Lesefähigkeit: Wie Schrift unsere Art zu denken ändert
Die Schrift ist schon ein Wunderding. Sie kittete Sozialsysteme, hielt Gesetze fest und machte Wissen unabhängig. Informationen wurden greifbar, haltbar, transportierbar. Doch darüber hinaus beeinflussen die Schrift und das Lesen den menschlichen Verstand. Seit gut 6000 Jahren, jedes Mal aufs Neue.
Denn während Sprache seit Äonen ihre evolutionären Abdrücke in unserem Denken hinterlassen hat, ist die Schrift dafür zu jung: Es gibt kein genetisch festgelegtes Lesezentrum in unserem Gehirn. Areale im Kopf, die nie dafür ausgelegt waren, müssen neu verwendet werden. Wenn aus Symbolen Wörter werden, setzt also ein radikaler, mentaler Umbruch ein – eine Art neuronale Zweckentfremdung.
Dem Neurowissenschaftler Stanislas Dehaene vom Pariser Collège de France gelang es mit seinem Team vor einiger Zeit, solche Veränderungen in einem Hirnareal zu analysieren: in der »visual word form area« (VWFA) und angrenzenden Regionen im linken Schläfenlappen der Hirnrinde. Bei ihren Untersuchungen beobachteten sie, wie sich neuronale Aktivitätsmuster veränderten – und damit auch ein wenig unsere Art zu denken.
Tausche Gesichter gegen Buchstaben
Wie bei einem Verteidiger im Fußball, den der Trainer zum Stürmer umfunktioniert, bedient sich das Gehirn der dort vorhandenen Fähigkeiten und Funktionen, um lesen zu lernen. Auf der linken Hirnseite gibt es nämlich bereits – anders als auf der rechten – viele Zentren für die Sprache. Ideal, um visuelle Codes mit dem Wortschatz zu verbinden. Zudem scheint der Bereich um die VWFA ursprünglich mit einer anderen Aufgabe betraut gewesen zu sein: der Erkennung von Gesichtern. Die Befähigung, Mimik zu deuten, wird zur Basis für das Entziffern von Symbolen.
Gehen die alten Fähigkeiten durch das Lesenlernen verloren? Sind Lesekundige schlechter als Analphabeten, wenn es darum geht, Lachfalten und hochgezogene Augenbrauen korrekt zu deuten? Ja – und nein, fanden die Forscher heraus. Für ihre Studie testeten sie eine Gruppe brasilianischer Analphabeten im Vergleich zu einer Gruppe lesender Menschen mit ähnlichem soziokulturellem Hintergrund.
Die Ergebnisse aus dem Experiment lassen darauf schließen, dass die Region der VWFA bei Lesekundigen tatsächlich weniger stark auf Gesichter reagiert. Gleichzeitig ist ein Areal im Schläfenlappen der rechten Hirnseite viel aktiver. Lesende schnitten bei der Gesichtserkennung ähnlich gut ab wie Analphabeten – nur lag das nun an einer gänzlich anderen Hirnregion.
Veränderungen im Urhirn
Doch ihr Befund ist nicht unumstritten. »Wir konnten in unserer eigenen Versuchsreihe keine Belege dafür finden, dass diese Hirnareale weniger auf Gesichter reagieren«, sagt Falk Huettig, Professor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im holländischen Nimwegen. »Fest steht jedoch, dass sich beim Leseerwerb ein Netzwerk bildet – und zwar in Arealen, die evolutionär ursprünglich dafür nicht vorgesehen waren.«
»Fest steht jedoch, dass sich beim Leseerwerb ein Netzwerk bildet – und zwar in Arealen, die evolutionär ursprünglich dafür nicht vorgesehen waren«
Falk Huettig
Anders als bisher angenommen werden beim Lesenlernen auch Hirnstrukturen verändert, die evolutionär gesehen uralt sind, fanden Huettig und sein Leipziger Kollege Michael Skeide heraus: Zentren im Thalamus und sogar im Hirnstamm organisieren sich neu. In einer aktuellen Studie untersuchten sie in Indien aufgewachsene Probandinnen, während sie sich die heimische Schrift Devanagari aneigneten. Diese lasen umso besser, je mehr die evolutionsgeschichtlich alten Hirnareale ihre Signale synchronisierten.
Das ergibt nach Ansicht der Forscher durchaus Sinn. Schließlich filtern die basalen Hirnzentren im Thalamus und Hirnstamm Reize, noch bevor diese überhaupt bewusst wahrgenommen werden. Sie fungieren wie Torwächter, die nur wichtige Eindrücke passieren lassen und damit die visuelle Informationsflut eindämmen. Wer lesen lernt, stärkt diese Funktion, so Huettig und Skeide. Unwichtige Eindrücke könnten dadurch aus dem Buchstabenwirrwarr herausgesiebt werden – und womöglich auch aus dem Wirrwarr der alltäglichen Eindrücke.
Alphabeten, die nicht lesen können?
Schärft Lesen also unsere Wahrnehmungsfähigkeit? Für solche Spekulationen ist es derzeit noch zu früh. Es müssten mehr und umfassendere Studien verfasst werden. Die Wissenschaftler stehen dabei jedoch vor einem Problem: Immer mehr Menschen sind zu einem gewissen Grad des Lesens mächtig. Das unverfälschte, vorschriftliche Gehirn ist nur noch schwer zu finden, die Testgruppen klein und die Ergebnisse damit fehleranfällig gegenüber statistischen Ausreißern.
