Neue Drake-Gleichung: Würfelspiele mit E.T.
Kepler ist tot. Das gilt für den deutschen Mathematiker und Astronom, der vor über 400 Jahren die Planetenbahnen im Sonnensystem berechnete. Und in gewisser Weise gilt es auch für den erfolgreichen Nasa-Satelliten gleichen Namens, der in den letzten vier Jahren Hinweise auf Tausende Planeten fernab der Erde aufgespürt hat. Und der wegen zweier defekter Steuerräder seine bis mindestens 2016 geplante Mission vermutlich nicht fortsetzen kann.
Für Exoplanetenforscher und Alienfreunde ist das ärgerlich. Denn nun ist fraglich, ob ein Hauptziel von Kepler noch erreicht werden kann: Die Häufigkeit von Zwillingserden um Zwillingssonnen in der Milchstraße abzuschätzen. Bisher ermöglichen die ausgewerteten Kepler-Daten solch eine (noch sehr grobe) Vorhersage "nur" für Gesteinsplaneten in der habitablen Zone Roter Zwergsterne. Das Kepler-Team arbeite hart daran, die Frage auch für Felsplaneten in der potentiell lebenskompatiblen Zone um heißere Sterne vom Sonnentyp G zu beantworten, sagt die beteiligte Wissenschaftlerin Sara Seager vom Massachusetts Institute of Technology. Ob das mit den bisher gesammelten Daten gelinge, sei aber noch nicht sicher.
Sicher ist, dass sich Leben um G-Sonnen bilden kann. Ob es auch auf irgendeinem Planeten im Orbit Roter Zwerge sprießt, ist dagegen nicht ausgemacht. Planeten mit flüssigem Wasser auf der Oberfläche würden einen Roten Zwerg auf einer sehr engen Umlaufbahn umrunden und deshalb ihrem Gestirn vermutlich immer die gleiche Seite zuwenden. Auch schwankt die Strahlung Roter Zwerge stark und die Gestirne neigen zu heftigen Eruptionen [1]. Beides muss Leben nicht zwangsläufig verhindern [2], aber es macht sein Entstehen tendenziell unwahrscheinlicher als auf einem Planeten, der einen vergleichsweise ruhigen, sonnengleichen Stern innerhalb eines Jahres einmal umrundet.
Zwei Planeten mit Leben
Aber Hoffnung ist auch unter Wissenschaftlern eine Tugend. So hoffen die Planetenjäger auf den großen Durchbruch innerhalb der nächsten zehn Jahre. Und was macht mehr Hoffnung als die Prognose, bald auf eindeutige Hinweise für außerirdisches Leben zu stoßen? Ende Mai diskutierten die Astronomen die Zeit nach Kepler auf einer Konferenz an der Harvard University. Im letzten Vortrag, kurz vor der Weinprobe, war es an Sara Seager, die Hoffnung ihrer Zunft zu kanalisieren (Video des Vortrags).
Zwei Welten mit Leben auf der Oberfläche, spekulierte die MIT-Forscherin, könne man in den nächsten zehn Jahren anhand ihrer Atmosphären identifizieren [3]. Der im März von der Nasa bewilligte Kepler-Nachfolger "Tess" und das für Ende des Jahrzehnts geplante James-Webb-Weltraumteleskop sollen es möglich machen.
Wieso genau zwei Planeten? Seager stützte ihre Prognose auf die Neuinterpretation einer berühmten Formel. Der Radioastronom Frank Drake hat sie vor über fünfzig Jahren ersonnen, als er im Jahr 1961 eine bunt gemischte Forschergruppe in Green Bank, West Viriginia, zusammentrommelte. Das Treffen ging als Startschuss des SETI-Projekts ("Search for Extraterrestrial Intelligence") in die Geschichte ein. Und auf ihm erblickte auch die Drake-Gleichung das Licht der Welt. Ihr Namenspate ersann sie, um die Tagesordnung in verschiedene Aspekte der Suche nach Außerirdischen zu gliedern. Ihre eigentliche Karriere machte sie allerdings als Hilfsmittel, mit dem sich die Anzahl außerirdischer Zivilisationen in der Milchstraße berechnen lässt.
