Hartmut Heinrich: Der verkannte Forscher aus Hamburg
Der Stein des Anstoßes liegt bei Hartmut Heinrich im Regal, etwa auf Brusthöhe. Der Geologe greift mit beiden Händen zu, vorsichtig, doch mit Kraft, denn der Fels ist schwer. Er legt den Basaltblock auf den Tisch in seinem Büro, vor die Weltkarte. Den 30 Zentimeter langen, leicht rhombusförmigen Stein bedeckt oben und unten eine rote und schwarze Schicht, nur in der Mitte zeigt ein zwei Zentimeter breiter Streifen die wahre Farbe des grauen Vulkangesteins.
Zwei lange Reisen hat der Klotz hinter sich, sagt Heinrich, die erste per Eisberg aus der Polarregion in die Iberische Tiefsee nordwestlich des spanischen Pilgerorts Santiago de Compostela, die zweite per Schiff von dort nach Hamburg. Sein Streifen erzählt von einer Vergangenheit, in der die Erde immer wieder plötzliche, dramatische Klimaveränderungen erlebt hat, und von einer Zukunft, in der das wieder passieren könnte. Und er erzählt vom Verlauf von Heinrichs Karriere und einer Wendung, einer möglichen Zukunft, die diesem vor Jahrzehnten versagt blieb.
Heinrich ist ein "unbekannter weltberühmter Klimaforscher aus Hamburg", so formulieren es der Meteorologe Hans von Storch und der Geologe Kay Emeis, beide von der Universität der Hansestadt, in einem Interview. Anlass für das Gespräch war Heinrichs 65. Geburtstag Anfang März 2017. Seine Arbeit habe der Wissenschaft "neue, interessante, ja aufregende Perspektiven der Klimadynamik und des Klimawandels" eröffnet, schreiben die Autoren. Gerade die deutsche Wissenschaft hat den Geologen aber lange ignoriert. Der "Anstoß", den Heinrichs Stein lieferte, war hier weniger Auslöser als Aufreger.
Verheerende Eisbergflotten
Hartmut Heinrich ist Referatsleiter am Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) in Hamburg. Der Mann mit dem grauen Dreitagebart verantwortet dort die Abteilung für Physik der Meere; "Direktor und Professor" steht auf seiner Visitenkarte. Doch besondere Glorie ist mit keiner der beiden Amtsbezeichnungen verknüpft. Sein Büro ist bescheiden und blickt auf den Innenhof, nicht über die Elbe – dabei residiert seine Behörde an der Bernhard-Nocht-Straße über den berühmten Landungsbrücken. Und er hält auch nirgends Vorlesungen, obwohl er etwas zu sagen hätte, schließlich ist sein Name in einem wissenschaftlichen Fachbegriff aufgegangen: Die Heinrich-Ereignisse sind nach ihm benannt.
"Ihre Entdeckung war wichtig für unser heutiges Verständnis des Klimas und für die Geowissenschaften allgemein", sagt Jeremy Bassis von der University of Michigan, der gerade ein Paper über diese plötzlichen Veränderungen des Klimas veröffentlicht hat. "Und obwohl er berühmt ist, hat er mir sofort eine E-Mail geschrieben und sich nach Details erkundigt." Ähnlich sieht es Gregor Knorr vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. "Das ist definitiv kein Museumsbefund, die Beobachtungen in ihrer Klarheit haben deutliche Spuren in der aktuellen Forschung. Sie haben uns die Komplexität und hochgradige Nichtlinearität verschiedener Komponenten im Klimasystem verdeutlicht."
Heinrich hat damals sehr viel aus dem grauen Streifen des fraglichen Steins herausgelesen. Der Felsblock mit dem auffälligen Muster wurde Mitte der 1980er Jahre von einem deutschen Forschungsschiff ans Tageslicht gebracht. Er muss irgendwann in der letzten Eiszeit mit einem Eisberg in die Iberische Tiefsee gelangt sein. "Er lag lange Zeit vier Kilometer tief auf dem Meeresgrund, und die Sedimente wuchsen um ihn herum an", erzählt der Geologe. "Doch vor etwa 14 500 Jahren kamen oben plötzlich ganz viele Eisberge an. Sie brachten große Mengen kristallklare, scharfkantige Bruchstücke von Quarz mit, die um den Block herum niedergingen. Und das Wasser zu jener Zeit muss nahezu sauerstofffrei gewesen sein, so dass sich Metallverbindungen aus dem Stein lösen konnten. Als dann die normale sauerstoffhaltige Sedimentation wieder einsetzte, schlugen sich solche Metallionen in Form von roten Eisen- und schwarzen Manganoxiden oben und unten auf dem Stein nieder." Nur der Streifen, der im Quarzsand steckte, blieb ungefärbt.
