Wissenschaft in der Politik: "Zehn Jahre reichen für den Ausstieg aus"
Spektrum.de: Nach dem Reaktorunfall von Fukushima vor einem Jahr hat die Bundesregierung fast über Nacht den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Ein Grund für die radikale Kehrtwende war das Votum der Ethikkommission für sichere Energieversorgung, deren Mitglied Sie waren. Die Kommission bestand nur zwei Monate, führte aber zu einer politisch deutlichen Entscheidung. War die Arbeit der Kommission aus wissenschaftlicher Sicht also ein voller Erfolg?
Ortwin Renn: Es war sicherlich ein Erfolg – ob aus wissenschaftlicher Sicht, ist eine andere Frage. Denn die Ethikkommission war eigentlich keine wissenschaftliche Kommission: Genau die Forscher, um die es am ehesten gegangen wäre – die Reaktorsicherheitsfachleute oder Spezialisten für Energietechnik und Energiesysteme –, waren bis auf den der Kommission zugeordneten Generalsekretär des Nachhaltigkeitsrats nicht vertreten. Es ging auch weniger darum, neues Wissen zu sammeln, als vielmehr darum, vorhandenes Wissen zusammenzufügen und daraus ein abgewogenes Urteil zu ziehen. Es sollten Menschen zusammengeführt werden, die unterschiedliche Gruppierungen der Gesellschaft repräsentieren: Kirchen, Gewerkschaften, die Industrie sowie Vertreter der großen Wissenschaftsorganisationen wie die Leopoldina oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Dazu kamen Personen, die als ehemals aktive Parteipolitiker aus dem politischen Leben ausgestiegen waren und damit Distanz zur parteilichen Linie besaßen, und Fachwissenschaftler der Sozialwissenschaften und der Ethik. Unser Erfolg bestand vor allem darin, dass alle diese Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Grundeinstellungen zu einer einhelligen Meinung kamen.
Dennoch haben Wissenschaftler mit ihrer Expertise dazu beigetragen, dass man den Konsens zum Atomausstieg gefunden hat. Wie sieht es aber in anderen Ländern aus: Müssten Forscher in Frankreich oder Japan nicht zu ähnlichen Ergebnissen kommen und der Politik einen Ausstieg nahelegen?
Natürlich wird auch in anderen Ländern darüber diskutiert. Ein Teil der Ethikkommission hat aber im Report deutlich gemacht: Es ist nicht unethisch, Kernenergie zu betreiben. Wenn andere Staaten zu dem Schluss kommen, weiter auf Kernenergie zu setzen, ist das also durchaus moralisch vertretbar. Deutschland hat mit inzwischen 19 Prozent einen vergleichsweise hohen Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung. Wir können es uns leisten, auf Atomstrom zu verzichten, weil sein Anteil von rund einem Fünftel der Stromversorgung in den nächsten zehn Jahren durch erneuerbare Energien und effiziente Nutzung der Energie ersetzt werden kann, ohne dass es zu nennenswerten Versorgungsengpässen kommen muss. In Frankreich, wo die Kernenergie 80 Prozent zum Strommix beiträgt, ist das kurzfristig nicht möglich. Dort würden erhebliche Versorgungsschwierigkeiten auftreten.
Die Ethikkommission hatte zudem betont, dass die vergangenen Entscheidungen in Deutschland in den 1970er Jahren für die Kernenergie nicht falsch waren, weil damals die Alternativen noch wenig entwickelt und ihr Potenzial umstritten war. Gleichzeitig war die Kommission davon überzeugt, dass die vorhandenen Risiken der erneuerbaren Energien, einschließlich jener bei der Versorgungssicherheit, beherrschbar sind. Bei uns liegen die Voraussetzungen vor, dass wir auf Kernenergie verzichten können. Eine Übergangsfrist von zehn Jahren reicht für den Ausstieg aus.
Es ging also darum, einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Wurde damit die Ethikkommission nicht auch benutzt, um politische Fehler – etwa die kurz zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung – im Nachhinein wissensbasiert korrigieren zu können?