Es war die Zeit, in der Menschen von Autos mit Atomantrieb und der Besiedelung des Weltraums schwärmten. Und auch der Drake-Gleichung haftet bis heute etwas Träumerisch-Utopisches an. Je nachdem welche Werte man einsetzt, erhält man leicht ein Sciencefiction-Universum bevölkert von Hunderten oder gar Tausenden fortschrittlichen Kulturen. Der populäre Weltraumenthusiast Carl Sagan kam immerhin auf zehn intelligente Zivilisationen in der Milchstraße.
Sieben Fragen
Die Teilnehmer des Treffens in Green Bank im Jahr 1961 diskutierten sieben Leitfragen bei der Alien-Suche: Wie viele Sterne entstehen jedes Jahr in der Galaxis? Wie viele dieser Sterne haben Planeten? Auf wie vielen herrschen lebensfreundliche Bedingungen? Wie oft ist auf diesen Welten wirklich Leben entstanden? Und wenn man einmal solches primitives Leben hat: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich Mikroben zu intelligentem Leben weiterentwickeln? Wie viele dieser außerirdischen Zivilisationen haben Radioantennen entwickelt? Und schließlich: Wie lange würden sie wohl überleben, um Signale ins All schicken zu können?
Jede der Fragen lässt sich mit einer Zahl beantworten. Miteinander multipliziert ergeben sie eine Abschätzung für die Anzahl außerirdischer Zivilisationen, deren Signale die Menschheit theoretisch auffangen könnte. Allerdings war lange nur der erste Faktor der Drake-Formel wissenschaftlich zu beziffern: Pro Jahr entsteht in der Milchstraße etwa ein neuer Stern. Die anderen Terme des Alienorakels forderten hingegen eher Fantasie als Forschergeist. "Die Drake-Gleichung hat nichts mit Wissenschaft zu tun", spottete der Wissenschaftsautor Michael Crichton 2003 in einer unter Skeptikern viel beachteten Rede. SETI sei eine Religion, die Vorhersage der Drake-Gleichung nicht testbar.
Die SETI-Community dagegen betont auf ihrer Homepage, es ginge bei der Formel darum, "den intellektuellen Austausch über das Universum zu stimulieren." Sie sei außerdem ein "fabelhaftes Werkzeug, um unser Unwissen zu quantifizieren."
So oder so: Eindeutige Radiosignale aus den Tiefen des Alls sind bis heute ausgeblieben, auch wenn mancher Alienbegeisterte das berühmte Wow!-Signal[4] aus dem Jahr 1977 für eine außerirdische Kontaktaufnahme hält. Die Drake-Formel diente als Projektionsfläche für solche Hoffnungen: Ufo-Fans sagten mit ihrer Hilfe Millionen außerirdischer Zivilisationen voraus. Skeptiker hingegen wählten die Eingangswerte so, dass die Menschheit die einzige Zivilisation ist.
Keiner da?
Über all dem schwebt die Frage, die der Physikers Enrico Fermi bereits 1950 beim Mittagessen in Los Alamos unter anderem Edward Teller gestellt haben soll: "But where is everybody?" Wo bleiben all die Außerirdischen? Wenn die Entstehung intelligenten Lebens wahrscheinlich ist, müsste mindestens eine Zivilisation genug Zeit gehabt haben, jeden Flecken der Galaxie zu besiedeln. Das "Fermi-Paradox" wird mit frenetischem Eifer diskutiert; sein englischsprachiger Wikipedia-Eintrag ist genauso lang wie der zu den Verschwörungstheorien rund um die Mondlandung.