Um das Muster zu erzeugen, das Heinrich auf dem Stein sah, musste die Zufuhr von Sauerstoff in der Tiefsee für einige Jahrhunderte unterbrochen worden sein. Das chemische Element gelangt von der Oberfläche in das Wasser am Meeresgrund, wenn vor Grönland kaltes Salzwasser in die Tiefe sinkt und dort langsam gen Süden strömt. Es zieht oben warmes Oberflächenwasser von Süden nach – so entsteht der Golfstrom, Europas Fernheizung. Der Wärmetransportmechanismus lag offenbar vor 14 500 Jahren darnieder, als der Quarzsand auf den Basaltblock regnete.
Das Ende des Golfstroms
Und genau das ist es, was man heute unter Heinrich-Ereignissen versteht. Sechsmal in der Hauptphase der letzten Eiszeit löste sich vom großen Eisschild über dem Nordpol, der damals weit herunter nach Kanada und Skandinavien reichte, eine Armada von Eisbergen. Sie brachten nicht nur eine große Menge scharfkantiger Sedimente mit, sondern auch viel Frischwasser. Als sie schmolzen, stieg der damals niedrige Eiszeitmeeresspiegel schnell um einige Meter an. Der Salzgehalt des Nordatlantiks nahm so stark ab, dass 750 Jahre lang keine Wassermassen mehr in die Tiefe sanken und somit kein warmer Golfstrom nachfloss. In Europa wurde es schlagartig etliche Grad Celsius kälter.
Heinrichs ursprüngliche Veröffentlichung von 1988 enthielt dieses Szenario nur in Ansätzen. Er beschrieb im Detail elf Lagen ungewöhnlicher Sedimente im Atlantik, sechs davon in der Hauptphase der Eiszeit, erwähnte Salzgehalt, Temperaturen und Klima aber nur sehr allgemein. "Mir fehlte damals die instrumentelle Ausstattung für genauere Analysen und auch die Zeit." Überhaupt so weit gekommen zu sein, war großes Glück. "Dass der Stein in einer der Proben lag und dass ich an Deck war, als er geborgen wurde – reiner Zufall." Was ihm damals durch den Kopf ging, als er Ursachen und Folgen durchdachte, sei allerdings "seither in 30 Jahren Klimaforschung bestätigt worden".
Die Bedeutung des Fundes arbeiteten Wissenschaftler in den USA, Großbritannien und Frankreich aus. Darunter war zum Beispiel Wally Broeker von der Columbia University in New York, der die Aussage bald aus eigenen Messungen bestätigte und für sich in Anspruch nimmt, den Fachbegriff Heinrich-Event geprägt zu haben. Ihm wird auch die Namensgebung der etwa zur gleichen Zeit entdeckten Dansgaard-Oeschger-Ereignisse zugeschrieben, benannt nach einem dänischem und einem Schweizer Wissenschaftler. Danach stiegen die Temperaturen auf Grönland etwa alle 1500 Jahre schnell um zehn oder mehr Grad an, insgesamt 23-mal während der Eiszeit. Bei einem guten Viertel gingen kühlende Heinrich-Ereignisse voraus, sie kamen etwa alle 7000 Jahre vor. "Sie blieben zunächst Kuriositäten", erinnert sich Broeker in einem Vorwort zu dem Interview mit von Storch und Emeis, "bis sich zeigte, dass gewaltige hydrologische Veränderungen in den Tropen passierten, wenn diese Eisberg-Armadas auftauchten."
Verkannt im eigenen Land
Der Nachweis solcher globaler Fernwirkungen brachte den Durchbruch: 1992 bei einem Kongress in Kiel hielten internationale Forscher wohl ein Dutzend Vorträge über Heinrich-Events, erinnert sich der Entdecker. Er benutzt den Fachbegriff heute so neutral und selbstverständlich, als habe der gar nichts mit ihm zu tun. Weder besonderer Stolz noch kokettes Zögern sind in seiner Stimme zu hören. Heinrich ist kein Mann, der ständig im Mittelpunkt stehen will, aber er weiß um die Bedeutung seiner Entdeckung.
