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Entzifferung der Hieroglyphen: Zwei gegensätzliche Genies

Wem der Ruhm für eine herausragende wissenschaftliche Leistung gebührt, lässt sich leider selten mit Bestimmtheit sagen, auch nicht in der Archäologie. Ein besonders faszinierender Fall entspinnt sich allerdings um die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen. Diese Großtat aus den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts wird üblicherweise – und völlig zu Recht – dem französischen Linguisten und Archäologen Jean-François Champollion zugesprochen, der seitdem als Begründer der Ägyptologie gilt. Andererseits ist weithin anerkannt, dass die entscheidenden ersten Schritte bei der Entzifferung einem anderen Mann zu verdanken sind: dem englischen Universalgelehrten Thomas Young.

Als jemand, der Biographien über beide Persönlichkeiten verfasst hat, bin ich überzeugt, dass Young – wohlhabend, besonnen und mit einem Blick für das Ganze ausgestattet – die Saat der Erkenntnis in den detailfixierten, heißblütigen und mittellosen Champollion pflanzte. Hätten sie ihre Kräfte vereint, statt sich durch Napoleon Bonaparte, einem Förderer Champollions, entzweien zu lassen, wäre das Rätsel der Hieroglyphen wohl wesentlich eher gelöst worden.

Jean-François Champollion (1790 – 1832)

In krassem Gegensatz zu Champollion, der sich voll und ganz auf Ägypten konzentrierte, war Young von Hause aus Arzt, erreichte dann aber größte Bekanntheit für seine Leistungen in der Physik: Er entwickelte das Doppelspaltexperiment, an dem sich die Wellennatur des Lichts ablesen lässt, und beschrieb den nach ihm benannten Youngschen Modul, eine Eigenschaft elastischer Körper. Als Physiologe wiederum entwickelte er Hypothesen über das Farbsehen des Auges, und als Linguist arbeitete der polyglotte Young an einem Vergleich von rund 400 Idiomen. Ihm verdankt auch die indoeuropäische Sprachfamilie ihren Namen.

Seine Faszination für altägyptisches Schrifttum entwickelte Young im Jahr 1814, als er sich an der Entzifferung des Rosettasteins versuchte. Auf dieser 1799 von Napoleons Truppen gefundenen Stele steht ein und derselbe Text in drei verschiedenen Schriften geschrieben, in Hieroglyphen, demotisch und griechisch, von denen die ersten beiden zur damaligen Zeit noch nicht gelesen werden konnten. Zahlreiche Gelehrte stürzten sich auf die Neuentdeckung, darunter auch Champollions Lehrer, der französische Orientkundler Silvestre de Sacy, und dessen schwedischer Student Johan Åkerblad.

Youngs Neugier hingegen wurde bei der Rezension eines umfassenden sprachgeschichtlichen Werks geweckt. Darin behauptete der Herausgeber, die unbekannte Sprache auf dem Rosettastein sei – ebenso wie andere altägyptische Artefakte – in einer Alphabetschrift aus nicht mehr als dreißig Buchstaben verfasst. Als ihm einige beschriebene Papyri aus Ägypten in die Hände fielen, konnte Young der Versuchung nicht widerstehen: Im Sommer des Jahres 1814 beschaffte er sich eine Abschrift der Stele von Rosetta und zog sich zum Studium nach Worthington an die englische Küste zurück.

Post von Champollion

Im November des gleichen Jahres antwortete er als Sekretär für auswärtige Angelegenheiten der Royal Society auf einen Brief Champollions an den Präsidenten der Akademie. Darin hatte der Franzose erklärt, zwei voneinander abweichende Reproduktionen des Rosettasteins zu besitzen. Er bitte darum, die fraglichen Passagen am Original im Britischen Museum zu überprüfen. Im Jahr darauf erhielt Champollion über seinen Lehrer de Sacy die "Vermutungen zur Übersetzung" des Rosettasteins, die Young in der Abgeschiedenheit von Worthington erarbeitet hatte. Dann aber kam die Schlacht von Waterloo mit all ihren hässlichen Nachwirkungen dazwischen: Der Royalist de Sacy wandte sich gegen den Republikaner Champollion und gab Young sogar den unverhohlenen Rat, seinen einstigen Schüler des Plagiierens zu bezichtigen. Die Korrespondenz zwischen Young und Champollion kam zum Erliegen.