Haben sich alle Alienzivilisationen zurück in die Steinzeit gebombt, wie etwa Carl Sagan fürchtete? Oder haben die Anhänger der Rare-Earth-Hypothese recht mit der Annahme, die Menschheit sei aus einer Verkettung sehr vieler unwahrscheinlicher Zufälle hervorgegangen? Vielleicht wird die Wissenschaft tatsächlich eines Tages eine Antwort auf diese Fragen finden. Dank der reichen Ausbeute bei der Jagd nach Exoplaneten können Forscher mittlerweile auch den zweiten Faktor näher bestimmen: Ein Großteil der Sterne in der Milchstraße wird von Planeten umkreist.
Und auch der dritte ist dank der Kepler-Daten in Reichweite gerückt, zumindest was Rote Zwerge angeht. Laut aktuellen Schätzungen werden rund 15 Prozent der orange schimmernden Ministerne von einem Planeten umkreist, auf dessen Oberfläche flüssiges Wasser vorhanden sein könnte [5].
Hier kommt das im März bewilligte Nasa-Projekt "Tess" ins Spiel. Der Satellit soll ab 2017 mit vier kleinen Teleskopen den gesamten Himmel nach erdgroßen Planeten in einem Radius von 200 Lichtjahren absuchen. Simulationen zeigen: Die Forscher könnten eine Handvoll Felsplaneten finden, die einen Roten Zwerg in einer habitablen Zone umkreisen – und ihren Sterne zeitweise verdunkeln. Das ist der springende Punkt, denn nur bei solch einem Transit könnte das James-Webb-Weltraumteleskop (JWST) mit Hilfe des gefilterten Sternlichts die Atmosphäre der Exoplaneten analysieren.
Zuversichtliche Rechnung
Um Tess, das JWST und Rote Zwerge geht es dann auch bei Sara Seagers Neuformulierung der Drake-Gleichung. In ihr werden die meisten arkanen Parameter des Originals mit Werten ersetzt, die der Exoplaneten-Forschung zugänglich sind: Die Anzahl der Roten Zwege im Sichtbereich des Tess-Weltraumteleskops (etwa 30 000), der Anteil der ruhigen Sterne, die sich gut untersuchen lassen und nicht immer wieder große Mengen Gammastrahlen ins All schleudern (20 Prozent). Der Anteil der Felsplaneten in der habitablen Zone (zirka 15 Prozent), der Anteil der überhaupt beobachtbaren Planeten mit dem James-Webb-Teleskop (1 Prozent der potentiell beobachtbaren Planeten zieht vor seinem Stern vorüber, 10 Prozent davon sind nah genug an der Erde für eine Beobachtung).
"Nur noch die letzten beiden Terme sind spekulativ", sagt Seager, die eine Veröffentlichung über die neue Drake-Gleichung plant. Gemeint ist der Anteil an Planeten, die Leben entwickelt haben, und der Anteil an Planeten, auf denen sich dieses Leben auch über chemische Reaktionen in der Atmosphäre niederschlägt. Das hoffnungsvolle Ergebnis, das in den nächsten zehn Jahren auf zwei Planeten Biosignaturen nachgewiesen werden könnten, springt leider nur unter einer extrem optimistischen Annahme aus der neuen Drake-Gleichung: "Ich glaube, dass sich auf Planeten mit Wasser letztendlich auch Leben entwickelt", sagt Seager. Oder anders ausgedrückt: Auf jedem Felsplaneten in einer habitablen Zone ist das Leben gesprossen.
Das aber ist der Punkt, der schon bei der historischen Drake-Gleichung am umstrittensten war. Vielleicht braucht Leben auch einen Planeten mit stabiler Umlaufbahn, Plattentektonik, einem Mond und einem Gasriesen vor der Haustür, der Meteoriten ablenkt. Und all den anderen Faktoren, welche die Rare-Earth-Bewegung auflistet.
Hoffen darf man natürlich trotzdem auf eine erfolgreiche Fortsetzung der Aliensuche, auch ohne Kepler. Die neue Drake-Gleichung und die Weinprobe dürften jedenfalls den Konferenzteilnehmern in Harvard dabei geholfen haben, die Zukunft ein bisschen rosiger zu sehen.
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