Yoga: Zwischen Lifestyle und Therapie
Herr Cramer, Praktizierende preisen Yoga oft als heilsames Wundermittel an, andere halten es für eine überbewertete Modeerscheinung. Wer hat Recht?
Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Yoga ist kein Alleskönner, wirkt aber in erstaunlich vielen und unterschiedlichen Bereichen. Das hat damit zu tun, dass Yoga sehr vielseitig ist. Neben den Asanas – Körperhaltungen wie herabschauender Hund, Kobra oder Krieger – gehören auch die Meditation sowie Konzentrationsübungen, Atemtechniken und Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil dazu. Im Westen hat sich die Praxis schon ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausgebreitet und einen Assimilationsprozess durchlaufen. Es handelt sich also nicht um einen vorübergehenden Trend. Bei uns sind neue Lehren entstanden, die für viele Menschen Teil ihres Lebensstils geworden sind. Inzwischen praktizieren etwa 15 Prozent der Europäer Yoga, in den USA sind es ungefähr genauso viele.
Weshalb kommt eine tausende Jahre alte orthodoxe indische Philosophie in unserer westlichen Welt so gut an?
Vermutlich, weil Yoga eine Lücke schließt: Ich kann Kontakt zu meinem Körper aufbauen, vielleicht sogar zu mir selbst. Je nachdem, was für Ziele man verfolgt, kann Yoga heute für manche Menschen Sport sein, für andere stehen spirituelle Komponenten wie Sinnsuche im Vordergrund. Und mitunter ist es auch einfach nur eine Möglichkeit, um nach Feierabend abzuschalten.
Was ist Yoga für Sie?
Mit meinem Team untersuche ich Yoga mit naturwissenschaftlichen Methoden aus einer medizinischen Perspektive. Dabei bewege ich mich meist im Bereich des Hatha-Yoga, das hier zu Lande weit verbreitet ist und unterschiedliche Elemente umfasst. Neben den Asanas kommen in der Regel auch Atem- und Entspannungsübungen vor. Ich schaue mir an, ob das therapeutisch oder präventiv wirksam und sicher ist.
Und ist es das?
Das kommt auf die Fragestellung an. Als ich angefangen habe, mich mit Yoga zu beschäftigen, lag mein Fokus auf Schmerzerkrankungen. Während meiner Promotion habe ich eine der ersten Studien zur Wirkung von Yoga auf Nackenschmerzen durchgeführt. Mich hat damals überrascht, dass es dazu viel weniger Forschung gibt als zu Rückenschmerzen, obwohl sie genauso häufig zu Arbeitsausfällen führen und einen ähnlichen Leidensdruck bei den Betroffenen verursachen. Yoga hilft bei beidem – dafür existieren inzwischen gute Belege. Bei rheumatischen Erkrankungen kann Yoga ebenfalls nützen, da die Bewegungen die Gelenke schonend stimulieren. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Menschen mit Übergewicht, Typ-II-Diabetes und Bluthochdruck profitieren, wahrscheinlich, weil Yoga neben der körperlichen Aktivität auch für Entspannung sorgt. Denn ein zu hoher Stresshormonpegel beeinträchtigt den Stoffwechsel. Sogar bei Asthma scheint Yoga zu helfen, wobei hier vor allem die Atemtechniken wichtig sein dürften.
»Ich untersuche Yoga mit naturwissenschaftlichen Methoden aus einer medizinischen Perspektive«
Sie haben eine Studie zu Yoga und Wechseljahresbeschwerden durchgeführt …
… und zwar bei Frauen, die auf Grund einer Brustkrebserkrankung mit einer antihormonellen Therapie behandelt werden. Dabei werden körpereigene Hormone wie Östrogene oder Progesteron blockiert, die bei bestimmten Tumortypen das Wachstum von Krebszellen begünstigen. Als Begleiterscheinung kommt es häufig schon bei jungen Frauen zu starken Wechseljahresbeschwerden. Das belastet sehr und kann dazu führen, dass die Patientinnen die Antihormontherapie abbrechen, was wiederum das Rückfallrisiko erhöht. Wir haben herausgefunden, dass Yoga die Wechseljahresbeschwerden signifikant lindert und damit vermutlich auch das Risiko eines Therapieabbruchs mindert.
Hilft Yoga bei psychischen Erkrankungen?
