Sars-CoV-2 in Neuseeland: »Wir dachten, wir hätten das Virus besiegt«
Bis vor einer Woche galt Neuseeland noch als Vorbild dafür, wie man mit frühen und strikten Maßnahmen das neue Coronavirus erfolgreich eindämmen kann. Seit Anfang Mai hatte sich den offiziellen Zahlen zufolge im Land selbst niemand mehr mit Sars-CoV-2 angesteckt. Doch dann kam am 11. August die Wende, als in Auckland neue Fälle gemeldet wurden. Amanda Kvalsvig ist Epidemiologin an der University of Otago in Wellington und hat das Land bei seiner Reaktion auf Covid-19 unterstützt. Im Interview spricht sie über das entschlossene Handeln der Verantwortlichen und darüber, ob es überhaupt noch möglich ist, das Virus, wie von der neuseeländischen Regierung anvisiert, zu eliminieren.
Wie hat sich die Stimmung in Neuseeland verändert?
Die neuen Fälle waren ein Schock. Als sie bekannt gegeben wurden, gab es in Neuseeland mehr als 100 Tage, in denen trotz umfangreicher Tests keine Übertragung innerhalb der Bevölkerung festgestellt werden konnte. Das Land befand sich auf der niedrigsten Alarmstufe, die ein nahezu normales Leben ermöglichte, abgesehen von strengen Kontrollen, die Reisende aus Übersee dazu verpflichteten, zwei Wochen in einer Quarantäneeinrichtung zu verbringen. Es herrschte der Eindruck, dass wir das Virus besiegt hätten – obwohl Regierungsbeamte und Gesundheitsexperten vor Selbstgefälligkeit warnten. Nun ist die Angst weit verbreitet. Menschen stehen in langen Schlangen vor Covid-19-Teststationen, und manche machen Panikkäufe in Supermärkten.
Und wie hat das Gesundheitswesen auf die neuen Infektionen reagiert?
Die Reaktion war rasch und wurde durch entschlossene Maßnahmen der Regierung unterstützt. Für die Region Auckland, in der die Fälle entdeckt wurden, gilt nun Alarmstufe drei, die zweithöchste von vier Warnstufen. Die Menschen sind angewiesen, ihre Häuser nur aus wichtigen Gründen zu verlassen. Der Rest des Landes befindet sich auf Alarmstufe zwei, die Maßnahmen zur physischen Distanzierung und Beschränkungen für Massenversammlungen umfasst. Personen mit Covid-19 sowie ihre Kontakte werden getestet und nachverfolgt. Dies sind die bekannten Maßnahmen. Es gibt aber auch einige neue Ansätze. So empfiehlt die Regierung, beispielsweise Gesichtsmasken zu tragen, und Menschen, bei denen eine Infektion nachgewiesen wurde, verbringen ihre Isolationsperiode künftig in speziellen Einrichtungen statt zu Hause.
Gemeinsam mit anderen Gesundheitsexperten habe ich mich nachdrücklich für die bevölkerungsweite Verwendung von Masken ausgesprochen. Sie könnte dem Land helfen, künftige Lockdowns zu verhindern. Klare Empfehlungen zu Risiken wären ebenfalls hilfreich. So gibt es zum Beispiel Hinweise darauf, dass das Virus leicht in geschlossenen Räumen übertragen wird, in denen die Menschen laut sprechen, lachen und singen. Dies verändert unsere Sicht auf Großveranstaltungen und gibt uns ein differenzierteres Gefühl dafür, wo die Risiken liegen.
Was weiß man über die Quelle des Ausbruchs?
Die neuen Fälle kamen ans Licht, als eine Person im Alter von etwa 50 Jahren Symptome entwickelte und sich testen ließ. Nachdem dieser Test positiv ausfiel, wurden auch die übrigen Mitglieder des Haushalts und andere Kontakte getestet, um weitere Fälle zu identifizieren. Alle neuen Fälle scheinen Teil desselben Clusters zu sein, doch wir wissen noch nicht, wann das Virus genau zurück ins Land kam. Das ist beunruhigend, denn so bleibt unklar, wie lange dieser Ausbruch bereits schwelt und wie viele andere Fälle wir möglicherweise übersehen haben. Im Idealfall ermöglichen es Untersuchungen den Gesundheitsbehörden, zunächst die Quelle jeder einzelnen Infektion zu identifizieren und anschließend weitere enge Kontakte dieser Quelle ausfindig zu machen. Die Behörden untersuchen derzeit die Möglichkeit, dass das Virus auf einer Verpackung im Kühlhaus angekommen ist. Es ist sicherlich sinnvoll, dieser Spur nachzugehen, aber die bisherigen weltweiten Erfahrungen mit Covid-19 deuten darauf hin, dass der Ausbruch viel wahrscheinlicher durch engen Kontakt von Mensch zu Mensch entstanden ist, entweder auf dem Weg nach Neuseeland oder während der Quarantäne an der Grenze.
