Transformation statt Umbruch
"Ein Großer der Geschichte fällt nicht zwangsläufig vom Himmel, sondern ist stets ein Kind seiner Zeit, unter deren Einflüssen er steht." Ausgehend von diesem Satz des französischen Historikers Jacques Le Goff (1924-2014) begibt sich der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin auf die Suche nach den theologischen Wurzeln Martin Luthers. Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen über die Reformation stellt Leppin seinen Protagonisten in die mystische Tradition des Spätmittelalters und zeigt auf, wo dessen Ideen herkamen, wie sie sich entwickelten und formten. Luther, so die Kernaussage des Buchs, musste nichts neu erfinden, sondern nur Vorhandenes neu denken. Denn Forderungen nach einer grundlegenden Reform der katholischen Kirche "an Haupt und Gliedern" gab es schon lange vor dem Wittenberger Reformator.
Der Autor erzählt gut und mit der lockeren Souveränität dessen, der seine Materie beherrscht. Quellennah und auf aktuellem Forschungsstand legt er überzeugend dar, wie Luther aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie das reformatorische Denken entwickelte und daraus Impulse bezog, um Kirche und Gesellschaft zu ändern.
Im Fahrwasser des Mittelalters
Was oft als genuin reformatorisch angesehen wird, etwa die Überzeugung, der Mensch erlange allein durch den Glauben ("sola fide") und die Gnade Gottes ("sola gratia") das Heil, oder dass die Theologie sich nur an der Bibel orientieren solle ("sola scriptura") – das alles findet sich schon zu früheren Zeiten. Luther, legt Leppin dar, schöpfte aus einem reichhaltigen Fundus an theologischen Ideen. Vieles, was er predigte, war bereits in Ansätzen vorgedacht. So geht der Gedanke, dass Buße ein Vorgang unmittelbar vor Gott ist und nicht notwendigerweise vor dem Priester, auf die Lehren Meister Eckarts (1240-1328) zurück. Das gleiche gilt für Luthers Schelte bezüglich des Geschäfts mit dem Glauben. Wenn der Wittenberger Reformator mit den Ablasshändlern ins Gericht ging, die wie eine Drückerkolonne durchs Land zogen und päpstliche Zertifikate über die Vergebung aller Sünden verkauften, dann griff er auf den englischen Theologen John Wyclif (1330-1384) zurück. Dieser hatte rund 200 Jahre vor Luther den Gläubigen eingeimpft, es bedürfe der Vermittlung durch einen geweihten Priester nicht, um die Betenden mit Jesus Christus zu vereinigen.
So gesehen, schreibt Leppin, sei die Reformation kein radikaler Umbruch gewesen – und Luthers intellektuelle Weichenstellungen (Konzentration auf das Gotteswort, Freiheit der Christenmenschen, Sakramentenlehre, Priestertum aller Gläubigen) nichts anderes als "Transformationen". Luther habe lediglich auf theologische Ideen und Konzepte des 14. und 15. Jahrhunderts zurückgegriffen. Neu war allerdings, wie er diese Elemente miteinander verband.
Unruhige Zeiten
Für den Autor stand Luther in langer Tradition, indem er sich zum Wortführer von Forderungen machte, die seit mehr als einem Jahrhundert gestellt, aber nicht erfüllt worden waren. Was den Wittenberger Augustinermönch von seinen Vorläufern unterschied, war die Beharrlichkeit, mit der er an einmal gefundenen Stellschrauben drehte. Zudem besaß Luther eine besondere Gabe, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Als Laien begannen, sich selbst um Fragen des Heils zu kümmern, aktivierte Luther überkommene Frömmigkeitsformen, intensivierte sie und deutete sie neu.
Leppin greift mit seinem Buch einen bislang vernachlässigten Aspekt der Reformationsgeschichtsschreibung auf. Es gelingt ihm nachzuweisen, dass der spätmittelalterliche Katholizismus mehr Flexibilität und spirituelle Dynamik besaß als bisher angenommen. Was die Leser mitnehmen, ist die Erkenntnis, dass Luther beileibe nicht allein und seine "neue" Lehre ein Produkt spätmittelalterlichen Denkens war. Ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung des Reformationsjubiläums.
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