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Post Covid: »Zahlenmäßig haben wir das unterschätzt«

Unikliniken in Baden-Württemberg haben systematisch Menschen untersucht, die unter den Langzeitfolgen einer Coronainfektion leiden. Aus der Studie lässt sich einiges über die Krankheitsmechanismen ableiten – und darüber, wieso Betroffene oft falsch untersucht werden.
Patientin mit lang anhaltender Erkrankung
»Long Covid« bezeichnet gesundheitliche Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion, die über die akute Krankheitsphase von vier Wochen hinaus bestehen. Liegen die Beschwerden auch noch mehrere Monate nach der akuten Infektion vor, spricht man von »Post Covid«. Betroffene Personen klagen über sehr unterschiedliche Symptome; häufig genannt werden Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme sowie anhaltende Kurzatmigkeit und persistierender Husten.

Für die Studie mit dem Namen EPILOC (Epidemiologie von Long Covid) hatten baden-württembergische Gesundheitsämter im Spätsommer 2021 zahlreiche Erwachsene befragt. Per Fragebogen wurden Personen angeschrieben, die bis zu 65 Jahre alt sowie zwischen Oktober 2020 und März 2021 nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert waren. Sechs bis zwölf Monate nach der Coronainfektion sowie noch einmal bis zu 14 Monate später gaben sie Auskünfte zu ihrem Gesundheitszustand.

Etliche teilnehmende Personen wurden außerdem zu medizinischen Untersuchungen gebeten. Mitarbeiter der Unikliniken Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm luden hierfür sowohl Menschen ein, die anhaltend unter Langzeitfolgen litten, als auch vollständig Genesene. 1500 Bürgerinnen und Bürger nahmen dieses Angebot an, nachdem gut 11 000 den ersten Fragebogen ausgefüllt hatten. Ende Januar 2025 sind nun die Ergebnisse dieser zweiten Phase der EPILOC-Studie veröffentlicht worden. Es ist die größte systematische Nachbeobachtungsstudie zum Long-Covid-Syndrom in Deutschland. Studienleiter Winfried Kern stellt im Interview die wichtigsten Ergebnisse vor.

Herr Professor Kern, wie oft haben Coronainfektionen in Ihrer EPILOC-Studie zu Langzeitfolgen geführt?

Wir haben Menschen angeschrieben, die sicher infiziert gewesen waren, und sie nach ihren Beschwerden gefragt. Von denjenigen, die uns geantwortet haben, waren 29 Prozent noch stark gesundheitlich eingeschränkt, im Schnitt neun Monate nach ihrer Akuterkrankung. Wenn man das auf alle hochrechnet, die einen Fragebogen erhielten, und außerdem unterstellt, dass diejenigen, die sich nicht zurückgemeldet haben, keine Probleme mehr hatten, wären es sechs Prozent mit Verdacht auf ein Post-Covid-Syndrom. Das gilt für die 18- bis 65-Jährigen in den ersten beiden Coronawellen. Heute ist das Risiko deutlich geringer.

Winfried Kern, Facharzt für Innere Medizin, ist emeritierter Leiter der Klinischen Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg.
Winfried Kern | Als Facharzt für Innere Medizin und emeritierter Leiter der Klinischen Infektiologie am Universitätsklinikum Freiburg koordiniert Winfried Kern die EPILOC-Studie. Seit 2012 gehört er der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft an. Viele Jahre lang hatte er zudem führende Positionen in der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie inne, der er von 2007 bis 2013 vorstand.

Sie sprechen von »Verdacht« auf Post Covid – wie belastbar waren denn die Selbstauskünfte der Patienten?

In einer zweiten Phase haben wir einige der Studienteilnehmer medizinisch untersucht. Bei 90 Prozent der Verdachtsfälle hatten auch wir keine bessere Erklärung für die Symptome als Post Covid. Wir sind uns also sicher, dass in den allermeisten Fällen keine anderen Erkrankungen dahinterstecken.

Das spricht dafür, dass Ärzte den Betroffenen Glauben schenken sollten?

Das sollten sie, anders werden sie ihren Patienten nicht gerecht. Wenn die Beschwerden sehr unspezifisch sind, gehört es natürlich zur guten ärztlichen Praxis, auch andere Diagnosen abzuklären.

Bei manchen Erkrankten verschwinden die Beschwerden von allein wieder. Wie viele dürfen damit rechnen?

