Erbgutanalyse: Wieso die Affenpocken so stark mutiert sind
Inzwischen gibt es rund 30 sequenzierte Genome des Affenpockenvirus, das derzeit den ersten großen Ausbruch der Krankheit außerhalb Afrikas verursacht. Und sie machen die plötzliche Ausbreitung des lange Zeit sehr seltenen Krankheitserregers noch rätselhafter. Einerseits zeigen die Erbgutdaten, dass das Virus eng verwandt ist mit jener westafrikanischen Linie, die bereits zuvor in mehreren Ländern außerhalb des Kontinents registriert wurde. Andererseits enthält das Genom extrem viele Mutationen – und niemand weiß, was das bedeutet.
An insgesamt 47 Stellen im Erbgut unterscheidet sich das aktuelle Virus von dem Affenpockenvirus, das nach 2017 in Singapur, Israel, Nigeria und Großbritannien aufgetaucht war und dessen Genom 2018 sequenziert wurde. Das Erbgut von Pockenviren ist sehr stabil, das ursprüngliche Menschenpockenvirus zum Beispiel veränderte sich nur an etwa einer bis zwei Stellen pro Jahr. Bei den Affenpocken nimmt man eine ähnliche Rate an. Damit wären die Affenpocken etwa fünf- bis zehnmal so schnell evolviert als normal.
Diese ungewöhnliche Sammlung von Mutationen fanden Fachleute in allen bisher sequenzierten Viren des Ausbruchs. Damit sei wahrscheinlich, dass alle Ansteckungen auf einen einzelnen Fall zurückgehen, schreibt eine Arbeitsgruppe um João Paulo Gomes vom portugiesischen nationalen Gesundheitsinstitut in einer Vorabveröffentlichung über die Genomdaten. Die Daten verraten allerdings nicht, ob diese Mutationen das Virus fitter machen und dadurch den globalen Ausbruch verursachten.
Das rätselhafte Pockengenom
Die Überlegung liegt nahe, dass es sich – analog zu den immer neuen Varianten von Sars-CoV-2 – um eine neue Variante der Affenpocken handelt, die sich schneller und leichter verbreitet. Ob das der Fall ist, kann man allerdings anhand der Mutationen selbst nur schwer einschätzen. Das Erbgut der Affenpocken ist mit rund 200 000 Basenpaaren weitaus größer und komplizierter als zum Beispiel das von Sars-CoV-2 oder Influenza.
Das Genom enthält insgesamt 190 offene Leseraster. Das sind Erbgutabschnitte, die wahrscheinlich einzelne Proteine mit vielfältigen Funktionen codieren. Von einigen der Proteine weiß man zum Beispiel, dass sie sehr früh in der Infektion hergestellt werden und die angeborene Immunreaktion unterdrücken, andere vervielfältigen das Erbgut des Virus. In der letzten Phase entstehen dann die Bestandteile der neu entstehenden Viruspartikel.
Insbesondere gibt es kein Gegenstück zum Spike-Protein des Sars-CoV-2, jenes virale Protein, das hochspezifisch an einen ganz bestimmten Zellrezeptor bindet. Pockenviren bilden zwei verschiedene Typen von Viruspartikeln, die mutmaßlich auf unterschiedliche Weise an Zellen binden und in sie eindringen. Deswegen ist es bei diesen Viren viel schwieriger, anhand der Mutationen einzuschätzen, ob das Virus vielleicht ansteckender geworden ist oder vorhandenen Antikörpern entkommt.
Stammen die Mutationen von einem Verteidigungssystem?
Man kann also nicht ausschließen, dass die genetischen Veränderungen eine Anpassung an den Menschen repräsentieren – andererseits diskutieren Fachleute derzeit eine ganz andere Möglichkeit. Die beobachteten Mutationen folgen nämlich einem sehr ungewöhnlichen Muster. Allein 42 der 47 Mutationen betreffen immer die gleichen Dinukleotide, also zwei Erbgutbausteine direkt nebeneinander. Bei ihnen ist ein Cytosin direkt neben einem Thymin in ein weiteres Thymin verwandelt worden – beziehungsweise ein Guanin neben einem Adenin in ein weiteres Adenin, was schlicht die gleiche Mutation ist, nur auf dem gegenüberliegenden DNA-Strang.
Dass eine Anpassung an einen neuen Wirtsorganismus ein solches spezifisches Muster in den Bausteinen des Erbguts selbst erzeugt, ist extrem unwahrscheinlich. Mutation und Selektion setzen dabei eher an der Struktur von Proteinen an. In einer Forumsdiskussion über die Genetik der Affenpocken wies der Evolutionsbiologe Andrew Rambaut von der University of Edinburgh deswegen auf eine andere Möglichkeit hin: Ein antiviraler Mechanismus in den Zellen, der die DNA selbst angreift, könnte das Mutationsmuster im Viruserbgut erzeugt haben.
Im Verdacht haben Fachleute eine Proteinfamile namens APOBEC3, die Teil eines Schutzmechanismus gegen Retroviren ist. Diese Enzyme sind so genannte Deaminasen, sie entfernen beim entstehenden DNA-Strang des Retrovirus eine Aminogruppe von bis zu 20 Prozent aller Cytosinbausteine im Erbgut. Dadurch entsteht die Base Uracil, die von der Maschinerie der Zelle als Thymin gelesen wird. APOBEC3-Proteine verursachen also eine große Menge Mutationen, die potenziell das Erbgut unbrauchbar machen.
Das Virus evolviert
Pockenviren sind allerdings keine Retroviren. Sie haben zwar ein DNA-Genom, aber eine frühere Studie hatte gezeigt, dass APOBEC3-Proteine dieses nicht effektiv genug angreifen, um Pockenviren an der Vermehrung zu hindern. Aber anscheinend, so die Vermutung, ist dieser antivirale Mechanismus der Zelle durchaus aktiv und beschädigt das Erbgut des Virus erheblich.
»Was wir sehen, sind die Überlebenden«, erklärt der Bioinformatiker Cornelius Römer auf Twitter. Nur jene Viren, deren Verletzungen durch das antivirale System nicht zu schwer sind, pflanzen sich fort. Darauf deute auch hin, dass unter den Mutationen so viele seien, die das entstehende Protein nicht verändern, schreibt der Forscher weiter. Der Biophysiker Richard Neher von der Universität Basel erklärt: »Man sollte die meisten dieser Mutationen wahrscheinlich eher als ›Narben‹ durch das Verteidigungssystem des Wirts verstehen, statt als virale Anpassung.«
Doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Es gibt auch genetische Indizien dafür, dass sich das Virus an den Menschen anzupassen beginnt. So berichtet das Team um João Paulo Gomes von einzelnen Mutationen, die in vielen, aber nicht allen analysierten Virengenomen vorkommen – ein Hinweis auf Diversität bei den Virengenomen, an der die Evolution ansetzen kann. Zusätzlich fand die Gruppe zwei Viren, denen ein Genabschnitt in einem Bereich fehlt, der mutmaßlich für die Bindung an Zellen verantwortlich ist. Diese Veränderung kennt man aus Zentralafrika. Dort vermutet man, dass sie mit effektiverer Übertragung der Affenpocken von Mensch zu Mensch in Zusammenhang steht.
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