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Die Einstellung zählt

Was macht gute Wissenschaft aus, und wie unterscheidet sie sich von Pseudowissenschaft? Ein Wissenschaftsphilosoph macht sich anhand praktischer Beispiele auf die Spurensuche.

Immer mehr Menschen verlieren den Glauben an die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen und vertrauen stattdessen lieber ihrem Bauchgefühl oder alternativen Fakten. Hochrangige Politiker negieren die erdrückenden Beweise für den menschengemachten Klimawandel, während sich in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen ein hartnäckiger Glaube an die Schädlichkeit von Impfungen hält und »Corona-Leugner« offen gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie demonstrieren. Wie kann es dazu kommen?

Was macht gute Wissenschaft aus?

Lee McIntyre, Wissenschaftsphilosoph am Center for Philosophy der Boston University, sucht in seinem Buch »Wir lieben Wissenschaft« nach Antworten auf die Fragen, was gute Wissenschaft ausmacht und wie sie sich von anderen Formen des Erkenntnisgewinns unterscheidet.

Seiner Meinung nach sollte jeder Bürger über ein Grundverständnis wissenschaftlicher Fakten verfügen. Doch obwohl McIntyre das Argument kompetent vermittelt, ist unwahrscheinlich, dass er damit »wissenschaftsferne« Leser erreicht – dazu ist sein Buch schlicht zu anspruchsvoll. So legt er am Anfang die Grundlagen der Wissenschaftsphilosophie mit ihren Protagonisten wie Karl Popper und Thomas Kuhn dar. Hier begegnen dem Leser unter anderem Poppers berühmte Forderung nach der Falsifizierbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie, Kuhns Auffassung, Wissenschaft sei durch Paradigmenwechsel gekennzeichnet, sowie das Abgrenzungsproblem, also die Frage, wie sich Wissenschaft von Nichtwissenschaft unterscheiden lässt. Fordere man beispielsweise, die Durchführung von Experimenten sei für Wissenschaft unabdingbar, müsse man laut McIntyre Disziplinen wie Geologie und Astronomie als unwissenschaftlich einstufen. Reiche dagegen die Suche nach empirischen Belegen aus, würde dies etwa Astrologie und Kreationismus einschließen.

Nach diesem anspruchsvollen theoretischen Einstieg geht es anschaulicher weiter. Mit Hilfe geschichtlicher Beispiele beantwortet der Autor Fragen wie: Was tun Verfechter des Intelligent Design (Kreationismus) nicht, was ernst zu nehmende Wissenschaftler tun? Warum ist der Skeptizismus der Klimawandelleugner nicht gerechtfertigt? Denn, so lautet McIntyres Kredo: Wenn man wissen will, wodurch sich Wissenschaft auszeichnet, muss man sich anschauen, welche Gebiete nicht dazugehören.

Dem Autor zufolge lässt sich Wissenschaft nicht durch eine besondere Methode von anderen Formen des Erkenntnisgewinns abgrenzen, vielmehr sind die Werte und das Verhalten der Menschen, die Wissenschaft praktizieren, ausschlaggebend. Dazu gehört vor allem das aufrichtige Interesse an empirischen Belegen sowie die Bereitschaft, die eigene Theorie vor dem Hintergrund neuer Beweise zu ändern. Als leuchtendes Beispiel für eine solche Grundhaltung präsentiert McIntyre den Wiener Arzt Ignaz Semmelweis, der auf Basis empirischer Daten eine bis heute gültige Theorie zur Entstehung des Kindbettfiebers aufstellte und dafür zeitlebens von seinen Fachkollegen angefeindet wurde.

Wieso aber bleiben Wissenschaftler so oft hinter diesem Anspruch zurück? An dieser Stelle geht McIntyre auf die größten Fehlerquellen ein, die durch Karrieredruck, Konkurrenz und Publikationszwang gefördert werden. Dazu zählen das Herauspicken gewünschter Ergebnisse, das Offenhalten eines Experiments bis zum gewünschten Ergebnis, die Anpassung von Kurven, die Verwendung zu kleiner Stichproben und die Manipulation des p-Werts als Maß für die Signifikanz eines Ergebnisses.

Vorsätzlichem Betrug, der Leugnung von Fakten und pseudowissenschaftlichen Umtrieben widmet sich McIntyre anhand der falsch dargestellten Impfstudie des englischen Journalisten Andrew Wakefield, die bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung immensen Schaden angerichtet hat, sowie am Beispiel von Klimawandelleugnern und Kreationisten, die wiederholt versuchten, ihre Ansichten in den Lehrplänen US-amerikanischer Bundesstaaten zu implementieren.

Der Ausblick des Werks führt in die Sozialwissenschaften, in denen McIntyre die wissenschaftliche Grundhaltung noch nicht überall umgesetzt sieht. Insgesamt ist »Wir lieben Wissenschaft« ein Buch für alle Menschen, die Wissenschaft betreiben oder verstehen möchten – und bereit sind, sich für die Lektüre Zeit zu nehmen.

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