Da müssen wir unterscheiden. Es heißt ja bereits Long Covid, wenn wenige Wochen nach einer Akutinfektion Beschwerden geblieben sind. In diesem Zeitraum ist der Anteil derer, die sich noch vollständig erholen, sehr groß. In der klinischen Praxis hat sich etabliert, erst nach sechs Monaten vom Post-Covid-Syndrom zu sprechen. In der EPILOC-Studie haben wir uns nur mit diesen langzeiterkrankten Fällen befasst, dabei zeigt sich: Bei etwa einem Drittel der Patienten verbessert sich der Zustand noch, bei zwei Dritteln nicht. Je länger die Symptome bleiben, umso größer ist die Gefahr, dass sich die Erkrankung chronifiziert. Dann wird es ohne Medikamente wahrscheinlich nicht mehr viel besser – und Medikamente haben wir derzeit noch keine.

Wie gefährlich Coronaviren sind, wird oft in Relation zu Grippeerregern dargestellt. Wie fällt der Vergleich bei den postviralen Beschwerden aus: Ist Post Covid ähnlich gefährlich wie Post Influenza – oder sticht Corona bei den Langzeitfolgen heraus?

Der Vergleich hinkt. In der Coronapandemie ist ein ganz neues Virus in die menschliche Population gekommen, bei Influenza gab es dagegen schon lange eine Restimmunität aus vorherigen Infektionen. Wenn Sie heute Corona bekommen und das Virus ebenfalls auf eine Grundimmunität trifft, ist das Risiko für Langzeitfolgen nicht mehr so hoch wie während der ersten beiden Wellen. Wahrscheinlich gleicht sich die Häufigkeit anderen Virusinfekten an. Zugleich wissen wir nicht genau, wie oft Post Influenza vorkommt – denn so gute Nachuntersuchungen wie bei Post Covid hatten wir noch nie.

Wurde das Risiko für postvirale Erkrankungen vor der Coronapandemie unterschätzt?

Zahlenmäßig haben wir das unterschätzt. Qualitativ vermute ich, dass es nicht so viele schwer wiegende Post-Influenza-Fälle gibt, wie wir das bei Post Covid in den ersten beiden Coronawellen gesehen haben.

Als Risikofaktoren für Post Covid haben Sie Rauchen und Übergewicht ausgemacht. Andere Studien hatten zum Teil auch psychische Vorerkrankungen benannt. Was haben Sie dazu herausgefunden?

Als genereller Risikofaktor für Post Covid waren psychische Vorerkrankungen nicht auffällig. Sie spielen nur dann eine Rolle, wenn man sich einzelne Symptomkomplexe näher anschaut, die ja bei Post Covid sehr unterschiedlich sind. Das ist auch wenig überraschend: Wenn Sie schon Asthma hatten und dann Post Covid bekommen, wirkt sich dies natürlich stärker auf die Lungenfunktion aus – und bei mentalen Vorerkrankungen ist es ebenso, dass sich diese Beschwerden mit Post Covid verstärken.

Können Sie aus Ihren Daten ableiten, wie oft Coronaimpfungen zu ähnlichen Symptomen wie bei Post Covid führen?

Nein, da gab es keine belastbaren Zahlen. Es lässt sich aber sagen, dass die Impfung schwere Coronainfektionen und damit auch das Risiko für das Post-Covid-Syndrom reduziert. Die EPILOC-Studie befasst sich mit den ersten beiden Wellen. Mit derselben Methodik haben wir noch eine Studie zur Häufigkeit von Langzeitbeschwerden nach einer Infektion mit der Omikron-Variante gemacht. Das Post-Covid-Risiko ist um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Das muss damit zusammenhängen, dass bei Omikron die meisten Menschen bereits durchgeimpft waren.

»Der Verdacht einer psychosomatischen Erkrankung kommt immer dann auf, wenn Ärzte bei ihren Untersuchungen erst einmal nichts finden«

Wie Post Covid entsteht, ist noch unklar. Als zwei mögliche Mechanismen diskutieren Mediziner eine Viruspersistenz, also eine fortdauernde Infektion, sowie eine durch die Coronaviren angestoßene Reaktivierung von im Körper schlummernden Epstein-Barr-Viren (EBV). Für beides fanden Sie keine Belege. Wie erklären Sie diesen Widerspruch zu anderen Studien?