Thomas Young (1773 – 1829) | Stich nach einem Gemälde von Thomas Lawrence, The Dibner Library Portrait Collection – Smithsonian Institution

Spät im Jahr 1821 las Champollion nach eigenem Bekunden Youngs maßgebliches Werk zum alten Ägypten, das 1819 als Zusatz zur Encyclopaedia Brittanica herausgegeben wurde. Im Jahr darauf trafen sich die beiden in Paris im Rahmen jener Versammlung, bei der Champollion seine berühmte Entzifferung der Hieroglyphen bekannt gab – Young erwähnte er dabei nur am Rande. Von 1822 bis 1823 nahmen beide erneut einen behutsamen Briefwechsel auf. Aber als Young schließlich in einem seiner Bücher behauptete, Champollions Entzifferung sei eine "Erweiterung" seiner eigenen Arbeit, kam es zu einer hitzigen Debatte.

In der Öffentlichkeit pflegten die beiden Akademiker gleichwohl einen respektvollen Umgang, zumal Young unter französischen Wissenschaftlern höchstes Ansehen genoss. 1828 arbeiteten sie sogar für kurze Zeit in Paris zusammen. Champollion war zwischenzeitlich zum obersten Kurator der ägyptischen Altertümer des Louvre ernannt worden und gewährte einem dankbaren Young Zugang zu seiner Sammlung sowie einigen privaten Aufzeichnungen über die demotische Schrift.

"Der arme Dr. Young ist also unbelehrbar?"

Im Privatleben nahm Champollion jedoch kein Blatt vor den Mund. So schrieb er 1829 aus dem ägyptischen Tal der Könige höhnisch an seinen Bruder: "Der arme Dr. Young ist also unbelehrbar? Warum eine alte Sache aufwirbeln, die schon so lange mumifiziert ist? … Der Brite kann tun, wie ihm gefällt – es wird unser sein: Und das gesamte alte England wird vom jungen Frankreich lernen, wie man Hieroglyphen nach einer völlig anderen Methode liest."

Französische Autoren haben nahezu einhellig die Position vertreten, nach der Champollion intellektuell unabhängig von Young vorging; jedenfalls nachdem seine Entzifferung Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein anerkannt und Champollion zum Nationalheld gekürt worden war. Außerhalb Frankreichs hingegen sind die Meinungen noch immer gespalten.

Einigen britischen Ägyptologen zufolge soll sich Champollion großzügig bei Youngs Idee bedient haben, dass Hieroglyphen auf einer Mischung aus Buchstaben und Bildzeichen basieren. Der irische Geistliche und Ägyptologe Edward Hincks, der später an der Entzifferung der mesopotamischen Keilschrift mitwirkte, behauptete beispielsweise 1846, dass Champollion sich an Youngs alphabetischer Analyse der Namenskartuschen von Ptolemäus und Berenike orientierte, die in Hieroglyphenschrift auf den Rosettastein gemeißelt waren.

Für Andere hingegen waren Champollions eigene, aufeinander aufbauende Übersetzungen einer Vielzahl von Namenskartuschen ausschlaggebend. Wie der frühere Konservator für ägyptische Altertümer am Britischen Museum, Peter le Page Renouf, 1896 ausführte, waren die spärlichen Deutungen Youngs zu unsystematisch, als dass sie entscheidend gewesen sein könnten. In die gleiche Richtung äußerte sich der derzeitige Kurator des Rosettasteins, Richard Parkinson, im Jahr 2005: "Während Young Teile eines Alphabets entdeckte – einen Schlüssel sozusagen –, schloss Champollion eine komplette Schriftsprache auf."

Auf der falschen Fährte

Meiner Ansicht nach liegt die Wahrheit in der Mitte: Champollion war Anfang 1812 auf einer völlig falschen Fährte. Erst Youngs 1819 erschienener Artikel und vor allem sein vorläufiges "Hieroglyphen-Alphabet" führten zum Umdenken und wiesen dem Franzosen die richtige Richtung. Wäre das nicht gewesen, hätte er vermutlich nie seinen großen Durchbruch von 1822 feiern können.

Schriftliche Belege für den Einfluss Youngs auf Champollion sind nicht überliefert, aber die Inkonsistenz seiner Veröffentlichungen aus den Jahren zwischen 1810 und 1821 spricht Bände: Im April 1821 (noch bevor er Youngs Artikel las) brachte er eine kleine Studie heraus, in der er rund 700 Hieroglyphen und hieratische Zeichen erläuterte. Hieratisch ist die Kursivschrift, die im dritten Jahrtausend v. Chr. aus den Hieroglyphen entstand und um 700 v. Chr. ins Demotische mündete, der anderen ägyptischen Schrift auf dem Rosettastein. Die nur sieben Seiten lange und sieben Illustrationstafeln umfassende Studie "De l'écriture hiératique des anciens Éyptiens" ist in dieser Hinsicht ungewollt aufschlussreich.