Dass Yoga Menschen mit klinischer Depression helfen kann, ist gut belegt. Laut Forschungsergebnissen wirkt Yoga offenbar auch bei Patienten mit Angststörungen. Vor allem aus den USA gibt es Untersuchungen zu Yoga bei Posttraumatischer Belastungsstörung vom Amt für Veteranen, das standardmäßig Kurse anbietet. Dort hat man zum Beispiel festgestellt, dass Yoga bei manchen Menschen die Häufigkeit von Flashbacks reduziert und depressive Symptome, Schlaf und Lebensqualität verbessert. Mein Team und ich haben in einer Studie zwei Gruppen von Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung verglichen. Alle haben an einer traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie teilgenommen, ein Teil von ihnen hat zusätzlich Atemtechniken geübt, das so genannte Pranayama. Wenn Patienten keine begleitenden Somatisierungsstörungen hatten, konnten die ergänzenden Atemtechniken die Symptomatik verbessern – über die ohnehin wirksame Verhaltenstherapie hinaus.
Haben Sie eine physiologische Erklärung dafür, dass Pranayama bei Posttraumatischer Belastungsstörung hilft?
Ganz geklärt ist das nicht, doch es gibt Hypothesen: Posttraumatische Belastungsstörungen bewirken unter anderem eine Hemmung der Atemzentren im Gehirn. Pranayama stärkt hingegen die Atemzentren. Ab einem gewissen Punkt hemmt diese Stärkung womöglich den dorsalen motorischen Nukleus, der für die akute Erstarrung bei der Posttraumatischen Belastungsstörung verantwortlich ist.
»Es gibt gute Belege dafür, dass Yoga Menschen mit klinischer Depression helfen kann«
Trotz aller Evidenz ist Yoga in Deutschland noch nicht in der regulären medizinischen Versorgung integriert. Warum?
Als die Praxis in den Westen gekommen ist, wurde sie vor allem als philosophisch-spirituelle Angelegenheit betrachtet und damit als Gebiet der Geisteswissenschaften. Es hat eine Weile gedauert, bis Naturwissenschaftler Yoga als ein Forschungsgebiet erkannt haben. Mit zunehmender Integration des Yoga in unseren Alltag nahm das Interesse seitens der Wissenschaft allerdings zu. Vor rund zehn Jahren gab es etwa 300 randomisierte, kontrollierte Yoga-Studien. Heute dürften es zwischen 600 und 1000 sein. Je mehr positive Resultate es gibt, desto eher wird Yoga akzeptiert und Teil der regulären Versorgung werden. In Deutschland ist es oft schwierig, an Drittmittel zu kommen, um die Forschung zu finanzieren. In den USA ist man da schon weiter. Bei uns wird die Praxis manchmal noch nicht ganz ernst genommen. Trotzdem gehört Yoga hier zu Lande immer häufiger zum therapeutischen Angebot, vor allem in der Psychosomatik, Psychiatrie oder in Rehakliniken.
Die randomisierte, placebokontrollierte, verblindete Studie gilt als Goldstandard. Kann man dieses Design in der Yoga-Forschung überhaupt anwenden?
Das ist ein Ideal, das aus der Pharmakologie stammt und an seine Grenzen stößt, sobald man keine Medikamentenforschung betreibt. Trotzdem kann man das Design zumindest teilweise übertragen. Die Randomisierung, also die zufällige Zuteilung von Probanden und Probandinnen auf unterschiedliche Gruppen, ist in der Yoga-Forschung kein Problem. Die einen machen dann einen Yoga-Kurs, die anderen beispielsweise eine Physiotherapie. Die Zufallszuordnung ist sehr wichtig, da unterschiedliche Erwartungshaltungen die Ergebnisse beeinflussen können. Ich beobachte beim Thema Yoga oft eine gewisse Emotionalität. Es gibt Menschen, die das unbedingt machen wollen und sich davon sehr viel versprechen, und andere, die gar nichts davon halten. Das muss man statistisch berücksichtigen. Die Verblindung hingegen funktioniert nur eingeschränkt …
… weil ein Yoga-Lehrer selbstverständlich immer weiß, was er da gerade unterrichtet.
