Önologiehistorie: Wie schmeckt Champagner nach 170 Jahren?
Der Grund der Ostsee – vier bis sechs Grad Celsius, niedriger Salzgehalt, dezent pressender Druck – ist offenbar kein schlechter Aufbewahrungsort für Champagnerflaschen. Zumindest lassen sich auch 17 Jahrzehnte unfreiwillig am Meeresgrund gelagerte Bouteillen durchaus noch probieren: Geübte Zungen erkennen einen Hauch von nassem Haar und tierische Noten. Weitere Einzelheiten über Geschmack und die Eigenheiten der Champagnerproduktionsmethode im 19. Jahrhundert liefert nun ein vielköpfiges Forscherteam um Philippe Schmitt-Kopplinvon der TU München: Es hatte mit unterschiedlichsten Methoden Proben von 170 Jahre altem Champagner analysiert und verkostet. Die (sehr) gut gereiften Schaumweine waren aus einem Wrack vor Finnland geborgen worden, wo einige seit dem Untergang eines Transportschiffes unbeschädigt überdauert hatten.
Der Schoner unbekannten Namens war wohl um das Jahr 1840 herum mit seiner kostbaren Fracht gesunken: Neben Champagner hatte er unter anderem auch Bier geladen. Spektakulärer waren für die Entdecker des Wracks 2005 aber 168 Stück heil angelandete Champagnerflaschen, die schließlich teilweise versteigert, teilweise aber auch zu wissenschaftlichen Analysen zurückgehalten worden waren.
Ein noch im Taucheranzug vorgenommener, beherzter Testschluck der Erstentdecker hatte auch schon vermuten lassen, dass wohl "sehr alter Champagner" in den Flaschen verblieben war. Die Provenienz der Bouteillen, deren Etiketten sämtlich längst zerfallen waren, verriet sich schließlich an den Korken: Der Champagner stammte aus den berühmten Häusern Veuve Clicquot Ponsardin und Heidsieck sowie der Kellerei Juglar, die 1832 von Jacquesson übernommen wurde. Diese ältesten Flaschen müssen demnach vorher verkorkt worden sein.
Die chemischen und gustatorischen Analysen von drei Proben des alten Getränks geben nun viele Hinweise darauf, wie die Champagnerproduzenten im 19. Jahrhundert ihr Handwerk versahen. Auffällig fanden die Analytiker etwa die hohen Werte von Metallkationen im alten Schaumwein. Die profane Erklärung hierfür wäre, dass der Traubensaft oder die Maische einst in Metallbehältern gelagert wurde oder vielleicht mehr von der zweiten, etwas saureren und am Ende metallreicheren "Taille"-Pressung weiterverwendet wurde als heute üblich – beides würde aus heutiger Sicht die Qualität des Endprodukts beeinträchtigen. Möglich, und nach alten Aufzeichnungen denkbar, wäre aber auch, dass im 19. Jahrhundert kleinere Pinot-Noir-Trauben gepresst wurden und anteilig mehr Bestandteile der Traubenschalen in den Most gingen. Ebenso war die Behandlung der Weinstöcke mit Kupfersulfat gegen Schädlingsbefall schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich – und Eisen könnte außerdem aus den Eisennägeln eines Behälters stammen, in dem die Schwefeltinktur angerührt wurde.
Auch die der Mostgewinnung nachfolgenden Prozesse liefen im 19. Jahrhundert anders ab. So setzte man etwa natürliche, weniger effiziente Wildhefen zur Gärung ein und musste wohl klimabedingt mit Trauben vorliebnehmen, die insgesamt einen niedrigeren Zuckergehalt aufwiesen: Die "Ostsee-Champagner" hatten daher den niedrigeren Alkohol- und etwas höheren Säuregehalt, der sich in den Analysen tatsächlich widerspiegelt. Mehrere länger dauernde Verarbeitungsschritte des alten Champagners vollzogen sich übrigens in Holzfässern, wie Spuren typischer Holzchemikalien belegen. Hohe Werte von Natrium und Chloridionen legen nahe, dass der Veuve Clicquot mit salzhaltigem Gelatineeiweiß geklärt wurde – vegan war er demnach nicht.
Metallisch, aber kaum getrübt
Pragmatisch und anders als heute, dabei aber überraschend effizient, gingen Schaumweinproduzenten vor zwei Jahrhunderten wohl bei der Tartrat-Stabilisierung vor – jenem Prozess, mit dem das hässliche Ausfallen von Säurekristallen verhindert wird. Man ließ die Weine wohl vor dem Verheiraten zur hauseigenen Mischung im Winter kühlen und filtrierte sie dann: Das genügte, um ein zwar leicht trübes, aber selbst nach 17 Jahrzehnten nicht ausfallendes Produkt zu erzeugen.
Eher weniger Klarheit brachten die Analyseergebnisse in das Rätsel des Bestimmungsortes der gescheiterten Champagnerlieferung. Zunächst lag nahe, dass die Ware für Sankt Petersburg bestimmt und dort nie angekommen war: Hier bevorzugten Konsumenten, der zeitgenössischen Korrespondenz mit Veuve Clicquot zufolge, stark gesüßte Schaumweine mit bis zu 300 Gramm Zucker pro Liter. Der gefundene Wein war allerdings mit 150 Gramm pro Liter zwar für heutige Verhältnisse sehr süß, aber wohl nicht nach dem damaligen russischen Geschmack. Vielleicht sollte die Lieferung daher eher einen deutschen Hafen erreichen, vermuten die Forscher mit Blick auf die möglichen Handelsrouten der Zeit. Heute gilt übrigens schon ein Sekt ab 50 Gramm Restzucker pro Liter als lieblich, sprich süß.
Der Rummel um die alten Flaschen hat längst vor der nun erfolgten Veröffentlichung auch Kritiker auf den Plan gerufen: Sie finden nicht nur die Versteigerung übertrieben, sondern auch die öffentlichkeitswirksame Versenkung neuer Champagnerjahrgänge von Veuve Cliquot neben der Fundstelle des Wracks. Immerhin auch ein wissenschaftliches Experiment: Die im Spezialbehälter eingeschlossenen 50 Magnum-Flaschen können in einigen Jahrhunderten zeigen, ob die Meeresbodenlagerung für exklusive Schaumweine noch eine Zukunft hat.
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