Champollion zieht darin drei Schlussfolgerungen: Erstens sei Hieratisch "nicht mehr als eine einfache Modifikation des hieroglyphischen Systems, das sich von diesem nur durch die Form seiner Zeichen unterscheidet." Hieroglyphen waren demnach Vorläufer des Hieratischen und dadurch auch des Demotischen. Zweitens sei Hieratisch "keineswegs alphabetisch" und seine Symbole, drittens, "Zeichen für Dinge und nicht für Laute" – also ideografischer und nicht phonetischer Natur.

Seine erste Schlussfolgerung war korrekt, allerdings war sie schon viel früher von Young veröffentlicht worden. In einem Brief an de Sacy bemerkte Young 1815 eine "erstaunliche Ähnlichkeit" zwischen einigen hieratischen und demotischen Zeichen sowie den "entsprechenden Hieroglyphen" auf dem Rosettastein und einigen Papyri. Diese Entdeckung hatte Champollion nun im Jahr 1821 anhand eigener Forschung wiederholt – so behauptete er jedenfalls.

Dass er mit seiner zweiten Schlussfolgerung aller Voraussicht nach daneben liegen würde, hätte ihm bewusst sein können, zumal sie den Arbeiten de Sacys, Åkerblads und Youngs widersprach. Alle drei stimmten damals bereits darin überein, dass Demotisch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alphabetische Eigenschaften trägt. Im oben erwähnten Brief an de Sacy hatte Young etwa konstatiert, dass Demotisch weder rein ideografisch noch rein alphabetisch ist, sondern vielmehr eine Mischung aus beiden darstellt.

Bedauerlicher Fehler

Angesichts dieser Fehleinschätzung war klar, dass sich Champollion auch bei seiner dritten Schlussfolgerung – Hieroglyphen bildeten "Dinge" ab – irrte. Seine Ablehnung des Alphabetansatzes war ein grober Fehler und die Veröffentlichung noch dazu ein Eingeständnis, wie weit er tatsächlich hinter Young zurück lag.

Schnell bedauerte er die Publikation aus dem Jahr 1821 und unternahm angeblich alle Anstrengungen, um sie nachträglich aus dem Verkehr zu ziehen  – ein Gerücht, an dem vermutlich Wahres ist, denn Exemplare davon sind außerordentlich selten. Außerdem zeigte Champollion seinem Kollegen Young nur die Tafeln mit den Illustrationen, von einem begleitenden Text wusste dieser nichts.

Besonders vielsagend ist allerdings die Tatsache, dass Champollion 1822 die Schrift in seiner Veröffentlichung über die Entzifferung der Hieroglyphen komplett unter den Tisch fallen ließ – was nachvollziehbar ist, denn er hatte sich, nach der Lektüre von Youngs Arbeit wohlgemerkt, dazu entschlossen, eben doch nach einem alphabetischen Element in den altägyptischen Schriften zu suchen.

So verlangte die Entzifferung der Hieroglyphen wohl beides, einen Universalgelehrten und einen Spezialisten, um den Kode zu knacken, auch wenn Champollion dies nie in der Öffentlichkeit zugeben wollte. Youngs unerhörte Vielseitigkeit im Denken erlaubte ihm in den Jahren 1814 – 1819 einige wesentliche Einsichten, aber dann hinderte ihn dieselbe Flexibilität am Fortkommen. Champollions Fixierung auf Details hingegen hielt ihn davon ab, zu denselben Erkenntnissen zu gelangen, dann aber erlaubte ihm sein "Tunnelblick" das System hinter den Zeichen zu erkennen. Sowohl Youngs mannigfaltige Interessen als auch Champollions Konzentriertheit waren demnach die maßgeblichen Kräfte.

Hätten sie zusammengearbeitet, hätte eine "Champollion-Young-Entzifferung" bereits im Jahr 1815 beginnen können. Sie wäre wohl Jahrzehnte früher akzeptiert worden – und nicht erst nach heftigen Auseinandersetzungen in den 1860er Jahren, lange nach dem Tod des Entzifferers Champollion.

Dieser Artikel erschien ursprünglich unter dem Titel "A clash of symbols" in: Nature 483, S. 27–28, 2012

  • Quellen

Young, T.: Miscellaneous Works of the Late Thomas Young, M.D., F.R.S.. Thoemmes Press, 2003 (Wiederabdruck der Ausgabe von 1855)

Robinson, A.: Cracking the Egyptian Code: The Revolutionary Life of Jean-François Champollion. Thames&Hudson / Oxford Univ. Press, 2012

Parkinson, R.:The Rosetta Stone. British Museum Press, 2005

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