Viele bisherige Studien haben kleinere Zahlen von Teilnehmern eingeschlossen, die selektiv nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurden. Wir haben eine repräsentativere, sehr große Bevölkerungsgruppe untersucht. Wenn es da durchschnittlich 17 Monate nach der Akutinfektion keinen Hinweis auf Viruspersistenz oder eine EBV-Reaktivierung gibt, gehe ich fest davon aus, dass sie zumindest zu diesem Zeitpunkt, wenn sich das Post-Covid-Syndrom bereits entwickelt hat, keine aktiven Krankheitsmechanismen mehr sind. Die Hypothesen können wir also nicht bestätigen. Allerdings lässt sich nicht ausschließen, dass solche Mechanismen am Anfang, im Zusammenhang mit der Akutinfektion, eine Rolle gespielt haben. Eine Einschränkung ist: Wir haben das Blutserum und Stuhlproben untersucht, keine Blutzellen und kein Darmgewebe.

Aus den Befunden lässt sich aber nicht schließen, dass es sich bei Post Covid um eine psychosomatische Erkrankung handelt, oder?

Nein, ursächlich ist das keine psychosomatische Erkrankung. Es gibt unspezifische Beschwerden, auch psychische Symptome, die begleitend hinzukommen – wie bei jeder chronischen Erkrankung. Der Verdacht einer psychosomatischen Erkrankung kommt immer dann auf, wenn Ärzte bei ihren Untersuchungen erst einmal nichts finden. Wir sehen bei den Post-Covid-Patienten aber sehr deutlich beispielsweise neurokognitive Defizite oder eine verminderte Muskelkraft, und wir können die Beschwerden auch objektivieren. Bei einer Spiroergometrie [einem Verfahren, das während körperlicher Belastungen die Herz- und Lungenaktivität sowie die Sauerstoff- und CO2-Konzentration in der Atemluft misst; Anm. d. Red.] zeigt sich, dass organisch etwas in der Regulation von Puls, Atmung und Blutdruck durcheinandergeraten ist.

Mitunter wird Post Covid als Scheinproblem einer verwöhnten Mittel- und Bildungsschicht beschrieben und damit auf die Ebene eines eingebildeten Problems gehoben. Bei den Teilnehmern der EPILOC-Studie zeigte sich nun: Menschen mit höherem Bildungsstand waren seltener von anhaltenden Beschwerden betroffen. Was wissen Sie über die Gründe?

Das ist ein interessanter Befund, über den wir lange diskutiert haben. Der Bildungsstand allein wird nicht ausschlaggebend sein, er geht einher mit einem höheren Einkommen und vielleicht auch einem besseren Zugang zu Ärzten und Therapeuten. Aber da kann ich nur mutmaßen.

Wenn Ärztinnen und Ärzte bei ihren Untersuchungen erst einmal nichts finden, wie Sie sagen: Woran liegt das?

Die Diagnostik, die der Allgemein- oder Facharzt macht, ist meistens wenig ergiebig. Das liegt auch daran, wie wir die Patienten üblicherweise untersuchen. EKG und Herzecho messen wir meistens im Ruhezustand, mit liegenden Patienten. Dass man dort nichts findet, ist eigentlich klar, weil man so überhaupt nicht die Beschwerden abklärt, die uns die Menschen beschreiben. Sie berichten uns ja nicht, dass sie müde sind, ohne etwas zu tun – sondern, dass sie schnell erschöpft sind, wenn sie aktiv sind, und dann erholen sie sich tagelang nicht mehr. Wir müssen die Messungen also durchführen, während wir die Patienten vorsichtig belasten, zum Beispiel auf dem Fahrradergometer, und dann sehen die Werte plötzlich ganz anders aus. Das ist eine banale, aber sehr wichtige Erkenntnis. Die Belastungsintoleranz wird in der Diagnostik viel zu wenig berücksichtigt.

»Die Belastungsintoleranz wird in der Diagnostik viel zu wenig berücksichtigt«

Dieses Symptom – auch Post-Exertionelle Malaise (PEM) genannt – ist das Kardinalsymptom der Multisystemerkrankung ME/CFS, der wohl schwersten Ausprägung von Post Covid. Wie häufig führten Coronainfektionen zu dieser Diagnose?

