzeugt, dass der Kampf gegen die Plastikflut nicht erst im Meer, sondern viel früher ansetzen sollte.
Denn die Technik selbst hat an verschiedenen Stellen noch Stolpersteine. So sei die Verankerung der schwimmenden Barriere eine große Herausforderung, gibt die Organisation in der Machbarkeitsstudie selbst zu. Schließlich sei der Pazifik im Zielgebiet zwischen 1800 und 4800 Meter tief. Erfahrungen mit Verankerungen in diesen Tiefen gibt es praktisch keine; bisher erreicht die tiefste Verankerung nach Angaben von Boyan Slat 2400 Meter. Obendrein läge die Länge der gesamten Verankerungsstruktur nach seinen Angaben gleich um zwei Größenordnungen über dem bisherigen Rekordhalter solcher Offshore-Strukturen. Kurzum: Slat will mit dieser Vorrichtung in völlig neue Dimensionen vorstoßen.
In solchen Wassertiefen werden schwimmende Strukturen bisher aktiv "verankert": Über das Satellitenortungssystem wird die Position laufend ermittelt und mit Hilfe eines eigenen, computergesteuerten Antriebs gehalten. Das aber verbraucht sehr viel Energie – zumindest wenn die Barriere wie vorgesehen ihre Position zehn Jahre halten soll. Eine aktive Verankerung wäre daher enorm kostspielig und hätte etwa wegen des Energieverbrauchs auch negative Auswirkungen auf die Umwelt. Allerdings hat auch eine passive Verankerung ihre Tücken. So würden bei diesen Wassertiefen Stahlseile oder Ketten unter ihrem eigenen Gewicht reißen. Aus diesem Grund bevorzugen Slat und Co den erheblich leichteren Kunststoff Polyester als Material für die Ankerseile. Wie diese im Boden verankert werden sollen, bleibt ebenfalls vorerst offen, weil die Struktur des Meeresgrunds im ausgewählten Gebiet erst noch erkundet werden muss. Dennoch wurden schon die Kosten ausgerechnet. Sie sollen sich nur für die Verankerung auf 61,8 Millionen Euro summieren. Erfahrungsgemäß stimmen solche sehr genau klingenden Schätzungen mit den tatsächlichen Kosten des Projekts am Ende recht selten überein. Technik und Kosten der Verankerung bilden so einen starken Unsicherheitsfaktor für das gesamte Projekt.
Aufwand und Nutzen
Die weiteren Teile der Anlage sind bereits ebenfalls kalkuliert. So soll allein die schwimmende Barriere 97 Millionen Euro kosten. Weitere 20 Millionen Euro schlagen für die Plattform und ihre Ausrüstung inklusive Schredder für große Plastikstücke, Werkstatt und 50-Tonnen-Kran zu Buche – alles auf drei Stellen hinter dem Komma genau angegeben. Zu diesen Investitionen kommen noch die laufenden Kosten. Zwar soll die Plattform das konzentrierte Plastik mit nachhaltiger Sonnen- oder Windenergie aufsammeln und in einem Zwischenlager deponieren. Von dort wird der Kunststoffmüll alle sechs oder sieben Wochen von einem Schiff abgeholt und an Land gebracht. Insgesamt rechnet die Machbarkeitsstudie für diese Zeit inklusive der Investitionen mit 317 Millionen Euro Gesamtkosten. Die zwei Millionen Euro Startkapital hat der 1994 geborene Student der Luft- und Raumfahrttechnik über Crowdfunding zusammengebracht; den Rest werde er ebenfalls auftreiben, gibt sich Boyan Slat optimistisch.
Theoretisch könnte das Projekt sogar zum finanziellen Selbstläufer werden, denn der Plastikmüll ließe sich als Rohstoff verkaufen. 70 000 Tonnen Kunststoff könnte die Anlage insgesamt aus dem Nordpazifik fischen, kalkuliert die Machbarkeitsstudie. Um die 317 Millionen Euro Gesamtkosten wieder hereinzubekommen, müsste jede Tonne für 4529 Euro verkauft werden – die gängigen Weltmarktpreise 2016 brächten für die Tonne Kunststoffabfall jedoch nur rund 100 Euro ein. Gewinne sind in absehbarer Zukunft also kaum in Sicht. Der Unternehmer wird daher noch einiges Geld einsammeln müssen.
