Biologie: Ingenieure des künstlichen Lebens
Synthetisches Leben – das klingt nach Sciencefiction. Tatsächlich sind Biologen aber auf dem Weg dorthin ein großes Stück vorangekommen. Der bekannte und umstrittene Biochemiker Craig Venter hatte bereits im Jahr 2003 das komplette Genom eines Virus zusammengesetzt. 2010 synthetisierte sein Team das Erbgut des Bakteriums Mycoplasma mycoides und schleuste es erfolgreich in die Zelle eines ähnlichen Bakteriums ein, dem sie vorher seine DNA entnommen hatte. Dann entfernte die Gruppe in jahrelanger Arbeit alle nicht unbedingt lebenswichtigen Gene und erschuf im Jahr 2016 das künstliche BakteriumMycoplasma mycoides JCVI-syn3.0, das nur noch 473 Gene enthielt. Das sei die absolute Grundausstattung, meinte Venter. Die Konfiguration hatte er experimentell ermittelt. Von 149 Genen war die Funktion allerdings unbekannt. Sicher war nur, dass das künstliche Bakterium starb, wenn man eines der Gene herausnahm oder stilllegte. Künstliches Leben existiert also bereits und deshalb stellt das Video des Youtube-Channels »Seeker« auch nicht die Frage, wann künstliches Leben möglich wird, sondern wann wir es für uns nutzen können.
Seeker hat drei Wissenschaftler befragt, die im Moment an vorderster Front tätig sind. Der umtriebige Mikrobiologe und Unternehmer Andrew Hessel ist einer der Gründer der Firma Humane Genomics, die personalisierte virusbasierte Krebstherapien anbieten will. Zurzeit experimentiert die Firma noch mit Hunden, der Einsatz am Menschen liegt noch in der Zukunft. Sie will aber bereits den Nachweis erbracht haben, dass man vom Design am Computer zu einem lebenden Virus kommen kann, das bevorzugt bestimmte Krebszellen befällt. Das Verfahren soll schnell und preiswert funktionieren – falls es tatsächlich irgendwann marktreif wird. »Leben ist eine Technologie, die wir nicht geschaffen haben«, erklärt Hessel im Video. Der Mikrobiologe ist auch Mitbegründer und Vorsitzender des »Genome Project-write«, einer internationalen Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, das menschliche Genom vollständig oder teilweise im Labor nachzubauen. In einem Whitepaper aus dem Jahr 2016 peilt die Gruppe einen Zeitraum von zehn Jahren für das Erreichen des Ziels an. Gleichzeitig sollen im Verlauf des Projekts die Kosten für die DNA-Synthese um den Faktor 1000 gesenkt werden. Der Biochemiker Tom Ellis vom Imperial College London glaubt allerdings nicht an einen so schnellen Erfolg. In einer Zeittafel, die er im April 2019 veröffentlicht hat, setzt er die erfolgreiche Synthese des menschlichen Genoms für etwa 2040 an.
Paul Freemont, der zweite Experte, leitet die Abteilung für Strukturbiologie und synthetische Biologie des Imperial College London und ist Mitbegründer des Imperial College Centre for Synthetic Biology. Er meint im Video, dass wir in 10 bis 15 Jahren ziemlich neuartige Mikroben bauen können. Der dritte Experte heißt George Church und arbeitet am MIT und an der Harvard-Universität. Ein »Spiegel«-Artikel adelte ihn im Jahr 2018 zum »vielleicht originellsten« Genforscher der Welt. Sein Fachgebiet sei »die Entwicklung bahnbrechender Technologien«, erklärte er den »Spiegel«-Redakteuren in aller Bescheidenheit. Und im Video sagt der Mann mit dem langen grauen Bart voraus, dass man »in zwei bis sechs Jahren« Säugetiere oder Menschen erzeugen kann, die gegen viele Viren resistent sein werden.