Bei jeder politikberatenden Kommission spielen zwei Dinge eine Rolle: zum einen das Sach- und Urteilswissen und zum anderen die Legitimation von politischen Entscheidungen. Davor muss und sollte man sich nicht verstecken. Natürlich war die Bundesregierung damals in einer schwierigen Situation. Niemand nahm ihr die Kehrtwende ab. Sie hatte innerhalb ihres eigenen Lagers viele einflussreiche Persönlichkeiten, die an der Kernenergie festhalten wollten. Es sah fast nach einer Paralyse aus. In dieser Situation ist es durchaus sinnvoll, dass die Politik einen Schritt zurücktritt und gesellschaftliche Akteure heranzieht, um womöglich einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herbeizuführen.
Aber je nach politischem Ziel kommen Forscher mit jeweils unterschiedlichen Denkrichtungen zu Wort. Besteht nicht die Gefahr, dass Wissenschaft dadurch instrumentalisiert wird?
Ja, diese Gefahr kann auftreten. Gerhard Schröder hatte es während seiner Kanzlerschaft geschafft, zum gleichen Thema parallel drei oder vier Wissenschaftsgremien einzurichten. Die Politik hat sich dann die Informationen herausgeholt, die ihr am besten gepasst haben. Dadurch wird Wissenschaft tatsächlich instrumentalisiert und deren Leistungsfähigkeit letztlich trivialisiert. Sie dient nur noch als ein Instrument zur nachträglichen Rechtfertigung bereits feststehender Entscheidungen.
Wenn es bei der Politikberatung um den Wissensinput geht, kann man als Wissenschaftler nur sagen, was die Konsequenzen unterschiedlicher Handlungsoptionen sind. Die Entscheidung für eine Handlungsoption muss die Politik dann selber treffen. Das ist das Ideal einer nicht parteilichen Beratung, das natürlich fast nie in Reinform erreichbar ist. Aber grundsätzlich sollte man sehr kritisch sein, wenn man Kommissionen so besetzt, dass man schon zu Beginn weiß, was als Resultat herauskommen wird.
Ein anderes Beispiel: Kürzlich haben sich Forscher extrem besorgt gezeigt, dass die Weltpolitik eigentlich nicht in der Lage ist, auf den sich abzeichnenden Klimawandel adäquat zu reagieren. Deshalb wurde die Gründung eines Weltumweltrats gefordert, damit die Wissenschaft die Politik in die Pflicht nimmt, nachhaltiger zu handeln. Ist das gerechtfertigt?
Jeder einzelner Wissenschaftler kann natürlich machen, was er will, und sich verschiedenen Organisationen anschließen. Aber wissenschaftliche Institutionen müssen darauf achten, dass sie nicht in aktuellen ideologischen Kämpfen Parteilichkeit zeigen. Damit verspielt Wissenschaft ihre Integrationskraft. Wenn also ein Teil der Wissenschaft aufsteht und sich als Mahner aus ihren Erkenntnissen heraus berufen fühlt, auf die Konsequenzen des Klimawandels hinzuweisen, dann ist das nicht nur legitim, sondern auch ethisch geboten. Institutionen sollten in aktuellen Wertdebatten aber nicht Partei ergreifen oder alle Politiker in die Zange nehmen, die angeblich ihren Nachhaltigkeitspflichten nicht nachkommen. Das kann eine Nichtregierungsorganisation tun. Eine Wissensorganisation würde allerdings ihre Kompetenz überschreiten, wenn sie sich selbst zur Partei macht.
Aber Wissenschaftler verfügen über Kenntnisse, die ein Großteil der übrigen Bevölkerung nicht hat. Haben Wissenschaftler damit nicht von sich aus die Verantwortung, politische Entscheidungsprozesse mit zu beeinflussen?