Die rechtliche Situation sei ebenfalls noch alles andere als übersichtlich, so die Machbarkeitsstudie. Da die hohe See zu keinem Staat gehört, kommt dort kein Rechtssystem eines Staats zur Anwendung – es sei denn, dort ist ein Schiff unterwegs, das in einem Staat registriert ist und dessen Flagge führt. Auf diesem Schiff gelten die Gesetze und Bestimmungen dieses Landes. Eine fest verankerte und große Konstruktion dürfte allerdings kaum als Schiff durchgehen, eher handelt es sich um eine künstliche Insel. Eine solche wiederum kann nach internationalen Gepflogenheiten durchaus auf hoher See errichtet werden. Schiffe müssen so einer Konstruktion dann ausweichen und bei einer 100 Kilometer langen Barriere einen deutlichen Umweg in Kauf nehmen.
So weit scheint diese rechtliche Frage klar. In den Meeren schwimmen jedoch auch Artefakte, die an anderer Stelle Juristen wieder zweifeln lassen: riesige Treibnetze mit bis zu 45 Kilometer Länge, mit denen vor 1990 Tintenfische aus dem Wasser geholt wurden. Diese Netze hatten einen starken Einfluss auf das gesamte Ökosystem, weil sie wahllos alles Leben aus dem Meer räumten, das größer als die Maschenweite war. Aus diesem Grund verboten die Vereinten Nationen sie mit einer Resolution. Boyan Slat und seine Mitarbeiter hoffen, dass die Vereinten Nationen diesen Entschluss nicht als Präzedenzfall für ihren Ozeankehrbesen interpretieren. Immerhin wären sie ja keine Umweltsünder, sondern würden die Umwelt vom Plastikmüll befreien.
Droht Beifang?
Relativ ausführlich beschäftigen sich die Beteiligten dagegen mit dem "Beifang": Arten, die in den Netzen oder am Haken landen, obwohl Fischer sie gar nicht fangen wollten. Da dies das Ökosystem schädigt, gibt es längst umfangreiche Regelwerke, um den Beifang möglichst gering zu halten und den Umgang mit den trotzdem irrtümlich gefangenen Arten festzulegen. Für den "Ocean-Cleanup" gelten diese Regeln eigentlich gar nicht, weil nicht Fische, sondern Plastik aus dem Meer gefischt werden soll, heißt es in der Machbarkeitsstudie. Ohnehin arbeitet das Projekt mit einer Barriere, von der eine Schürze drei Meter tief ins Wasser taucht. Die Strömungen dürften das mikroskopisch kleine Plankton in den oberen Wasserschichten darunter durchdrücken. Und größere Organismen könnten vermutlich aus eigener Kraft ausweichen, argumentieren die Technologen. Selbst wenn die Barriere das gesamte eingeschwemmte Plankton aufsammeln sollte, würde der Nordpazifik jedoch nur zehn Millionen Tonnen Plankton jährlich verlieren. Die Biomasseproduktion aller Weltmeere zusammen bräuchte dagegen nur sieben Sekunden, um diese in einem ganzen Jahr gerissene Lücke zu schließen, beruhigt Boyan Slat mögliche Kritiker.