Genau. Und auch bei Patientinnen und Patienten ist die Verblindung schwierig. Selbst wenn man ihnen nicht sagt, was auf sie zukommt, dauert es in der Regel nicht lange, bis sie erkannt haben, dass sie sich gerade in einem Yoga-Kurs befinden. Möglich ist eine Verblindung aber bei denjenigen, die in der Studie die Daten erheben oder Befragungen durchführen. Es gibt zudem Versuche, Placebokontrollen nachzuahmen, indem man einzelne Yoga-Elemente isoliert untersucht. Dann vergleicht man zum Beispiel die Meditation mit einem kognitiven Training. Doch natürlich hat Letzteres auch einen Effekt und ist deshalb nicht dasselbe wie eine wirkstofffreie Pille, die man einer Vergleichsgruppe in einer Medikamentenstudie verabreicht.
Haben denn die Ergebnisse von Studien, die methodisch so weit entfernt sind vom Goldstandard, überhaupt noch echte Aussagekraft?
Auf Grund der methodischen Einschränkungen ist sie teils geringer. Aber das bedeutet nicht, dass Yoga unwirksam ist. Viele etablierte Bereiche der konventionellen Medizin können ebenso wenig placebokontrolliert und verblindet werden. Das gilt zum Beispiel für die gesamte Chirurgie. Einen Operateur sollte man besser nicht verblinden. Auch die Effekte einer Psycho- oder Physiotherapie lassen sich nicht nach dem so genannten Goldstandard untersuchen.
Wie sieht denn die typische Kontrollgruppe in einer Yoga-Studie aus?
Die gibt es nicht, weil man sie abhängig vom Thema auswählt. Wenn man etwas zum ersten Mal untersucht, ist es oft sinnvoll, sich für unbehandelte Vergleichspersonen zu entscheiden, um herauszufinden, ob Yoga überhaupt einen Effekt hat. Man kann jedoch auch gegen eine minimale Intervention vergleichen, wenn man etwa, statt Yoga zu unterrichten, Informationsmaterial zu einem gesunden Lebensstil aushändigt. Häufig stellt man Yoga einem etablierten Verfahren gegenüber. Beispielsweise gibt es inzwischen sehr gute Belege dafür, dass ein Yoga-Kurs bei chronischen Schmerzen und den damit verbundenen Funktionseinschränkungen mindestens genauso gut hilft wie eine Eins-zu-eins-Physiotherapie. Aus einer gesundheitsökonomischen Perspektive ist das ebenso interessant wie für den einzelnen Menschen.
Die meisten Hatha-Yoga-Kurse in Ihren Studien umfassen nicht nur Körperhaltungen, sondern auch Atem-, Meditations- und Entspannungstechniken. Woher wissen Sie, welche dieser Elemente die eigentlich wirksamen sind?
Aus akademischer Sicht mag das vielleicht spannend sein, aber für die Patienten ist das häufig unbedeutend. Daher werte ich die einzelnen Elemente nicht immer separat aus. Es kommt wieder ganz darauf an. Manchmal lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Zum Beispiel haben meine Kollegen und ich in einer Metaanalyse die Ergebnisse verschiedener Studien zur Wirkung von Yoga auf Bluthochdruck zusammengefasst und festgestellt, dass Yoga blutdrucksenkend wirken kann. Dabei schienen vor allem die Atem- und Meditationsübungen wirksam zu sein – was interessant war, da körperliche Aktivität in der Regel durchaus hilfreich ist bei Bluthochdruck. Das wollten wir uns genauer anschauen.
Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben drei Gruppen von Teilnehmern verglichen, die Medikamente gegen Bluthochdruck eingenommen haben. Die einen haben Yoga inklusive Asanas, Atemtechniken und Meditation praktiziert, die anderen bloß Atmung und Meditation. Und in der dritten Gruppe haben die Probanden einfach auf einen Kursplatz gewartet. Tatsächlich beobachteten wir eine blutdrucksenkende Wirkung nur in der Gruppe, die lediglich Atemtechniken und Meditation praktizierten – jedenfalls nach zwölf Wochen. Vermutlich aktivieren diese Übungen das parasympathische Nervensystem, das für Entspannung und Regeneration sorgt, und senken damit den Blutdruck.
Hat sich das Blatt später gewendet?
In der Tat. 24 Wochen nach Kursbeginn war der Blutdruck bei denjenigen geringer, die zusätzlich Körperhaltungen geübt hatten. Langfristig scheinen Letztere also doch wichtig zu sein. Vor allem da Körperhaltungen offenbar für die meisten leichter in den Alltag zu integrieren sind als die eher ungewohnten Atemtechniken.
»Yoga ist das wirksamste nicht pharmakologische Verfahren gegen chronische Erschöpfung bei Krebspatienten«
Sie sind ein großer Freund von Metaanalysen. Weshalb?
