»Drinnen«: Wissenschaft für Stubenhocker
Wir Menschen wissen, wie heiß es auf der Oberfläche der Sonne ist. Wir wissen, wie viel Druck 11 000 Meter unter dem Meer herrscht. Wir kennen Bakterien, die im Eis der kältesten Tundra leben, und Skorpione, die die trockensten Wüsten ihr Zuhause nennen. Das Wenigste bleibt der Wissenschaft verborgen und wenn etwas unklar ist, dann ist es das immer nur vorerst. Bei all der Wissbegierde des Menschen kam es der Journalistin Emily Anthes merkwürdig vor, dass sie kaum von Forschung hörte, die die Orte untersucht, an dem der Mensch – vor allem in der westlichen Welt – mehr als 90 Prozent seiner Zeit verbringt: Innenräume.
Wie wahrscheinlich die meisten hat die Autorin, die Abschlüsse von der Yale University und dem MIT sowie eine Vielzahl journalistischer Preise vorweisen kann, in den letzten zwei Jahren viel Zeit in ihrer Wohnung verbracht. Davon inspiriert hat sie sich an die Recherche nach verschiedenster Forschung zu Innenräumen gemacht und deren Ergebnisse in diesem Buch gesammelt.
Vom heimischen Mikrobiom und den Tücken des Smarthomes
Nach einer Einleitung folgen neun Kapitel, die sich unter anderem mit Mikrobiom, Arbeitsumfeldern, Gefängnispsychologie, der Smarthome-Technologie und dem Leben abseits unseres Planeten beschäftigen. Die Autorin zeigt auf jeder Seite, weswegen sie aktuell am MIT Wissenschaftskommunikation und -journalismus unterrichtet. Sie bezieht sich in jedem Kapitel auf eine Reihe von Studien und hat mit diversen Forscherinnen und Forschern gesprochen. Die immer fundierten und im Anhang präzise belegten Fakten werden verständlich erklärt und miteinander verbunden, so dass jeweils ein abgeschlossenes Bild entsteht, das die aktuelle Forschung zu dem Themenkomplex darlegt.
Anthes erklärt geduldig und liefert immer wieder Beispiele aus ihrem Privatleben, etwa wenn sie sich bei der Demontage ihres Duschkopfes zur Entnahme einer Biofilmprobe fragt, ob andere Menschen dort regelmäßig putzen. Das macht das Werk gut zugänglich. Der populärwissenschaftliche Charakter ändert nichts an dem hohen Informationsgehalt des Buchs, bei dem auch Lesende, die sich mit dem besprochenen Thema bereits auseinandergesetzt haben, noch einiges Neues erfahren.
Wer wusste schon, dass die Anfänge des Smarthomes nicht im Silicon Valley liegen, sondern bereits in den 1990er Jahren in der Pflege mit diversen Sensoren versucht wurde, das Leben älterer Personen sicherer und komfortabler zu gestalten? Von diesem Ausgangspunkt aus arbeitet sich die Autorin chronologisch vorwärts, wagt einen Blick in die Zukunft und lässt auch ethisch heikle Implikationen der Technik nicht außen vor. So fragt sie nach der datenschutzrechtlichen Problematik, die entsteht, wenn ein smartes Heim etwa genetische Analysen seiner Bewohner erstellen könnte und somit ebenfalls über Verwandte Aussagen träfe, die diesem Verfahren gar nicht zugestimmt haben.
Ihr Ausblick geht so weit, dass sie über die Zukunft menschlichen Lebens auf fremden Planeten nachdenkt. Dieses wird sich zwangsläufig – lässt man aktuell noch sehr umstrittene Theorien zum Terraforming beiseite – in Innenräumen abspielen, da die Oberfläche auf den umgebenden Himmelskörpern bekanntermaßen tödlich ist. Hier können Erkenntnisse zur Psychologie, Ergonomie und Fragen der Nachhaltigkeit, die man sich bereits für heutige Räume stellt, von unschätzbarem Wert sein.
Die unabhängig voneinander lesbaren Kapitel und ihre Inhalte wirken zwar bisweilen etwas willkürlich, was dem Werk manchmal den Charakter eines wissenschaftlichen Sammelsuriums gibt, dies schmälert allerdings kaum die Lesefreude. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass »Drinnen« ein Buch voller interessanter Wissenschaft der Innenräume ist, das uns einen neuen Blick auf ein Umfeld erlaubt, von dem wir eigentlich dachten, es bereits in- und auswendig zu kennen.
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