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Ein philosophischer Blick auf Corona

Wie beurteilen Philosophen die gegenwärtige Coronakrise? Das Werk enthält neun Essays, die unter anderem die aktuelle Politik und deren Bedeutung für die Gesellschaft beleuchten.

Corona ist in aller Munde – als Gefahr, Unsicherheitsfaktor, als etwas, was unser Leben bedroht. Maßnahmen der Regierung beruhen meist auf Zahlen wie Inzidenz und auf Stimmungen in der Öffentlichkeit. Gehör finden in erster Linie Virologen und gelegentlich Epidemiologen. Vereinzelt kamen zwar bisweilen auch Philosophen zu Wort, doch ihre Beiträge entbehrten häufig einer Systematik.

Wettbewerb der Gesellschaft für Analytische Philosophie

Da erscheint zur richtigen Zeit das Buch »Nachdenken über Corona. Philosophische Essays über die Pandemie und ihre Folgen«, herausgegeben von den Berliner Philosophen Geert Keil, dem Präsidenten der Gesellschaft für Analytische Philosophie (GAP), und Romy Jaster, der Geschäftsführerin der GAP. Das Werk beruht auf einem gleichnamigen Wettbewerb, den die GAP im Mai 2020 ausgeschrieben hatte. Bis zum Einsendeschluss am 31. August 2020 gingen mehr als 100 Essays ein, die eine internationale Jury sichtete und begutachtete. Der daraus entstandene Band enthält die Essays der drei prämierten Sieger: Christian Budnik (Zürich), Luise K. Müller (Dresden) und Emanuel Viebahn (Berlin) sowie weitere sechs nicht prämierte Texte. Leider versäumten die Herausgeber im Vorwort herauszustellen, nach welchen Kriterien die Jury die Beiträge ausgezeichnet hat.

Das Spektrum der im Wettbewerb geforderten Themen reichte von Güterabwägungen zwischen Gesundheit, Freiheit und Wohlstand, Rechtfertigung von staatlichen Eingriffen in die Grundrechte, Fragen der Medizinethik, Solidarität, der Rolle von wissenschaftlichen Expertisen in Politik und Gesellschaft bis hin zu Fake News und Verschwörungstheorien, Wissenschaftskommunikation sowie Ökonomie und Verteilungsfragen.

Tatsächlich ist »Nachdenken« im wörtlichen Sinn typisch für die Philosophie. In dem Fach denkt man über Geschehenes nach und liefert keine fertigen Antworten; vielmehr stellt man Fragen ans Geschehen. Die besondere Stärke der analytischen Philosophie ist die genaue Untersuchung von Begriffen und den mit ihnen verbundenen Mustern, Handlungen und Vorstellungen. Die analytische Philosophie verliert sich nicht im nebulösen Dickicht, sondern präzisiert Fragestellungen und liefert damit ein Grundgerüst für das Weiterdenken.

In seinem Essay untersucht Christian Budnik »Vertrauen als politische Kategorie in Zeiten von Corona«: Vertrauen begegnet uns als persönlicher Bindungsfaktor vor allem in »Nahbeziehungen wie Freundschaften, Liebes- und Familienbeziehungen«. Dennoch finden wir es auch in Politik, zu Experten und im Verhältnis zu anderen Akteuren. Wer das Vertrauen zu den öffentlich Handelnden verliert, entwickelt Misstrauen, was wiederum Exzesse hervorrufen kann. Budnik plädiert daher dafür, statt von der moralischen Währung des Vertrauens alternativ von »Verlässlichkeit« zu sprechen. Das ist für ihn kein bloßer »begrifflicher Trick«: »Wer sich auf etwas verlässt, macht eine Annahme über die Zukunft, die sich bewahrheitet oder nicht. Wenn sie sich nicht bewahrheitet, hat er keinen Grund, in einem moralisch relevanten Sinn enttäuscht oder empört zu sein – anders als derjenige, dessen Vertrauen missbraucht worden ist.«

Während Luise K. Müller in »Das Samariterprinzip. Warum der Staat in der Not zwingen darf«, dessen »Eingriff in die Autonomie« gerechtfertigt befürwortet (solange »sie uns helfen, unsere individuelle moralische Pflicht zu erfüllen, andere vor großer Not zu retten«), erläutert Emanuel Viebahn mit Mitteln der Sprechakttheorie sein »Lob der Vermutung«. Sprachliche Äußerungen begreift er als Handlungen, Vermutungen sind »repräsentierende Sprechakte«, die auf Wahrheit zielen: »In einer durch Unsicherheit geprägten Situation kann schon die Wahl der Sprechaktform Anhaltspunkte für die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit geben.«

Franz Dietrich (Düsseldorf) diskutiert in »Medizin am Limit: Wie umgehen mit Versorgungsengpässen in der Pandemie?« Kriterien für die Triage, also den Zugang zur lebensrettenden Intensivtherapie. Er unterscheidet eine »Ex-ante-Triage«, bei der die Auswahl der Patienten vor der Behandlung stattfindet, von einer »Ex-post-Triage«, wenn Patienten bereits intensivmedizinisch gepflegt werden. Im ersten Fall plädiert er dafür, »auch die längerfristige Überlebensdauer in die Folgenabwägung« einzubeziehen; bei der zweiten Variante weist er auf das Spannungsverhältnis hin, das »erhebliche psychische Belastungen« für Ärzte und Krankenhauspersonal bedeutet.

Die Ausschreibung forderte neben Klarheit der Argumentation, dass die Essays für eine »größere Öffentlichkeit verständlich geschrieben sein« sollten. Das erfüllen alle Beiträge – und somit auch der Band »Nachdenken über Corona«. Er eignet sich uneingeschränkt als Ausgangspunkt für alle Leser, die sich jenseits der Tagesaktualität einen eigenen Standpunkt zu dem Thema erarbeiten möchten.

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