Diese Kalkulation scheint jedoch eine Milchmädchenrechnung zu sein: Plankton ist ungleichmäßig über die Ozeane verteilt, und ausgerechnet das ausgewählte Zielgebiet gilt als ozeanische Wüste. Welche ökologischen Folgen das haben könnte, weiß niemand. Martin Thiel von der Universidad Catolica del Norte im chilenischen Coquimbo fürchtet: "Es könnten eine ganze Menge sein!" Der Meeresbiologe hat gute Gründe für diese Annahme. Seine Forschung konzentriert sich auf den natürlichen "Reiseverkehr" im Pazifik vor der chilenischen Küste: Dort schwimmt alles Mögliche, von riesigen Treibalgen und ganzen Baumstämmen bis zu verloren gegangenen Fischernetzen im Wasser. Auf diesem Treibgut tauchen rasch Passagiere auf. Winzige Algen und anderes Plankton heften sich an die schwimmenden Teile, Fische legen ihre Eier ab. Sie nutzen die natürlichen oder künstlichen Bojen nicht nur als willkommene Mitfahrgelegenheit, sondern in manchen Fällen auch als Schutz vor den Gefahren des Meers. Ein Wal zum Beispiel siebt mit seinen Barten riesige Mengen Kleinzeug aus dem Wasser, vor einem Baumstamm aber muss er kapitulieren. Auch deshalb werden feste und schwimmende Teile rasch besiedelt, wenn sie im Wasser landen. "Das gilt natürlich auch für Kunststoffteilchen", erklärt Thiel. Der Ocean-Cleanup wird also zusammen mit dem Plastikmüll jede Menge Organismen aus dem Wasser fischen – beispielsweise Quallen, die sich passiv treiben lassen.
Nur ein zweifelhafter Erfolg
Den finanziellen und ökologischen Risiken steht ohnehin ein zweifelhafter Erfolg gegenüber. 70 000 Tonnen Plastik klingen als Ziel gewaltig und entsprechen immerhin mehr als 40 Prozent der gesamten Kunststoffmenge im Nordpazifik. Und im weltweiten Vergleich klingt der Wert nicht schlecht, denn in allen Meeren zusammen sollen 269 000 Tonnen Plastik unterwegs sein, haben Marcus Eriksen vom Five Gyre Institute in Los Angeles und seine Kollegen im Dezember 2014 in "PLoS One" ausgerechnet. Damit hätte der Ocean-Cleanup in einem Jahrzehnt immerhin mehr als ein Viertel des vorhandenen Plastiks aus dem Meer gefischt.
Diese niedrigen Zahlen sind jedoch umstritten, denn Jenna Jambeck von der University of Georgia in Athens und ihre Kollegen kalkulieren, dass allein im Jahr 2010 mehrere Millionen Tonnen Plastikmüll in die Ozeane geschwemmt worden sein dürften. Die Forscher hatten dabei alle Gebiete in 192 Ländern der Welt betrachtet, die nicht weiter als 50 Kilometer von der nächsten Küste entfernt sind. Entsorgen die Menschen dort nicht mehr benötigte Kunststoffe nicht ordnungsgemäß und lassen zum Beispiel Plastiktüten oder Einwegflaschen offen herumliegen, werden sie leicht vom Wind weggeweht oder vom Regen in das nächste Gewässer geschwemmt. Nach einiger Zeit landet das Plastik dann im Meer. Und diese Flut wird von Jahr zu Jahr größer; allein in Asien könnte sich die Menge bis 2025 verdoppeln
Fischen also Boyan Slat und seine Kollegen in zehn Jahren mit Gesamtkosten von mehreren hundert Millionen Euro 70 000 Tonnen Plastik aus dem Nordpazifik, haben sie damit gerade einmal rund ein Promille des Kunststoffs erwischt, der in der gleichen Zeit in die Weltmeere geschwemmt wurden. Und damit schrumpft der teuer erkaufte Erfolg praktisch zur Bedeutungslosigkeit. Wie kommt es aber zur Diskrepanz der Zahlen? Einen starken Verdacht hegen Martin Thiel und Marcus Eriksen mit ihren Kollegen: Großes Treibgut überdauert im Salzwasser nicht lange. So macht das ultraviolette Licht der Sonne den Kunststoff zerbrechlicher, und die ständigen Wellen zerbröseln das Plastik dann in immer kleinere Teilchen. Bald sind die so klein, dass viele nur noch unter dem Mikroskop sichtbar sind. "Wie gigantische Mahlströme zerlegen diese Müllwirbel das Plastik also immer stärker", erklärt Thiel.
Zwischenlager Nahrungskette?