Der internationalen Anerkennung stand Missachtung in Deutschland gegenüber. "Hier nahm man meine Arbeit vor allem übel", sagt Heinrich. "Ich gehörte ja nicht zur Familie, hatte für die Promotion in Bermuda gearbeitet und Kies in Schleswig-Holstein gesucht, und ich besaß keine Erfahrung mit der Tiefsee oder Eiszeiten. Aber vielleicht muss man ja Außenseiter sein, um Dinge wahrzunehmen, die Insider übersehen."
Und Heinrich blieb Außenseiter. Die Universitäten, so hat er es jedenfalls erlebt, interessierten sich nicht für ihn. Er schildert "unerfreuliche" Erlebnisse: Kollegen, mit denen er auf einem Forschungsschiff gefahren war, grüßten ihn nicht mehr, Professoren verbrachten Jahre mit dem vergeblichen Versuch, die Entdeckung zu widerlegen, andere bezichtigten ihn des Diebstahls von Proben oder gar von Ideen. Letztlich lösten sich diese Vorwürfe aber in Luft auf.
Nachzuvollziehen sind diese Kabalen auf Grund der zeitlichen Distanz heute nicht mehr. Fest steht allerdings: Heinrich wechselte nicht in die akademische Welt, bei der Behörde beschäftigte er sich unter anderem mit Hamburger Hafenschlick. Zurzeit kümmert er sich vor allem um den Klimawandel und das internationale Forschungsprogramm Argo. Es bündelt die Messungen von autonomen Bojen eines standardisierten Typs, die in allen Weltmeeren regelmäßig zwischen der Oberfläche und zwei Kilometer Tiefe tauchen und Daten über das Wasser sammeln.
Der Behördenjob steht bis heute in Kontrast zur Bedeutung des Geologen in der wissenschaftlichen Literatur. Seine Veröffentlichung von 1988 sei mindestens 1500-mal zitiert worden, sagt er. Zuletzt offenbar vom Team um Jeremy Bassis von der University of Michigan. Es hat im Februar 2017 per Computersimulation festgestellt, dass eine Erwärmung des Ozeans um weniger als ein Grad Celsius die Ereignisse auslösen kann, wenn das Wasser die Stabilität großer Eisschilde von unten gefährdet. Dafür müssen diese nicht einmal die Größe wie in der letzten Vereisung haben. Andere Forscher hingegen meinen, die heutigen Eiskappen enthielten nicht mehr genügend Material, um eine klimawirksame Armada von Eisbergen auszusenden.
Das Monster unterm Bett
Heinrich teilt die Sorge der Forscher in Michigan: "Die Zeichen mehren sich, dass wir heute Heinrich-Ereignisse in Grönland und der Antarktis auslösen könnten." Er zeigt an der Weltkarte in seinem Büro, welche Folgen der Meeresspiegelanstieg hätte. "Hier, die großen Flussdeltas am Nil, Niger, Mississippi, in China, Pakistan, Indien und Bangladesch. Da leben hunderte Millionen von Menschen auf ziemlich flachem Land." Die Welt müsste bei einem drastischen Anstieg der Meere das Problem lösen, gewaltige Zahlen von Klimaflüchtlingen unterzubringen.
Der Meeresspiegel könnte um zwei bis drei Meter ansteigen. "So viel höher können sie die Deiche überhaupt nicht mehr bauen", warnt der Geologe – auch nicht dort, wo zum Beispiel in Europa bereits große Wälle vor Hochwasser schützen. Die Küsten Amerikas, an denen es heute noch fast keinen Küstenschutz gibt, wären kaum zu halten. Und ein Abreißen des Golfstroms hätte für die europäischen Anrainer des Atlantiks katastrophale Folgen: Die Temperaturen könnten trotz der globalen Erwärmung um einige Grad sinken. Ein Blogger in den USA hat ein solches Szenario bereits als "Heinrich-Monster" bezeichnet, das die Menschheit unbedingt unter dem Bett lassen solle.
Ob sich Heinrich selbst demnächst stärker in die Forschung zum Thema einmischt, weiß er noch nicht. Er wird am 30. September pensioniert. Wenn er aus seinem Büro auszieht, soll sein Stein des Anstoßes, der ja genau genommen dem Staat gehört, in ein Museum umziehen. "Er hat schließlich Wissenschaftsgeschichte geschrieben."
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