In unserer Studie traf das auf elf bis zwölf Prozent der Post-Covid-Fälle zu. Wir haben diese Menschen anschließend weiter untersucht. In den noch unveröffentlichten Daten scheinen die Fallzahlen später ein wenig abzunehmen. Offenbar können sich Patienten, die vor allem körperliche Beschwerden haben, in ihrer Aktivität anpassen und die Belastungsintoleranz damit in den Griff bekommen. Anders sieht es bei Patienten aus, die vor allem unter Konzentrationsmängeln und Gedächtnisproblemen leiden. Sie können sich schlechter an die Belastungsintoleranz anpassen. Ob es für sie ein hilfreiches kognitives Training geben kann oder ob dies sie zu sehr erschöpft, wissen wir noch nicht.

Nach der Veröffentlichung der EPILOC-Daten regte Ihr Koautor, der Ulmer Epidemiologe Raphael Peter, an, die Rolle des Stoffwechsels im Skelettmuskel näher zu untersuchen. Dieser steht auch im Zentrum einer Hypothese zum Krankheitsmechanismus von ME/CFS, den die Immunologin Carmen Scheibenbogen und der Pharmakologe Klaus Wirth entwickelt haben; sie beschreiben die Erkrankung als eine sich selbst reproduzierende Schädigung der Mitochondrien, also der Zellkraftwerke. Teilen Sie diese Meinung?

Das ist eine interessante Hypothese, die aber noch nicht bewiesen ist. Ich gehe davon aus, dass wir es mit einer Dysautonomie, also einer Störung des autonomen Nervensystems, zu tun haben. Dies und die Rolle des Mikrobioms im Darm werden wir weiter untersuchen. Ich bin optimistisch, dass sich diese viel versprechenden Ansätze irgendwann wie ein Mosaik zusammenfügen werden.

Die Therapieforschung setzt derzeit stark auf Mittel gegen Entzündungen sowie gegen Autoantikörper, also gegen fehlgeleitete Antikörper, die körpereigenes Gewebe angreifen. Halten Sie das für den falschen Ansatz?

Das würde ich nicht sagen. Auch die Autoantikörper-Hypothese ist interessant. Allerdings gibt es aus meiner Sicht noch keine wirklich ermutigenden Studienergebnisse für die untersuchten Therapieansätze.

Eine Mehrheit der Post-Covid-Erkrankten erfährt in Ihrer Studie keine wesentliche Besserung: Führen Sie das allein auf fehlende ursächliche Therapien zurück oder auch auf die Versorgung der Betroffenen?

Die Qualität der Versorgung ist sicher nicht besonders gut; das liegt aber vor allem daran, dass es keine kausale Therapie gibt. Das ist ein großes Dilemma. Einigen Patienten könnten mehr und bessere Angebote für kognitives Training oder eine intelligentere Physiotherapie helfen. Aber insgesamt müssen wir darauf hoffen, dass die Therapieforschung Ergebnisse hervorbringt.

Der Kardiologe und Leiter der Post-Covid-Ambulanz an der Uniklinik Marburg, Bernhard Schieffer, forderte schon vor einiger Zeit mindestens zehn spezialisierte Zentren bundesweit. Diese sollten nicht nur in besonderen Fällen die Diagnostik übernehmen, wie das heute vor allem bei den Unikliniken der Fall ist, sondern Anlaufstellen für die Behandlung sein.

Das ist eine richtige Idee. Es gibt ja bereits Kliniken, die ihre Post-Covid-Ambulanz wieder schließen. Das halte ich für falsch. Grundsätzlich ist das System aus Hausärzten, Fachärzten und Spezialambulanzen gut. Es müssten aber mehr Informationen aus der Forschung bei den niedergelassenen Ärzten ankommen, und die Spezialambulanzen sind weiterhin wichtig. Mit zwei, drei Zentren für Post Covid und ME/CFS schaffen wir keine flächendeckende Versorgung.

Die EPILOC-Studie ist die größte Nachbeobachtungsstudie zu Post Covid in Deutschland. Wie stark lassen sich die Ergebnisse verallgemeinern, welche Einschränkungen gibt es?

Unsere Daten beziehen sich auf die ersten zwei Wellen, und wir mussten schwer betroffene Patienten ausschließen, die keine ambulante Untersuchung vertragen. Da haben wir eine Lücke. Wir haben versucht, herauszubekommen, wie viele das sind, aber das können wir nicht sicher sagen. Das Gesamtbild halte ich für aussagekräftig. Vielleicht gibt es bei einigen chronifizierten Fällen inzwischen Verbesserungen, dafür kommen mit jeder Infektionswelle neue Fälle hinzu. Auf jeden Fall ist Post Covid in Bezug auf die Arbeitsausfälle und die Kosten für das Gesundheits- und Rentensystem sehr relevant.

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