»Mitte des Lebens«: Breite statt Tiefe
Wer seine »Mitte des Lebens« schon seit einigen Jahren hinter sich hat, kann nur mit Skepsis auf einen Optimismus blicken, der diese als »die besten Jahre« bezeichnet, wie es die Philosophin Barbara Bleisch tut. Zwar besagt die sogenannte U-Kurve der Lebenszufriedenheit, dass im Alter von 50 Jahren das Tal erreicht sei und ab dann allmählich das Glück wieder wachse. Um diese Zeit sind aber wohl die meisten Zeitgenossen und -genossinnen noch eingezwängt zwischen Kindern in der Ausbildung und Eltern, die entweder noch fröhlich auf Reisen gehen oder schon gebrechlich sind und der Hilfe bedürfen.
Bleisch dehnt die Lebensmitte sehr weit auseinander, vom etwa 35. bis zum 65. Lebensjahr. Und sie charakterisiert diese Zeit als ein Plateau, von dem aus man schon einen Überblick über das eigene Werden habe und mit einiger Zuversicht in die Zukunft und das Kommende schauen könne. Das klingt – wie vieles in ihrem Buch – etwas sehr abgehoben, wenn man bedenkt, dass sich heute viele Menschen um die 30 von Vertrag zu Vertrag hangeln und noch keinen festen Platz gefunden haben. Erinnert sei nur beiläufig daran, dass sich in den letzten 50 Jahren die Lebenszeiten verschoben haben: Noch um 1970 studierten gerade einmal sechs Prozent eines Jahrgangs (heute um die 50 Prozent), die meisten gingen mit 16 nach der Haupt- oder Realschule in die Lehre und waren mit Anfang 20 schon verheiratet. Mit der Ausweitung der Ausbildung hat sich das Erwachsenwerden sehr nach hinten verschoben. Um es anders zu sagen: Für eine Bilanz um die Mitte des Lebens – dafür muss man sich die Zeit auch erst einmal nehmen können.
Was das Buch auszeichnet, sind die Vielfalt seiner Themen und geschilderten Lebenssituationen sowie sein leicht lesbarer erzählerischer Stil. So gut wie alle Lebensformen, nicht nur in der Mitte des Lebens, werden berührt von der Reue, dem Bedauern, dem Alles-erreicht-Haben et cetera. Was immer sich im Leben ereignen kann, lässt die Autorin Revue passieren. Die zahllosen Zitate aus Literatur und Philosophie zeugen von ihrer enormen Belesenheit. Sie bietet Lesern eine »Kartografie …, selektiv in jene Gebiete und Kapitel vorzudringen, die sie gerade am meisten beschäftigen und ansprechen. Zum Schluss wird deutlich werden, dass das Umherirren und Sich-Verlieren, das Zweifeln und Fragen genauso zu dieser Phase gehören wie die stille Rast auf der Hochebene des Lebens.«
Allerdings gerät ihr dieser Stil zum Nachteil. Indem Bleisch von Zitat zu Zitat eilt, indem sie alles berührt, aber kaum in die Tiefe dringt, vermisst man bei der Lektüre die philosophische Analyse. Das erkennt die Autorin mitunter selbst, etwa wenn sie schreibt: »Die andere und weitaus größere Schwierigkeit besteht darin, … mit Sorgfalt und Sprachfreude an einer Formulierung zu schleifen, ohne innerlich bereits beim nächsten Text zu sein, den es abzuschließen gilt. In einer Tätigkeit aufzugehen, ist zumindest für mich oftmals schwieriger, als sie hinter mich zu bringen …«
Mangelnde Tiefe
Schade, denn so bleibt bei diesem wichtigen Thema zu viel an der Oberfläche und damit wenig beim Lesen hängen. Man vermisst, was Philosophen eigentlich auszeichnet: dass sie zugleich die wesentlichen wissenschaftlichen Aspekte des Themas recherchiert und durchdrungen haben und diese kritisch durchleuchten können – und dies nicht nur mit Hilfe von Zitaten aus schöngeistiger Literatur und von Philosophen wie Platon, Aristoteles, Wittgenstein oder Schopenhauer (dem Bleisch auch noch fälschlicherweise unterstellt, dass er sein ererbtes »beträchtliches Vermögen … in jungen Jahren« verloren habe), sondern aus eigener Sichtung, etwa sozialpsychologischer und soziologischer Studien.
Diesen Eindruck der Beliebigkeit verstärkt eine weitere Eigenheit des Buchs: Es ist bevölkert von Ausdrücken der Unbestimmtheit, von »vielleicht«, »manche mögen«, »andere«, »möglicherweise« et cetera. In Abwandlung von Goethe möchte man fast hinzufügen: »Denn eben wo Begriffe fehlen / Da stellt ein Zitat zur rechten Zeit sich ein«. Wenn Bleisch von Zitat zu Zitat eilt, um schon im nächsten Absatz oder auf der nächsten Seite mit einem anderen Zitat auf das Gegenteil zu sprechen zu kommen, merkt man allzu deutlich, wie sehr sie sich auf der Suche nach dem richtigen Maß befindet. Schade, dass dabei ein Sprechen des »als ob« und ein faktenarmes konjunktivisches Denken entstehen, die dem Leser wenig Orientierung in der »Mitte des Lebens« bieten.
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