Natürlich. Wissenschaftler müssen nicht warten, bis sie von irgendeinem Ministerium gefragt werden. Sie sollten sich von aus tätig werden und ihre Stimme in den Diskurs einbringen. Die Ratschläge sollen jedoch wissensbasiert und nicht meinungsbasiert sein, sonst beraubt sich die Wissenschaft einer ihrer wichtigsten Vorteile: bei Konflikten integrativ wirksam werden zu können.
Mit ihren Beratungsleistungen haben Wissenschaftler auch Macht. Kritiker sagen, dass diese Macht eigentlich nicht legitimiert ist?
Diese Kritik ist richtig, wenn Wissenschaftler die Entscheidungen der Politik vorwegnehmen wollen – etwa wenn ein Forscher fordert, wir sollten alle Kohlekraftwerke stilllegen. Ein Wissenschaftler kann argumentieren, dass jetzt mit dem Ausstieg aus der Kernenergie der Klimawandel plötzlich keine Konjunktur mehr zu haben scheint. Er oder sie kann auch mahnen, dass wir den Anteil an fossilen Energieträgern reduzieren müssen, wenn wir das politisch gesetzte Ziel von zwei Grad Celsius maximaler Erwärmung erreichen wollen. Das ist eine legitime Aussage.
Wenn ein Wissenschaftler aber konkret fordert, wir müssen dieses oder jenes Kohlekraftwerk schließen, dann ist das eine politische Aussage. Denn bei solch einem Thema geht es nicht allein und nicht einmal vorrangig um Wissenselemente. Gefragt sind hier vor allem auch soziale Aspekte, Umweltauswirkungen oder strategische Überlegungen. Dazu ist Wissenschaft als solche nicht legitimiert. Wir dürfen nicht über das Ziel hinausschießen.
Als Mitglied der Ethikkommission waren Sie auf Grund Ihrer Position auch persönlichen Angriffen ausgesetzt, vor allem im Internet. Muss man das als Forscher aushalten, oder kommt man da nicht eher zu dem Schluss, das tue ich mir nicht an?
Es gibt sicher Menschen, die sehr sensibel sind und die solche Anfeindungen nur schwer schlucken können. Ich glaube auch nicht, dass jeder Wissenschaftler als Person von sich aus Gesellschaftsberatung leisten muss. Das ist auch gar nicht notwendig. Aber wenn man diesen Weg gehen will, kann ich mich nicht wie eine beleidigte Leberwurst zurückziehen und fordern: Ihr müsst mich auch alle lieben. Wenn man in einem öffentlich wirksamen Forum wie etwa der Ethikkommission sitzt, muss man auch die Konsequenzen und Kritik aushalten. Für mich war es manchmal schmerzhaft, und ich habe auch ein paar schlaflose Nächte verbracht, wenn Kritik allzu persönlich und polemisch ausfiel. Wenn man sich aber in einem schwer wiegenden politischen Entscheidungsprozess positioniert, dann wird man nicht nur Freunde gewinnen. Mit Tiefschlägen muss man rechnen.
Es gibt ja naturgemäß ganz unterschiedliche wissenschaftliche Meinungen – etwa zwischen Naturwissenschaftlern, Technologiebefürwortern, Sozialwissenschaftlern oder Philosophen. Wie kann man bei Meinungskonflikten überhaupt zu einem gesellschaftlich richtigem Ergebnis kommen?
Man muss sich von der Illusion befreien, dass es für die Lösung von Problemen immer nur ein richtiges Ergebnis gibt. Ein Physiker kann etwas über die physikalischen Auswirkungen wie etwa die radioaktiver Strahlung aus Fukushima aussagen, ein Mediziner über die Folgen für die Gesundheit, ein Ökonom etwas über die Kosten und Nutzen einer Maßnahme zur Dekontaminierung. Die Soziologen können beitragen, indem sie zum Beispiel die Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft untersuchen und so weiter. Die unterschiedlichen Disziplinen müssen sich nicht widersprechen, sondern sie geben unterschiedliche Fassetten des gleichen Bilds wieder. Es ist dann Aufgabe der Politik, eine Bewertung dieser Wissensstände vorzunehmen. Sie muss abwägen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Renn.
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