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»Tiefen der Täuschung«: Simulierte Wirklichkeiten

Um Klimaveränderungen und Pandemieverläufe vorherzusagen, werden Computermodelle eingesetzt. Darf man solche Szenarien für bare Münze nehmen?
Die 3-D-Simulation zeigt, wie T-Zellen im Körper Krebs bekämpfen.

Moderne Prognosen der Erderwärmung beruhen auf immer detaillierteren Modellen, die in Supercomputern die Entwicklung des Klimas abzubilden versuchen. Skeptiker stellen die Relevanz der daraus abgeleiteten Vorhersagen in Frage: Das seien doch »nur« Modelle mit fragwürdiger Aussagekraft.

Mit ähnlicher Begründung sträubt sich ein Teil der Bevölkerung gegen Anti-Corona-Maßnahmen wie Impfen und Maskentragen: Die Prognosen erzeugten nur unnötige Panik auf Grund von Simulationsrechnungen, die ohnedies bloß Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen könnten.

Die Autoren auf kulturanthropologischer Feldforschung

Somit wäre ein Versuch, den Wirklichkeitsbezug von Computersimulationen zu klären, verdienstvoll und hochaktuell. Mit diesem Anliegen haben sich die Kulturanthropologin Anne Dippel und der Physiker Martin Warnke im zwischen Aachen und Köln gelegenen Forschungszentrum Jülich umgesehen. Dort dient ein imposanter Supercomputer unter anderem dazu, künftige Quantenrechner zu simulieren und so deren Realisierung vorzubereiten. Damit beschäftigt sich in Jülich das Forscherpaar Hans De Raedt und Kristen Michielsen, und auf diese beiden konzentrierten sich Dippel und Warnke bei ihrer »kulturanthropologischen Feldforschung«.

Im Zentrum des Buchs steht die ausgiebige Schilderung des quantenmechanischen Doppelspaltversuchs, der, wie der US-Physiker Richard Feynman (Nobelpreis 1965) schrieb, das »Herz der Quantenphysik« und ihr »einziges Geheimnis« darstellt. Durch die auf einem Schirm hinter dem Doppelspalt entstehenden Interferenzstreifen enthüllen Quantenteilchen – seien es Photonen, Elektronen oder ganze Atome – ihren Wellencharakter. Das Interferenzmuster entsteht selbst dann, wenn der Teilchenstrahl so gedimmt wird, dass bloß einzelne Partikel hintereinander den einen oder anderen Spalt passieren. Sie interferieren, als »wüssten« sie von der Existenz des anderen Spalts, und erzeugen damit sukzessive das typische Streifenmuster.

Diesen Quanteneffekt führten De Raedt und Michielsen den faszinierten Besuchern vor – aber wohlgemerkt in Form einer klassischen (das heißt nicht quantenmechanischen) Computersimulation! Auf dem Bildschirm erschienen, ähnlich wie es sich für ein Experiment mit echten Quantenpartikeln gehören würde, hintereinander einzelne Pünktchen, die mit der Zeit körnige Streifen bildeten. Wie das Simulationsprogramm funktioniert, erfährt man leider nur andeutungsweise. Die Quantenteilchen werden anscheinend durch so genannte Messenger symbolisiert, die durch den simulierten Doppelspalt treten und einen Detektorschirm anregen. Dieser Schirm spielt im Computerprogramm, ganz anders als in Wirklichkeit, eine aktive Rolle, indem er nur solche Messenger »detektiert«, die sich Schritt für Schritt zum simulierten Interferenzmuster anordnen.

So eine klassische Simulation des grundlegenden Quanteneffekts ist zwar keine Hexerei, scheint aber bei Dippel und Warnke geradezu ein intellektuelles Erdbeben ausgelöst zu haben. Sie zitieren Niels Bohr, einen Begründer der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, mit Aussagen, die den gewohnten Realitätsbegriff in Frage stellen, und verquicken das mit einer missverständlichen Auslegung des vor ihren Augen simulierten Doppelspaltversuchs. Wenn ein klassischer Computer Quanteneffekte simulieren könne, so die Autoren, bestehe gar kein wesentlicher Unterschied zwischen Quantenwelt und klassischer Physik: »In der ereignisbasierten Simulation von Michielsen und De Raedt wird die gespaltene Welt wieder eine – und das bei Berücksichtigung aller physikalischen Parameter. Wie kann es einem bei seinem Ergebnis nicht schwindeln?«

Das Wort Schwindel bedeutet je nachdem Gleichgewichtsstörung oder Lüge, und bei Simulation ist der Simulant nicht fern, der etwas zum Schein vorspiegelt. Mit solchen bewusst eingesetzten Assoziationen nivellieren Dippel und Warnke im Lauf des Buchs systematisch den Unterschied zwischen Experiment und Simulation. Sie behaupten, es gebe einen regelrechten Paradigmenwechsel: Mit dem Aufkommen komplizierter Modellrechnungen habe sich die Methodik der gesamten Physik gewandelt. Während man bisher die Natur mit Differenzialgleichungen zu beschreiben versucht habe, verlasse man sich neuerdings auf das Simulieren per Computer.

Damit erweisen Dippel und Warnke dem Anliegen, den Realitätsgehalt von digitalen Modellen einzuschätzen, einen Bärendienst. Sie meinen etwa, bei Klimamodellen begnüge man sich mit der Plausibilität der daraus abgeleiteten Prognosen und achte bloß auf die Ähnlichkeit der Ergebnisse unterschiedlicher Simulationen. Doch tatsächlich testet man ein Modell, indem man zunächst untersucht, ob es aus vergangenen Messwerten die gegenwärtigen richtig vorhersagt, und lässt es erst dann auf die Zukunft los.

Auch das zentrale Kriterium für die Relevanz eines Experiments, die Reproduzierbarkeit, wird im Buch »kulturanthropologisch« relativiert. Als Beleg dient eine Bemerkung des Quantenphysikers Markus Arndt, die er bei einem Besuch der Autoren in der Universität Wien fallen ließ: »Wir sind die Einzigen, die solche Experimente machen können. Niemand kann sie reproduzieren.« Hier verwechseln die Verfasser den berechtigten Stolz des Experimentalphysikers auf einen Vorsprung in der Versuchstechnik mit einer vermeintlich dauerhaften Exklusivität seiner Resultate. Was sich permanent von niemand anderem wiederholen lässt, hat in der Physik keinen Bestand.

Die fortwährenden Wortspiele mit Simulation und Schwindel verführen die Autoren zu der Behauptung, der Turing-Test – ein Gedankenexperiment, bei dem ein Mensch und eine künstliche Intelligenz gegeneinander antreten – belohne, so wörtlich, »eine Betrügerei, denn wenn eine Künstliche Intelligenz sich erfolgreich für einen Menschen ausgibt, hat sie gewonnen und muss intelligent genannt werden«. Auf diesen Einwand hat schon der Erfinder des Tests, Alan Turing, seinerzeit erwidert: Ob ein Mensch intelligent sei, erkenne man nur an seinem Verhalten.

Als Fazit plädieren Dippel und Warnke für einen, wie sie sagen, Operationalen Realismus, der Kultur und Natur vereint, indem er die historischen Rahmenbedingungen der Naturforschung gebührend würdigt und so die leidige Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schließen sucht. Ein wichtiges Anliegen, ein schönes Ziel, das allerdings nicht zu beliebigen Gedankenassoziationen verführen darf.

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