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»Experimente«: Von Versuchen, Irrtümern und Zufällen

Philip Ball zeigt in seiner illustrierten Wissenschaftsgeschichte bahnbrechende Experimente: gelungen, missglückt oder zufällig. Forscherinnen lässt er eher aus.
Forschung im Labor

Als der Physiker Albert A. Michelson Ende des 19. Jahrhunderts die Existenz von Lichtäther beweisen will, denkt er sich zusammen mit einem Kollegen ein Experiment von »unglaublicher Genauigkeit« aus. Es misslingt. Dieses hypothetische Fluidum, in dem sich Licht bewegt, scheint es wohl doch nicht zu geben. Dennoch erhält er 1907 als erster Amerikaner den Physik-Nobelpreis für seine hochpräzisen Messungen.

Experimente sind das Thema des Chemikers Philip Ball. In seinem Buch beschreibt er 60 Versuche, durchgeführt vom 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bis heute: in Physik, Biologie, Chemie, Genetik oder Verhaltenspsychologie. Wie misst man den Umfang der Erde nur mit Hilfe eines Stabs? Wie wurde die Relativitätstheorie experimentell bewiesen? Welche bahnbrechenden gentechnischen Versuche gab es? Wie konnte man das Verhalten von Krähen erforschen? Ball erörtert auch, welche Rolle glückliche Zufälle beim Experimentieren spielen können, was einen kreativ gestalteten Versuch ausmacht oder wie ein fehlgeschlagenes Experiment neue Erkenntnisse befördern kann. Und Ball betont, dass es keineswegs nur Wissenschaftler sind, die Innovationen hervorbringen. So würdigt er auch die in der Wissenschaftsgeschichte lange vernachlässigte innovative Arbeit von »Handwerksleuten«.

Was ist ein »schönes« Experiment?

Ball stellt nicht nur ausgewählte Experimente vor. In Exkursen geht er auch grundlegenden Fragen nach: Was ist ein schönes Experiment? Ja, was ist überhaupt ein Experiment? Welche Bedeutung haben Instrumente, welche Funktion reine Gedankenspiele? Was verändert sich durch neue Messtechnik? So erzählt Ball, dass Ernest Rutherford dafür bekannt war, teure Geräte zu meiden und lieber selbst hergestellte Apparaturen zu verwenden, die aussahen, als hätte er sie aus alten Blechstücken zusammengezimmert. Und auch wenn das eine oder andere Gerät eher wie ein Haufen Gerümpel angemutet haben mag, so hat der Wissenschaftler damit doch große atomwissenschaftliche Entdeckungen gemacht. Andererseits kauften wohlhabende Männer im 17. Jahrhundert wissenschaftliche Messgeräte wie Mikroskope, um sie – als Zeichen ihres hohen gesellschaftlichen Standes – in Vitrinen auszustellen.

Mit den vielen Abbildungen und wissenschaftlichen Skizzen ist das Buch vor allem auch optisch ein Genuss. Leider ist der Text nicht immer einfach zu lesen. Lange Sätze, verkürzte Darstellungen und die Verwendung von Fachbegriffen erschweren das Verständnis; wissenschaftliches Interesse sollte also bei der Lektüre vorhanden sein. Dass Ball die jeweiligen Experimente kurz auf zwei bis vier Seiten beschreibt, macht das Buch schön übersichtlich. Dabei erfährt der Leser in einem kleinen Kasten immer auch etwas über das Leben des jeweiligen Forschers. So kann man das Buch an einer beliebigen Stelle aufschlagen und immer Interessantes entdecken.

Forschende Frauen? Fehlanzeige!

Wenn Ball von »Forschern« spricht, dann meint er es meist genauso. Denn forschende Frauen kommen in seinem Buch so gut wie nicht vor. Nur bei einigen Abbildungen tauchen weibliche Namen im Copyright auf. Dabei sind die Leistungen vieler Forscherinnen inzwischen ebenso bekannt wie die Mechanismen, die dazu führten beziehungsweise führen, dass ihrer Arbeit die gebührende Anerkennung verweigert wird. Eindrucksvoll, aufrüttelnd und sehr lesenswert haben das Anna Reser und Leila McNeill in ihrem Buch »Frauen, die die Wissenschaft veränderten« dargestellt.

Bei Ball dagegen ist die Welt der Wissenschaft eher komplett in männlicher Hand. Die Mikrobiologin und Genetikerin Martha Chase taucht nur als die Labortechnikerin eines Forschers auf. Und selbst wenn Ball doch mal Forscherinnen erwähnt, werden sie – trotz eigenständiger Arbeit – meist nur zusammen mit ihrem Mann oder Doktorvater vorgestellt. Er verfährt so mit der Verhaltensforscherin Nicola Clayton und der Embryologin Hilde Mangold. Selbst Marie Curie, die zweifache Nobelpreisträgerin, erwähnt er stets zusammen mit ihrem früh verstorbenen Mann als »die Curies« – obwohl Marie Curie einige der im Buch erwähnten Experimente selbst beziehungsweise allein durchgeführt hat. Sie allein war es etwa, die Tonnen an Pechblende verarbeitet, in jahrelanger Schwerstarbeit zerkleinert, erhitzt und mit Flüssigkeit vermischt hat. Diese unzureichende oder nachrangige Präsenz von Frauen im Buch entspricht bei diesem Thema schlicht nicht der Realität.

Trotz dieses Mangels lohnt sich die Lektüre des Buchs. Seine übersichtliche und optisch sehr gelungene Gestaltung lädt zum Schmökern ein. Wer wissenschaftlich interessiert ist und sich auch mal den einen oder anderen Fachbegriff erschließen mag, wird hier manche Entdeckung machen.

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