Als die Forscher ausrechneten, wie viele solche kleinen Partikel aus den gemessenen größeren Kunststoffteilen entstanden sein sollten, erlebten sie eine Überraschung: "Wir hatten mit unseren Netzen weniger als ein Prozent der kleinsten Teilchen aus den Meeren gefischt, die sich nach diesen Berechnungen bilden sollten", wundert sich Martin Thiel. Dafür aber fällt den Forschern nur eine Erklärung ein: das Leben im Meer. Je kleiner die Partikel werden, umso leichter können die Wasserorganismen sie aufnehmen. Tatsächlich finden Forscher sie in den Verdauungsorganen von Fischen und vielen anderen Meeresbewohnern. Solche Indizien geben einen klaren Hinweis: Ein großer Teil des vermissten Plastiks könnte in die Nahrungskette wandern, steckt also im Plankton, in Fischen und anderen Tieren der Ozeane, was wiederum deren Gesundheit und Fortpflanzung schadet. "Sie fühlen sich mit Plastik im Magen satt und verhungern dabei", fasst Thiel eine der paradoxen Folgen zusammen.
Und als Rossana Sussarellu vom Meeresinstitut der französischen Forschungsorganisation CNRS in Plouzané in der Bretagne und ihre Kollegen pazifischen Austern winzige Mikroplastikpartikel mit sechs Mikrometer Durchmesser in das Wasser ihrer Zuchtbecken gaben, bekamen die Weichtiere erhebliche Probleme bei ihrer Vermehrung. Ihre Samen waren viel langsamer, sie legten weniger Eier, die zudem kleiner waren, und die Nachkommen wuchsen langsamer, berichten die Forscher.
Thiel und Co halten daher einen anderen Ansatz als den von Slat für dringlicher: "Zuallererst müssen wir die enorme Plastikflut effektiv verringern – und das am besten lange bevor sie das Meer erreicht." Zu dieser Erkenntnis kommen auch Peter Sherman und Erik van Sebille vom Imperial College in London in den "Environmental Research Letters": Um die Auswirkungen auf das Ökosystem möglichst gering zu halten, sei es viel effektiver, den Plastikmüll statt auf hoher See in der Nähe der Küste aus dem Meer zu holen. Am meisten Erfolg versprechen solche Unternehmen vor China und Indonesien, weil dort die Wirtschaft und damit auch die Produktion von Plastik boomen. Beide Länder gelten international als die größten Plastikmüllproduzenten, und ihre Erzeugnisse landen oft im Meer. Die Europäische Union im Ganzen folgt erst auf Platz 18, die USA erstaunlicherweise auf Platz 21.
Noch mehr technische Ansätze
Hier wollen Günther Bonin und die von ihm gegründete Organisation One Earth – One Ocean ihre Netze für Plastikmüll ausbringen. Ähnlich wie Boyan Slat ist auch Günther Bonin kein Profi in Sachen Meereswissenschaften oder Plastikmüll, als er im Jahr 2009 vor der nordamerikanischen Pazifikküste durch ein Meer an Kunststoffen segelt. "Als ich nach der Reise herausfand, dass sich niemand um die Müllabfuhr in den Ozeanen kümmert, hat es bei mir 'klick!' gemacht", erinnert sich der Inhaber einer Informationstechnologiefirma. Danach tüftelte er Möglichkeiten aus, den Plastikabfall aus dem Wasser zu fischen, und gründete 2011 One Earth – One Ocean. Anders als Slats Großprojekt setzt er zu Beginn auf kleinere Maßnahmen.
Die kleinste Einheit nennt Bonin "Seehamster". Ein Prototyp hat bereits 2012 Plastik aus Binnengewässern und Binnenmeeren wie der Ostsee geholt. Das Ganze ist ein kleiner Katamaran mit zwei jeweils vier Meter langen Schiffsrümpfen, die nicht viel mehr als schwimmende Zylinder sind. Dazwischen hängt ein Rahmen mit einem Netz, dessen Maschen ein Zentimeter groß sind. Seehamster dieser Bauweise fahren mit kleinen Elektromotoren, können aber auch von Booten geschleppt werden. Sie können ebenso an einer Flussmündung verankert werden und dort den vorbeischwimmenden Plastikmüll aufsammeln. 2015 war bereits die dritte Generation des Seehamsters unterwegs.