Könnte sich das Virus bereits seit einiger Zeit unbemerkt in der Bevölkerung verbreitet haben?
Es ist möglich, dass mehrere Schritte zwischen den aktuellen Fälle und dem Fall oder den Fällen liegen, mit denen das Virus wieder zurück ins Land kam. In etwa einem Drittel der Fälle verursacht Covid-19 keine Symptome, so dass sich eine Übertragungskette über mehrere Generationen hinweg ausbreiten könnte, bevor es jemandem schlecht genug geht, um einen Test durchführen zu lassen. Zudem machen es Husten und Erkältungen im Winter schwieriger, Ausbrüche von Covid-19 zu identifizieren. Neuseeland nutzt ein Überwachungssystem, um grippeähnliche Erkrankungen zu verfolgen. In den vergangenen Wochen hatten wir keinen signifikanten Anstieg zu verzeichnen; tatsächlich liegt die Inzidenz immer noch weit unter dem, was wir zu dieser Jahreszeit normalerweise gewohnt sind. Das ist ermutigend, denn es deutet darauf hin, dass wir vermutlich keinen massiven Covid-19-Ausbruch übersehen haben, auch wenn wir in den kommenden Tagen sicher weitere Fälle entdecken werden. Es ist wahrscheinlich, dass das Virus erst vor Kurzem über die Grenze gelangt ist. Es wäre jedoch gut, zu wissen, wann und wie genau das passiert ist.
Was könnte uns die Genomik über den jüngsten Ausbruch verraten?
Die genomische Epidemiologie ist ein leistungsstarkes Instrument, um Ausbrüche bis zur Quelle zurückzuverfolgen. Deshalb ist sie besonders relevant für die aktuelle Situation, in der der ursprüngliche Fall noch unbekannt ist. Genomsequenzierung wurde bereits Anfang des Jahres zur Untersuchung von Covid-19-Clustern in Neuseeland eingesetzt. In mehreren Fällen konnten die Forscher Fälle mit einem bekannten Cluster in Verbindung bringen, selbst wenn die herkömmlichen Methoden des Gesundheitswesens versagten. Und umgekehrt lassen sich so auch Fälle identifizieren, in denen Infektionen durch engen Kontakt der betreffenden Personen miteinander verbunden zu sein scheinen, in Wirklichkeit aber zu getrennten Clustern gehören. Wenn sich herausstellt, dass alle Fälle in Auckland aus einem Cluster stammen, ist das eine gute Nachricht für die Ausbruchskontrolle. Gibt es aber mehr als einen Cluster, deutet dies auf eine weiter verbreitete Übertragung hin.
Neuseeland hat bislang auf die Eliminierung des Virus gesetzt. Legt der jüngste Ausbruch nahe, dass dies nicht möglich ist?
Wir wissen, dass eine Eliminierung möglich ist, weil Neuseeland es schon einmal geschafft hat, die Übertragung des Virus in der Bevölkerung komplett zu unterbinden. Wir gehen davon aus, dass wir uns in absehbarer Zeit immer wieder in diesen Zustand hinein- und aus ihm herausbewegen werden. Das Ziel ist es, die Übertragung in der Bevölkerung weiterhin komplett zu unterbinden. Doch Infektionen, die über die Grenzen von außen eingeschleppt werden, werden das Land immer wieder bedrohen. Kein Grenzkontrollsystem ist zu 100 Prozent sicher. Doch da wir von einem Punkt aus starten, an dem wir das Virus bereits einmal eliminiert haben, sollte es machbar sein, jeden neuen Ausbruch mit den uns zur Verfügung stehenden Kontrollmaßnahmen einzudämmen, einschließlich Fall- und Kontaktmanagement, physischer Distanzierung und Maskennutzung.
Wir hatten das Glück, in Neuseeland eine hervorragende politische und wissenschaftliche Führung zu haben. Das hat zu schnellen und entschlossenen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung geführt. Ein Schlüsselelement der neuseeländischen Reaktion war außerdem die ausgezeichnete Kommunikation mit der Bevölkerung über das, was geschieht und was von ihr erwartet wird.
Die strengen Maßnahmen haben viele Menschen in Not gebracht. Dass sie trotzdem weiterhin befolgt werden, ist ein Zeichen für das Vertrauens, das die Menschen derzeit ihrer Regierung entgegenbringen. Wir haben enormes Mitgefühl und Einfallsreichtum im ganzen Land erlebt. Die Kontrollmaßnahmen haben die einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, vor allem die Maori und die Bewohner der Pazifikregion, besonders hart getroffen. Doch die Gemeindeorganisationen, hauptsächlich die der Maori, haben wichtige Unterstützung geleistet. Sie haben Lebensmittelpakete verteilt und die Gesundheits- und Sozialdienste neu ausgerichtet, damit auch die Bedürftigsten Zugang haben.
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