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Mensch und Willensfreiheit

"Ein Pfund Menschenhirn gab, außer vielem Wasser, zwei Drachmen Laugensalzgeist, 1 2/3 Unzen ranziges Öl, 40 Gran flüchtiges Salz." Mit diesen Worten des deutschen Naturforschers Samuel Thomas von Soemmerring (1755-1830) beginnt das amüsant und verständlich geschriebene Buch von Marco Stier, der als Philosoph und Historiker arbeitet. Wie kann von einer so unspektakulären Stoffmischung ein freier Wille ausgehen?

Viele Forscher bestreiten, dass es den freien Willen gibt. Der Philosoph Marco Stier kennt ihre Einwände. "Wenn die Hirnforscher Recht haben, dann ist das Gefühl, sich nach reiflicher Überlegung frei entscheiden zu können, nur eine Illusion", stellt er fest. Stier geht auf die Versuche des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet (1916-2007) ein, die unter Neurowissenschaftlern und Philosophen noch immer zu den meistdiskutierten Experimenten zählen. In den 1980er-Jahren hatte Libet die zeitliche Abfolge zwischen einer Handlung, ihrer Einleitung auf neuronaler Ebene und dem dazugehörigen bewussten Willensakt untersucht. Die Versuchspersonen bewegten ihre Hände zu einem selbst gewählten Zeitpunkt, den sie an einer Uhr ablesen konnten. Währenddessen wurde die elektrische Aktivität der Muskeln und des Gehirns aufgezeichnet. Das Ergebnis war für Libet selbst überraschend. Das Gehirn leitet die Bewegung etwa 500 Millisekunden vor ihrem Beginn ein. Der Willensakt jedoch, also die Entscheidung, die Hand zu bewegen, wird den Teilnehmern erst 200 Millisekunden vor Ausführen der Bewegung bewusst – also nachdem das Gehirn die Handlung bereits eingeleitet hat. Viele Wissenschaftler haben hieraus weitreichende Schlüsse in Sachen Willensfreiheit gezogen. Ihrer Meinung nach zeigen die Libet-Experimente, dass menschliches Handeln nicht von bewussten Entscheidungen abhängt, sondern von unbewussten Hirnprozessen.

Dem Bewusstsein um sieben Sekunden voraus

Aktuelle Studien scheinen das zu bestätigen. Mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie zeigte ein Team um John-Dylan Haynes, Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin: Die Entscheidung, ob ein Versuchsteilnehmer den linken oder rechten Zeigefinger bewegen wird, fällt bereits sieben Sekunden, bevor er sich dessen bewusst wird. Demnach verfügen unbewusste Vorgänge im Gehirn darüber und stellen den Menschen dann vor vollendete Tatsachen.

Stier erkennt diese Ergebnisse an, denkt aber weiter. Menschen, schreibt er, seien in ihrem Dasein auf Begriffe wie "Willensfreiheit", "Kontrolle" und "Verantwortung" angewiesen. Das deute möglicherweise darauf hin, dass sich ihr Leben auf einer Ebene abspiele, auf der es gar nicht um physikalische Ursachen gehe. Menschen hätten Gründe für ihr Handeln, und auf die käme es an. Daraus ergibt sich schon die nächste Frage: Inwiefern sind Gründe etwas anderes als Ursachen?

Ausführlich beleuchtet Stier die verschiedenen philosophischen Positionen hierzu. Die Deterministen gehen davon aus, dass in dieser Welt immer Bedingungen existieren, die festlegen, was in der Zukunft geschehen wird. Da alle Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt seien, gebe es keinen freien Willen. Libertäre lehnen diese Sichtweise ab; ihrer Meinung nach lässt sich die Freiheit von äußeren und inneren Zwängen erreichen. Andere wiederum folgen dem Konzept der "kompatibilistischen Willensfreiheit": Sie sind überzeugt davon, freier Wille und Determinismus seien miteinander vereinbar. Den Kompatibilisten zufolge ist der Mensch nicht frei, sobald er gezwungen wird, etwas zu tun. Eine Willensfreiheit erlebe er hingegen dann, wenn er aus seiner persönlichen Perspektive heraus die Überzeugung gewinne, sich entscheiden zu können. Ob irgendwelche hypothetischen Ursachenketten hierbei seinen Willen bestimmen, nehme er nicht wahr und sei auch nicht unbedingt interessant. Der postulierte Zwang des Determinismus ist nach Ansicht der Kompatibilisten nicht vergleichbar mit dem Zwang, den man erfährt, wenn man unter körperlicher oder seelischer Bedrohung handeln muss – etwa als Geisel.

Ohne Verantwortung keine funktionierende Gemeinschaft

Gibt es die Willensfreiheit nun oder gibt es sie nicht? Und haben die hochgelehrten Argumente dafür oder dagegen überhaupt etwas mit dem wirklichen Leben zu tun? Stier holt seine Leser auf den Boden der Tatsachen zurück. Im Alltag ginge es meist nicht um Theorien der Kausalität, sondern um ein funktionierendes Dasein in der Gemeinschaft. "Jemand muss verantwortlich sein, sonst ist uns unwohl", fasst der Autor die Ergebnisse von Befragungen zusammen.

Stier will keine abschließenden Antworten geben, sondern den Leser selbst entscheiden lassen. "Wenn Sie nun (...) ein wenig in Verwirrung geraten sind, dann ist das überhaupt nicht von Nachteil", resümiert er. Sein Buch solle lediglich Anregungen zum Nachdenken geben. Und die seien wichtig, schließlich gehe es beim Problem des freien Willens um nahezu alle Facetten des menschlichen Zusammenlebens. Denn die Frage, ob und wie wir für unsere Handlungen geradestehen müssen oder nicht, sei von elementarer Bedeutung für das Miteinander.

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