»Veganomics«: Die vegane Revolution
Sachbuch einmal anders: Eine Menge Bücher thematisieren, wie problematisch die industrielle Land- und insbesondere Viehwirtschaft ist. Das mag sich auch der Schweizer Futurist, Ökonom und Historiker Joël Luc Cachelin gedacht haben, denn sein Buch »Veganomics« inszeniert kurzerhand eine Konferenz in einer fiktiven Zukunft. Die Erde ist zum wiederholten Mal in eine globale Krise gerutscht und sucht nun die Abkehr von der traditionellen Fleischindustrie. Vier kleine Regionen haben diese Entscheidung schon vor längerer Zeit getroffen, jede beschritt dabei einen anderen Weg. An jeweils einem Konferenztag schildern Vertreter dieser Regionen, wie ihr Leben heute aussieht. So soll der Rest der Welt zu einer Entscheidung finden, wie eine wünschenswerte »vegane Revolution« gelingen kann.
Dieser erzählerische Rahmen wirkt etwas bemüht und hat wenig Belletristisches. Aber seine klare Stärke liegt darin, Lösungen zu zeigen, und zwar als ein großes gesellschaftliches Gesamtbild. Anders als Titel und Buchcover suggerieren, leben die vier Gesellschaften der Zukunft jedoch nicht vegan. Sie ernähren sich allerdings nachhaltig und ohne industrielle Tierproduktion.
Ein Szenario beschreibt eine Gesellschaft, die tierisches Protein und andere Tierprodukte durch Algen ersetzt hat. Eine zweite Gesellschaft setzt auf Hightechlösungen wie Fleisch und andere Tierproteine aus dem Bioreaktor. Die dritte Variante nutzt sehr wohl Tiere, aber jene, die nach heutigem Kenntnisstand nicht leiden – etwa Insekten oder Quallen. Lösung vier fokussiert auf eine Kreislaufwirtschaft. Invasive Arten werden ebenso erlegt und genutzt wie die Kadaver von Haustieren. Ja, mit manchen Vorstellungen eckt das Buch vermutlich bei einigen Lesern an. Gemein ist allen vier Gesellschaften aber, dass Fleisch in ihnen wieder ein Luxusgut geworden ist.
Eine fleischarme Zukunft ist möglich
Cachelin weiß, dass eine reale landwirtschaftliche Revolution ein Mix aus diesen vier Szenarien sein wird. Das greift im Buch ineinander, indem die vier Regionen Handel treiben, um Herausforderungen zu lösen, die der jeweilige Ansatz nicht so gut bewältigen kann. Denn letztlich geht es in einer Welt ohne Tierindustrie nicht nur um Nahrungsmittel, sondern auch um andere tierische Rohstoffe wie Leder, die ersetzt werden müssen. Nicht zuletzt sind Alternativen zu Tierversuchen erforderlich. Der Autor überzeugt mit seiner Erzählform, da sie sowohl kritische Fragen behandelt als auch überzeugende Antworten präsentiert. Ein gutes Leben ohne industrielle Viehzucht wird so konkret vorstellbar.
Die Probleme der industriellen Fleischproduktion reißt Cachelin eingangs nur kurz an und resümiert schon da: »Politiker:innen mögen um den heißen Brei reden, aber die planetaren Grenzen lassen keinen anderen Schluss zu: Die Menschheit wird in Zukunft viel weniger Fleisch und – genauso wichtig – viel weniger Milchprodukte konsumieren. Sie wird Schritt für Schritt eine vegane Gesellschaft werden.« Auch gängige Falschbehauptungen kommentiert der Autor zu Beginn des Buches nur kurz: »Das von Fleischindustrien und konservativen Politiker:innen gestreute Vorurteil, eine vegane Ernährung sei ungesund oder mit unsrem Körper inkompatibel, ist schlichtweg falsch.«
Der Blick auf die Gegenwart ist ernüchternd
Erst im hinteren Teil des Buches geht Cachelin detailliert darauf ein, wie die heutige Welt der Fleischwirtschaft aussieht. Er berichtet von 1,5 Milliarden Schweinen, die jährlich getötet werden. Er schildert die quälerischen Bedingungen, unter denen Nutztiere ihr extrem kurzes Leben fristen – zehn Schweine auf der Fläche eines Pkw-Stellplatzes. Er beschreibt die ökologischen und gesundheitlichen Folgen. Und der Autor erläutert, wie es zu diesem System gekommen ist, wie konservative Politiker es beschützen und was das Thema mit Emanzipation und Geschlechterrollen zu tun hat: »Lange Zeit verband man mit dem Blut von dunklem Fleisch den männlichen Mythos, es würde Kraft, Aggression, Leidenschaft und sexuelle Potenz steigern. […] Deutsche Männer aßen doppelt so viel Fleisch wie Frauen. […] Braten und Rösten war männlich, Kochen und Backen weiblich. […] Es geht um Gewohnheiten und Macht.«
Die zahlreichen Fakten, die Cachelin im Verlauf der mehr als 200 Seiten präsentiert, belegt er mit insgesamt fast 600 Quellen. Dabei handelt es sich bei den vorgestellten Lebensweisen und Technologien keineswegs um Sciencefiction. Das meiste, was die vier alternativen Gesellschaften prägt, existiert heute schon als Prototyp, Start-up, teilweise sogar im Großmaßstab. Der Rest scheitert aktuell an ökonomischen Hürden, weil die industrielle Viehwirtschaft mit Milliarden subventioniert wird: »Konsument:innen decken mit ihren Zahlungen nur ein Drittel der tatsächlichen Kosten von Rindfleisch. […] Hätte man den gesamten unsichtbaren Ressourcenverbrauch bezahlt, wären die Preise sechs- bis siebenmal so hoch gewesen.«
Dass der Autor die lösungsorientierte Sicht auf die erste Hälfte des Buches konzentriert, ist eine gute Entscheidung. So vermeidet er, dass die Leser nach der harten Wahrheit über die Gegenwart das Buch aus der Hand legen, weil sie die Informationen nicht ertragen und die Utopie nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Denn die ist höchst interessant und geeignet, optimistisch in eine fleischarme Zukunft voranzuschreiten. Dass dies technologisch und wirtschaftlich möglich ist, belegt das Buch; und auch, dass die wesentliche Hürde der gesellschaftliche Wille ist. »Veganomics« baut Unsicherheiten und damit Ängste ab und trägt dazu bei, diese Hürde zu senken.
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