Hommage an unsere Natur: Es lebe der Wildwuchs
Im Wasser treibt ein Mann, wie tot. Ein Ehepaar schlendert auf einem Weg entlang des Flüsschens. Die Frau erblickt die vermeintliche Leiche und stößt einen gellenden Schrei aus … Was sich wie der Beginn eines Kriminalromans liest, entpuppt sich rasch als eines der neun unterhaltsamen Kapitel zum Naturschutz in Deutschland, welche die langjährige Wissenschaftsjournalistin Johanna Romberg in ihrem lesenswerten wie fundierten Buch »Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht« gesammelt hat.
Beim »toten Mann« handelt es sich um den tatsächlich quicklebendigen Biologen Reinhard Altmüller, der sein Leben seit Jahrzehnten einem Projekt widmet: der Rettung der Flussperlmuschel (Margaritifera margaritifera) und ihres Lebensraums, des Flusses Lutter bei Celle. Früher war die Art in Europa weit verbreitet und gesucht, weil sie – der Name verrät es – große Perlen erzeugen konnte, die beim Adel stark gefragt waren. Doch wie so oft sorgten Übernutzung, Überdüngung und Überformung der Fließgewässer dafür, dass die Weichtiere immer seltener wurden und vielerorts verschwunden sind.
An der Lutter hatte ein kleiner Bestand überlebt, aber er vermehrte sich nicht mehr. Und obwohl Altmüller, der Arzt Wolf-Dietrich Bischoff (der sein Privatleben ziemlich stark der Muschel gewidmet hat) und weitere Wissenschaftler alles versuchen, den Bestand mit nachgezogenen Jungmuscheln zu stützen, scheitern sie regelmäßig: Es wollen sich keine Jungmuscheln ansiedeln. Erst als sie sich dem Fluss als Ganzen widmen, erkennen sie, warum die Mollusken überaltern: Das Problem ist nicht die mangelhafte Paarungsbereitschaft, sondern dass das Gewässer am Grund mit Schlamm und Sand verstopft wird. Mangels ausreichender Fließgeschwindigkeit transportiert die Strömung Feinmaterial kaum mehr ab, die nicht nur für die Muscheln lebensnotwendige Kiesbedeckung am Grund wird zusedimentiert.
Nun mussten die Biologen und Hydrologen zu drastischeren Maßnahmen greifen. Sie erwarben die Staurechte einer Mühle und verhinderten, dass die Wehre dort regelmäßig geöffnet werden und das dahinter aufgestaute Sediment ausgeschwemmt wird – und so den flussabwärts gelegenen Abschnitt zukleistert. Stattdessen holt ein Bagger das Sediment regelmäßig aus dem Teich. Die positiven Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Insekten, Flohkrebse und typische Fische kehrten bald in Massen zurück. Und auch die ersten jungen Muscheln waren bald zu entdecken.
Damit war das Projekt jedoch noch nicht am Ende. Denn Altmüller und Co dachten größer und wollten möglichst das gesamte Einzugsgebiet der Lutter renaturieren. Ein Jahrhundertprojekt, das sie dennoch angingen. Mit Erfolg: Heute gehören Teile der Lutter und die in sie mündende Lachte zu den wenigen Fließgewässern Mitteleuropas, in denen sich die Flussperlmuschel natürlich fortpflanzt.
Es ist eine Geschichte, die Mut macht, wie die anderen acht Hauptkapitel auch. Fundiert und lebhaft beschreibt Johanna Romberg verschiedene Projekte in Deutschland und die Personen, die sich diesen Aufgaben aus Liebe zur Natur völlig verschrieben haben. Es gibt da den Forstdirektor Lutz Fähser, der die Bewirtschaftung des Lübecker Stadtwalds revolutioniert und diesen dadurch nicht nur zukunftsfähiger für den Klimawandel macht, sondern auch die Artenvielfalt in den Wald zurückholt. Oder die Industriekauffrau Birgitt Piepgras, die sich regelmäßig nachts in Wald, Feld und Flur stellt, um mit einer speziellen Vorrichtung Nachtfalter anzulocken, sie zu bestimmen und zu zählen – eine leider verkannte und eher unbekannte Gruppe an Insekten, die an Vielfalt die Tagfalter locker übertrumpft und durchaus im Farben- und Formenreichtum mit ihnen konkurrieren kann.
Dann wiederum ist die Rede vom Greifswald Moor Centrum, einem weltweit führenden Institut, wenn es darum geht, die Wiedervernässung und Renaturierung von Mooren zu erforschen und auszuprobieren. Die Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort könnte bald den klima- und naturzerstörenden Verbrauch von Torf für den Gartenbau überflüssig machen. Substrat aus extra gezüchtetem Torfmoos schnitt im Test einer Gärtnerei deutlich besser ab als die üblicherweise genutzte Torferde. Erfolgreiche Projekte mit Vögeln dürfen bei der passionierten Ornithologin Romberg natürlich nicht fehlen. Und auch in der Landwirtschaft gibt es hoffnungsvolle Ansätze wie F.R.A.N.Z., bei dem die konventionelle Landwirtschaft naturverträglicher werden soll – und wird: Auf den Flächen der teilnehmenden Betriebe leben wieder mehr Hasen oder Feldlerchen, ohne dass die Produktion übermäßig leidet.
Zwischen den einzelnen Großkapiteln, die jeweils mit einer prächtigen Illustration von Florian Frick eingeleitet werden, finden sich kürzere Abschnitte, in denen Johanna Romberg von ihren Exkursionen in den eigenen Garten, ihr Dorf oder die umliegende Landschaft berichtet. Angeregt durch Berichte auf Twitter nimmt sie an Pflanzen-Challenges teil und freut sich, wie ihre Artenkenntnis und -liste wächst. Traditionalisten mögen die Stirn runzeln. Aber dank Bestimmungs-Apps und der Schwarmintelligenz naturinteressierter Internetnutzer lassen sich heute selbst knifflige Pflanzen oder Insekten herausfinden und das Interesse wecken und mehren (mit Hilfe der App Flora Incognita bestimmt der Autor der Rezension mittlerweile selbst gerne Pflanzen, während vorher sein Interesse vor allem der Tierwelt galt).
Im letzten Kapitel schließlich entwirft Johanna Romberg ein Szenario für die Zukunft: wie es gelingen kann, dass Deutschlands Natur nicht nur in wenigen Fragmenten irgendwie überlebt, sondern flächendeckend wiederauflebt. Möglich ist dies auf alle Fälle, das beweisen die vorgestellten Projekte. Es fehlt nur (noch) der Wille der Politik, dies auch gegen lautstarke Lobbygruppen durchzusetzen.
Das wunderbare Buch »Der Braune Bär fliegt erst nach Mitternacht« lässt die Hoffnung jedenfalls am Leben, dass wir eines Tages wieder zu einem naturverträglicheren, bunteren Leben in Deutschland zurückkehren. Es kann nur jedem an der Natur interessierten Menschen zur Lektüre empfohlen werden.
PS: Und was hat es nun mit der vermeintlichen Wasserleiche auf sich? Das war natürlich ein Missverständnis: Um die Muscheln zu zählen, lässt sich Reinhard Altmüller relativ regungslos durch den Bach treiben, damit er nicht auf seine Schützlinge tritt. Wer nicht genau hinsieht, kann dann schon zu so einem Fehlschluss kommen.
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