Eine Nummer größer ist die "Seekuh", die momentan gebaut wird. "2017 und 2018 soll dieses Arbeitsboot auf Tournee gehen und in verschiedenen Gewässern erprobt werden", erklärt Bonin. Genau wie der Seehamster ist auch die Seekuh ein Katamaran. Allerdings sind die beiden Rümpfe zwölf Meter lang und liegen zehn Meter auseinander. Im Zwischenraum werden zwei Netze mit 2,5 Zentimetern Maschenweite gespannt, die drei oder vier Meter tief ins Wasser tauchen. Die Seekuh hat zwei Antriebe, die im Prototyp konventionell sein werden, später aber durchaus Sonnen- und auch Windenergie nutzen könnten. Damit beschleunigt das Arbeitsboot auf zwei Knoten und erreicht so das Tempo eines Fußgängers. Diese niedrige Geschwindigkeit spart nicht nur Energie, sondern gibt den größeren Lebewesen im Wasser die Chance auszuweichen, während kleinere Organismen durch die Maschen der Netze passen.
Auf dem Deck steht ein Häuschen, in dem ein Wissenschaftler mit einem Infrarotspektrometer den Müll unter die Lupe nimmt und so ermitteln kann, welchen Kunststofftyp die Seekuh aus dem Wasser fischt. Bewährt sich das Konzept, könnte die Besatzung wegfallen, und nicht nur eine einzige, sondern gleich ganz viele Seekühe könnten automatisch an der Küste navigieren und dabei Müll aufsammeln. Dabei denkt Günther Bonin zum Beispiel an die Bucht von Rio de Janeiro, aus der jeden Tag rund 150 Tonnen Kunststoff in Richtung offener Atlantik treiben. Da sie auf einer Fahrt nur zwei oder allenfalls drei Tonnen Plastik aus dem Wasser fischen kann, braucht man für einen spürbaren Effekt jedoch einige dieser Arbeitsboote.
Ist ein Netz voll, hängt die Seekuh Bojen daran, übermittelt die Position an eine Zentrale und lässt das Ganze dann im Meer treiben. Dorthin fährt ein weiterer Katamaran, den Bonin aus gutem Grund "Seefarmer" nennt: "Er bringt die Ernte ein und fährt sie in die Scheune", erläutert er. Diese "Scheune" steht nicht an Land, sondern schwimmt auf dem Wasser und heißt "Seeelefant" – ein Tanker mit der für solche Schiffe heutzutage üblichen doppelten Schiffswand. An Bord wird der eingesammelte Plastikmüll sortiert und anschließend auf mehrere hundert Grad Celsius erhitzt. Die Masse verflüssigt sich und kann so in schwefelfreies Heizöl umgewandelt werden, das an Bord in Tanks gelagert wird. 20 bis 30 Prozent des so gewonnenen Treibstoffs verbrennt der Seeelefant für seinen eigenen Betrieb. Den Rest verkauft er an Schiffe, die seine Route kreuzen, und finanziert mit dem Erlös einen Teil seiner Kosten. Übrig bleibt bei diesem Prozess allerdings auch Kokskohle, die später an Land entsorgt werden muss.
Inzwischen hat Günther Bonin ausgerechnet, dass zwei Angestellte an einem Tag mit den Seefarmern 200 Tonnen Plastikmüll einsammeln und zum Seeelefanten bringen können. Da er nach eigenen Angaben bereits heute eine Tonne Plastikmüll für 100 Euro verkaufen kann, könnte sich diese Sammelaktion langfristig sogar lohnen. Martin Thiel setzt dennoch weiterhin darauf, das Einsammeln auf lange Sicht überflüssig zu machen: "Wir müssen einfach die Quellen verstopfen und verhindern, dass Kunststoffe unkontrolliert in die Umwelt und damit letztendlich ins Meer gelangen", meint der deutsche Meeresbiologe. Das wäre vor allem deutlich billiger. Selbst dazu hat Bonin bereits eine Idee: "Wir könnten natürlich den Menschen in Südostasien einen kleinen Betrag für jedes Kilogramm Plastikabfall bezahlen, das sie uns geben und das so nicht in die Umwelt gelangt", überlegt er. Das wäre noch billiger und effektiver als jede Sammelaktion auf dem Meer.
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