Was an sich eine gute Nachricht ist, sieht José Morais, Psycholinguist am Brüsseler Center for Research in Cognition & Neurosciences, hingegen kritisch. Denn die Lesefähigkeit vieler Menschen ist seiner Ansicht nach unzureichend. »Solange Lesende nicht produktiv sind, hat die Lesefähigkeit kaum einen Einfluss auf höhere kognitive Funktionen«, sagt Morais. Er spielt damit auf die UN-Definition des Lesens an. Ihr zufolge ist jemand Alphabet, wenn er einen einfachen und alltäglichen Satz entziffern kann.
Für Morais greift das zu kurz. Er teilt die Menschen in Literaten und Illiteraten mehrerer Abstufungen ein: Illiteraten können überhaupt nicht lesen, Literaten der höchsten Stufe sogar kritisch reflektierte Sätze selbst produzieren. Was nach dem Ergebnis einer gewöhnlichen Schulausbildung klingt, ist Morais zufolge selbst in Bildungsnationen wie Frankreich keine Selbstverständlichkeit. Laut dem Forscher sind bloß ein Drittel aller Franzosen produktive Literaten der höchsten Stufe.
Was es hingegen heißt, ein Illiterat zu sein, lässt sich an zwei Beispielen zeigen: Sollen Menschen, die nie lesen und schreiben gelernt haben, vom Wort »Haus« den Laut [h] entfernen (und somit »aus« bilden), scheitern sie. Noch gravierender ist der zweite Unterschied. Wenn man Illiteraten bittet, einen Satz wie »Der Hund sitzt vor der Tür« in einzelne Wörter aufzutrennen, neigen sie dazu, ihn nach Bedeutungselementen zu zerlegen: »Der Hund / sitzt / vor der Tür«. »Vor der Tür« ist für Illiteraten ein einziges Wort.
Was trivial scheint, hat weit reichende Folgen. Beide Beispiele zeigen, dass Illiteraten Sprache als situationsabhängig und subjektiv nicht manipulierbar wahrnehmen. Sie ist für sie kein flexibles, aktives Werkzeug, sondern eher ein passives, gegebenes und unverrückbares Bauwerk. Morais glaubt deswegen, dass Lesekundige nicht nur Sprache, sondern auch Gedanken anders erleben.
Das unabhängige Gehirn
»Die Sprache bei Lese- und Schreibkundigen hängt nicht von der Situation, sondern von Begriffen und Struktur ab«, so Morais. »Das erlaubt ein Denken, das nicht nur analytisch, sondern unabhängig ist. Es basiert eher auf Objektivität als auf Subjektivität. In anderen Worten: Wenn der Verstand lesen und schreiben lernt, erschafft er eine Distanz zu sich selbst.« Das ist eine gewaltige kognitive Errungenschaft. Sie ist umso ausgeprägter, je höher jemand als Literat eingestuft ist. Jene, die gerade so die UN-Definition erfüllen oder erst vor Kurzem zu lesen begonnen haben, ähnelten laut Morais kognitiv eher Illiteraten als Lesekundigen.
»Wenn der Verstand lesen und schreiben lernt, erschafft er eine Distanz zu sich selbst«
José Morais
Möglich ist, dass sich dadurch die auf den ersten Blick widersprechenden Ergebnisse von Huettigs neuer Studie einordnen lassen. Während die Forscher um Dehaene nämlich Lesekundige mit Analphabeten im Ist-Zustand verglichen, verfolgten Huettig und Kollegen die Probanden beim Lesenlernen. Eventuell war deren Literaten-Level noch nicht fortgeschritten genug, um die kognitiv höheren Regionen der Hirnrinde wie die VWFA radikaler umzustrukturieren.
Auch der Einfluss der verschiedenen Alphabete ist noch weitgehend ungeklärt. Das Devanagari-System mit dem lateinischen Alphabet gleichzusetzen, könnte in die Irre führen. Einen Hinweis, wie die verschiedenen Codes das Gehirn verändern, fand das Team um Huettig in verstärkter Aktivität der Areale V3 und V4 der visuellen Hirnrinde.
Unterschiedliche Schrift – unterschiedliche Gedanken?
So etwas war bisher eher von Lesekundigen, die Chinesisch beherrschen, bekannt. Während nämlich das lateinische Alphabet auf Lauten, so genannten Phonemen, basiert, baut die chinesische Sprache auf Silben und ganzen Wörtern auf – Devanagari befindet sich als silbenbasierte Schrift dazwischen. »Die Aktivität in den Hirnregionen hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Schriftzeichen viel komplexer sind und eher wie Objekte betrachtet werden«, erklärt Huettig.
Dass Deutsche deswegen direkter und Chinesen abstrakter denken, lässt sich daraus aber nicht ableiten. Ein Team um Jay G. Rueckl von den Haskins Laboratories in New Haven untersuchte jüngst Sprachen mit hebräischer, lateinischer und chinesischer Schrift. Sein Ergebnis: Die neuronale Aktivität ist bei Lesern aller Systeme sehr ähnlich. Allerdings mangelt es noch an aussagekräftigen Studien, die einen derartigen Vergleich wagen.
Es gibt also noch eine Menge zu erforschen – auch wenn oder gerade weil wir die Buchstaben nicht mehr in Lehmziegel brennen, sondern über LED-Displays flackern lassen. Falk Huettig blickt jedoch optimistisch in die Zukunft: »Die Wissenschaft interessiert sich heute mehr und mehr dafür, wie unterschiedliche Alphabete und andere Kulturgüter das Gehirn und das menschliche Verhalten beeinflussen.«
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