Expedition in den Mikrokosmos
Sie sind rund 10 000-mal kleiner als ein Sandkorn, und es gibt 100-mal mehr von ihnen auf unserer Erde als Sterne im Weltall. Diese verblüffend anschaulichen Vergleiche sind Auftakt eines Buchs, das sich mit der faszinierenden Welt der Viren beschäftigt – von den Gigaviren der Vorzeit bis hin zu den Typen, welche die Welt bis heute in Atem halten, wie HIV, Ebola, Krebs erzeugende Viren und natürlich das neue Coronavirus Sars-CoV-2.
Ungeheure Vielfalt an Themen
Der vielfach ausgezeichnete Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt legt sein Buch zur rechten Zeit vor, denn Corona entfacht ein nie gekanntes Interesse der breiten Öffentlichkeit an Fragen der Virologie. Anders als das Cover vermuten lässt, geht es erst im letzten der sechs Kapitel um Corona und Co. – das tut der wissenschaftlichen Tiefe aber keinen Abbruch. Bis dahin packt der Autor seine Leserschaft mit einer ungeheuren Vielfalt an Themen rund um die Virologie, allesamt gut lesbar, doch mit Liebe zum Detail verfasst, so dass bei der Lektüre ein Grundverständnis und tieferes Interesse an Biomedizin von Vorteil ist.
So geht es um die evolutionäre Entstehung von Viren, um die verschiedenen Arten und ihre parasitären Überlebensstrategien. Der Autor beschreibt die großen Pandemien und Epidemien der Menschheitsgeschichte von Pest und Pocken über die (Spanische) Grippe bis hin zur Kinderlähmung (Polio). Dabei begibt er sich auf eine Zeitreise durch die Jahrhunderte und lässt die Leserschaft an der nervenaufreibenden Suche nach dem Faszinosum Virus teilhaben, das sich – lange unsichtbar und namenlos – erst in den 1930er Jahren unter dem Elektronenmikroskop zu erkennen gibt.
»Im historischen Kontext wird entwickelt, was Forscher – oft unter Einsatz ihres Lebens (und des von anderen) – über Viren in Erfahrung gebracht haben«, kündigt Eckoldt im Vorwort an. Dabei sind es die Ausflüge in Politik und Zeitgeschichte der jeweiligen Epochen, insbesondere auch der Nazizeit, die das Buch so außergewöhnlich lesenswert machen. Stellenweise liest es sich wie ein Krimi, etwa wenn Eckoldt die ethisch zu verurteilenden Menschenversuche und Impfexperimente nicht nur der jüngeren Geschichte beschreibt. Eine beachtliche Zahl an Quellen und Literaturhinweisen ist am Ende aufgeführt. Auch ein Sach- und Personenregister bereichert das Buch, in das Leben und Werk etlicher großer Forscher mit einfließen, von der Antike bis zur Gegenwart. Abbildungen sind dagegen leider kaum zu finden.
Sind Krankheiten die Strafe Gottes? Können giftige Ausdünstungen, verunreinigte Luft oder elende Biestchen die Ursache sein? Von Hippokrates und Aristoteles und ihren Überlegungen zur Krankheitsentstehung bis hin zur Lichtmikroskopie, die Ende des 17. Jahrhunderts das Tor zur Welt der Mikroorganismen aufstieß, weil sie zumindest die viel größeren Bakterien sichtbar machte, war es ein weiter Weg, den Eckoldt sehr detailliert nachzeichnet.
Von Louis Pasteur, Robert Koch und vielen weiteren Wegbereitern der Mikrobiologie geht die Reise bis mitten hinein in die moderne Virologie und Gentechnik, die virale Vektoren als Gen-Fähren nutzt, um die Erbanlagen von Zielorganismen zu verändern. Eckoldt zeigt auf, was in Medizin und Landwirtschaft heute möglich ist, und referiert über optimierte Nutzpflanzen, transgene Mücken und erbgutbasierte Impfstoffe. Dabei macht er sich nicht zum Fürsprecher, sondern bleibt kritisch, wägt ab, diskutiert unabsehbare Folgen und warnt auch vor der Gefahr des Bioterrorismus. Er argumentiert erfreulich faktenorientiert und widerlegt aktuell kursierende Verschwörungstheorien.
Und noch etwas macht das Buch klar: Das Geschäft mit der Wissenschaft ist hart. Eckoldt kennt unterhaltsame Anekdoten um Forscherehrgeiz und Nobelpreis-Gerangel und das ewige Streben nach Ruhm und Geld. »Alle Bereiche des Lebendigen werden mehr und mehr dem Effizienzprinzip und der Gewinnmaximierung unterworfen«, beklagt er im Hinblick auf die Patentierung von genveränderten Organismen und – gerade aktuell – Impfstoffen. Er erinnert an Jonas Salk, der eine Patentierung seines Polio-Impfstoffs in den 1950er Jahren ablehnte, weil dieses Patent »den Menschen gehöre« und »die Sonne auch nicht patentierbar sei«. Dieses moralische Vorbild müsste »den heutigen Protagonisten der gesamten Biotech-Branche eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben«, so Eckoldt.
Offenbar haben wir die Demut vor der Natur verloren. Dass sich Viren nicht austricksen lassen und unsere Eingriffe in die Umwelt immer neue Mutationen und somit Pandemien provozieren, wird nach der Lektüre verständlich. Ein beunruhigendes Szenario, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
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