Da man bei Metaanalysen die Daten zahlreicher bereits veröffentlichter Studien unter Berücksichtigung der Studienqualität erneut analysiert, haben sie eine größere Aussagekraft. Außerdem werden sie in den medizinischen Leitlinien, die Empfehlungen für Behandlungen geben, bevorzugt berücksichtigt.
In einer Ihrer Metaanalysen haben Sie herausgefunden, dass Yoga auch begleitend zu einer Krebstherapie hilft.
Dazu gibt es einige Studien, wobei es mir hier wichtig ist zu betonen, dass es um eine begleitende Therapie geht und natürlich nicht um die Behandlung von Krebs. Eine Chemotherapie hat Nebenwirkungen, zu denen unter anderem Depressivität, Ängstlichkeit und Fatigue zählen, also anhaltende Müdigkeit. Yoga ist das wirksamste nicht pharmakologische Verfahren gegen chronische Erschöpfung bei Krebspatienten. Und auch bei anderen psychischen oder körperlichen Begleitsymptomen zeigen Studien eine gute Wirksamkeit.
Derzeit planen Sie eine Studie zur Wirkung von Yoga beim Post-Covid-Syndrom.
Die Studie ist im Jahr 2023 an drei Standorten angelaufen, in Stuttgart, Tübingen und Berlin. Hintergrund ist, dass bei ungefähr zehn Prozent aller mit dem Coronavirus Infizierten später ein Post-Covid-Syndrom diagnostiziert wird. Obwohl das ein sehr hoher Anteil der Bevölkerung ist und eine große Belastung für unser Gesundheitssystem bedeutet, existieren bisher kaum funktionierende Therapieansätze. Weil die Symptome denen einer aus einer Krebsbehandlung resultierenden Fatigue ähneln – und auch die möglicherweise zu Grunde liegenden Entzündungsprozesse –, liegt es nahe, dass Yoga beim Post-Covid-Syndrom helfen könnte. Und Studien zufolge scheinen die Atemtechniken die Lungenfunktion zu verbessern, was ebenfalls darauf hindeutet, dass Yoga den Betroffenen guttut. Das wollen wir prüfen.
Kann Yoga schaden?
Fast alles, was eine Wirksamkeit hat, birgt Gefahren. Etwa jeder Fünfte, der Yoga praktiziert, hat sich dabei schon einmal verletzt. Meist handelt es sich um Kleinigkeiten, die schnell abheilen. Und die Risiken sind deutlich geringer als bei vielen anderen Sportarten, zum Beispiel dem Krafttraining oder Joggen. In sehr seltenen Fällen waren die Folgen auch schwer wiegend, es kam etwa zu Schlaganfällen oder Knochenbrüchen.
Sollten bestimmte Menschen besser kein Yoga üben?
Da Yoga so vielseitig ist, kann jeder zumindest Anteile davon praktizieren. Für manche Leute ist es jedoch besser, bestimmte Körperhaltungen zu meiden. Gut belegt ist inzwischen, dass Menschen mit Glaukom – auch bekannt als grüner Star – besser keine Umkehrpositionen wie Kopfstand oder herabschauender Hund ausüben sollten. Das Glaukom ist eine Abflussstörung im Auge, wodurch sich der Augeninnendruck erhöht. Unbehandelt kann das zu Blindheit führen. Sobald in Yoga-Übungen das Herz höher ist als der Kopf, erhöht sich der Augeninnendruck, was bei Betroffenen zu Symptomen führen kann und daher vermieden werden sollte. Alle anderen Übungen können problemlos durchgeführt werden. Und wenn man unter starken Rückenschmerzen leidet oder einen Bandscheibenvorfall hatte, sollte man mit bestimmten Rückbeugen wie Kobra oder Rad vorsichtig sein.
Wie findet man die Yoga-Art, die zu einem passt?
Durch Ausprobieren. Will man seine Fitness verbessern, ist vielleicht Power-Yoga sinnvoll. Wer Stress abbauen will, sollte eher an einem Kurs teilnehmen, in dem auch Meditations- oder Entspannungstechniken vorkommen. Für einige sind spirituelle Praktiken wichtig, andere finden das befremdlich. Oft sind die Unterschiede zwischen den Lehrenden größer als die Unterschiede zwischen den Stilen. Wenn man die Möglichkeit zu einer Probestunde hat, sollte man da einfach mal mitmachen.
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