Bei der Antwort auf die Eingangsfrage, wie weit wir von der Nutzung künstlichen Lebens entfernt sind, sind sich die Experten weitgehend einig: Wir haben bereits damit angefangen und werden in den nächsten Jahren auf vielfache Weise davon profitieren. Neue Heilmittel für Krebs, maßgeschneiderte Mikroben für die Beseitigung von Umweltschäden, speziell gezüchtete Organe zur Transplantation oder gar die Verlangsamung des Alterns – nur die Fantasie setzt den Anwendungsmöglichkeiten noch Grenzen. Bislang sind die Forscher aber nicht ganz so weit. Selbst bei dem einfachsten Bakterium mit dem kleinsten möglichen DNA-Befehlssatz wissen wir von 40 Prozent dieser Befehle nicht, was sie bewirken.
Die Moderatorin Olivia Pavco Giaccia führt die Zuschauer mit atemloser Munterkeit durch eine Art biosynthetisches Wunderland. Für tiefer gehende Fragen oder eine Diskussion eventueller Gefahren bleibt da kaum Zeit. Der rasend schnelle Fortschritt bei Methoden und Produkten in der synthetischen Biologie birgt allerdings erhebliche Risiken. Ein Beispiel: Im November 2018 gab der chinesische Wissenschaftler He Jiankui bekannt, er habe bei menschlichen Embryonen eine Genveränderung vorgenommen, die sie gegen HIV resistent macht. Die Embryonen seien inzwischen ausgetragen und geboren. Die gesunden Zwillingsmädchen nannte er Lulu und Nana, ihre wirklichen Namen gab er nicht preis. Für diesen Vorstoß in ethisch zweifelhafte Gefilde wurde He international heftig kritisiert und von der chinesischen Regierung mit einem Forschungsverbot belegt. Inzwischen hat der russische Biologe Denis Rubrikov angekündigt, die Methode verbessert zu haben, und sie ebenfalls anwenden zu wollen – allerdings erst nach ausdrücklicher Genehmigung der Behörden. Das Zeitalter der Manipulation des menschlichen Erbguts hat bereits begonnen.
Nicht nur Forscher wollen von den neuen Möglichkeiten profitieren: Diverse kommerzielle Unternehmen und Start-ups wetteifern darum, die Methoden der synthetischen Biologie so sicher in den Griff zu bekommen, dass sie maßgeschneiderte Produkte zuverlässig erzeugen und liefern können. Trotz des scharfen Konkurrenzkampfs müssen sie natürlich darauf achten, dass keine gefährlichen Organismen aus ihren Labors entkommen. Anders als chemische Gifte verseuchen sie im schlimmsten Fall nicht nur einen umschriebenen Bereich, sondern verbreiten sich aktiv und sind eventuell kaum wieder einzufangen. Richtig unheimlich ist der schnell wachsende Markt der Do-it-yourself-Biologie. Genetisches Engineering braucht prinzipiell keine teure Ausrüstung mehr, und selbst ein Hinterhoflabor kann ohne jede Kontrolle mit genveränderten Bakterien und Viren experimentieren. Entsprechende Bausätze kann jeder Interessierte im Internet bestellen. Dennoch sieht die deutsche Forschungsgemeinschaft in der synthetischen Biologie große Chancen, aber nur wenige Gefahren. In einer Stellungnahme vom Juli 2009 sah sie keine Notwendigkeit einer eigenen gesetzlichen Regulierung. Eine Expertise mehrerer wissenschaftlicher Komitees im Auftrag der Europäischen Kommission hielt im Jahr 2015 die vorhandenen Methoden zur Risikoabschätzung für ausreichend. Die Komitees empfahlen Verbesserungen, die technische und wissenschaftliche Fortschritte jedoch weiterhin ermöglichen sollten.
Das Video des Seeker-Channels gibt eine gute Einführung in das Thema und lässt drei der renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der synthetischen Biologie zu Wort kommen. Es ist durchaus verständlich, dass sie eher den Nutzen als die Gefahren betonen. Die Redaktion hätte da aber noch gründlicher recherchieren dürfen. Wir haben sechs Siegel erbrochen, die das Gesetzbuch des Lebens verschlossen halten. Wenn auch das siebte Siegel birst, erwerben wir die Fähigkeit, die Milliarden Jahre alten Gesetze der biologischen Reproduktion und der Evolution nach unserem Willen umzuschreiben. Wir nähern uns damit einer selbst geschaffenen biologischen Singularität. Niemand kann vorhersagen, was uns auf der anderen Seite erwartet.
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