Der Mathematische Monatskalender: Alexis Clairaut (1713–1765): Bewegte Himmelskörper
Dass die Mathematik in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen würde, ist bei ihm schon früh zu erkennen: Es wird berichtet, dass Alexis-Claude Clairaut, zweites Kind von Jean-Baptiste Clairaut und Catherine Petit, das Lesen gelernt haben soll, indem er sich mit den »Elementen« des Euklid beschäftigte. (Der Vater war Mathematiklehrer an einer Schule in Paris und korrespondierendes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften.)
Früh übt sich
Als Alexis neun Jahre alt ist, gibt ihm der Vater ein anspruchsvolles Buch über Geometrie und Algebra zu lesen, das auch eine Einführung zur Differenzial- und Integralrechnung sowie zur Analytischen Geometrie enthält. Im darauffolgenden Jahr steht auf seiner Leseliste die »Analyse des infiniment petits pour l'intelligence des lignes courbes« von Guillaume de L'Hôpital, das 1696 erschienene Buch zur Leibnizschen Differenzialrechnung.
Im Alter von 13 Jahren wird der Wunderknabe eingeladen, seine Untersuchungen »Quatre problèmes sur de nouvelles courbes« in der Académie Royale des Sciences vorzustellen – über vier Kurven, die er entdeckt hat. (Wenige Jahre danach darf auch einer seiner jüngeren Brüder dort vortragen – allerdings ist dieser dann »bereits« 14 Jahre alt … – dieser Bruder stirbt im Alter von 16 Jahren, und Alexis ist schließlich der einzige von insgesamt 20 Kindern der Familie, der die Kindheit überlebt.)
1729 verfasst Alexis Clairaut einen über 100 Seiten langen Beitrag »Recherches sur les courbes a double courbure«, in dem er Krümmung und Torsion (= double courbure) von Kurven im Raum untersucht. Von den Mitgliedern der Académie wird er daraufhin zur Aufnahme in die Vereinigung der Wissenschaftler vorgeschlagen; der König willigt aber erst ein, als Clairaut 18 Jahre alt geworden ist – vor ihm und nach ihm ist kein anderes Mitglied in einem solch frühen Alter berufen worden.
Clairaut freundet sich mit dem 15 Jahre älteren Pierre Louis Moreau de Maupertuis an, der regelmäßig eine Gruppe von jüngeren Wissenschaftlern um sich versammelt. Diese verfolgen das Ziel, auch die französischen Wissenschaftler von der Richtigkeit der Newtonschen Lehre bezüglich der Existenz einer Gravitationskraft zu überzeugen – so wie sie in den »Principia« dargestellt ist.
Die Gestalt der Erde ergründen
Clairaut ist zunehmend fasziniert von der Frage, welche Gestalt die Erde hat. In der Académie verfolgt er den Streit zwischen den Anhängern Newtons, die von der Abplattung der Erde an den Polen überzeugt sind, und der Gruppe um Jacques Cassini (II), die die Theorie von René Descartes unterstützt, nämlich dass die Erde eine zu den Polen hin zugespitzte Form hat. Da die Vermessungsarbeiten von Jean-Dominique Cassini und dessen Sohn Jacques innerhalb Frankreichs nicht zu einer Klärung dieser Frage geführt hatten, beschließt die Académie, je eine Expedition nach Peru und nach Nordeuropa zu entsenden, die den Abstand zweier Breitenkreise mithilfe von Triangulationen bestimmen sollen: Wenn die Erde zu den Polen hin abgeplattet ist, muss der Abstand zweier Breitenkreise am Äquator kleiner sein als in der Nähe der Pole, und umgekehrt.
1736 wird Maupertuis mit der Leitung der Expedition nach Lappland beauftragt, um dort den Abstand zwischen dem 66. und dem 67. Breitenkreis zu bestimmen; zu den Mitgliedern der Expedition gehört neben Clairaut auch der schwedische Forscher Anders Celsius. Die Messungen in Pol-Nähe können innerhalb von 16 Monaten beendet werden; die Teilnehmer der von Charles Marie de La Condamine geleiteten Südamerika-Expedition dagegen kehren erst nach zehn Jahren wieder nach Frankreich zurück.
Noch auf dem Rückweg verfasst Clairaut einen Beitrag für die Royal Society in London, in dem er bestätigt, dass die Form der Erde der Newtonschen Vermutung entspricht, dass aber Newtons Begründungen für dessen Annahme falsch sind. 1743 veröffentlicht er dann die Abhandlung »Théorie de la figure de la terre«, in der er eine Formel angibt, mit der man die Gravitationsbeschleunigung g(φ) in Abhängigkeit vom jeweiligen Breitengrad φ berechnen kann: g(φ) ≈ gäq · [1 + (5m/2-f) · sin2(φ)]; dabei ist f = (a-b)/a der Abplattungskoeffizient bezüglich der Länge der Halbachsen a und b des Rotationsellipsoids, gäq die am Äquator gemessene Beschleunigung und m das Verhältnis von Zentrifugal- und Schwerkraft am Äquator. 40 Jahre später ermittelt Pierre-Simon Laplace mit Hilfe der Clairautschen Formel (auf der Grundlage von Messungen an 15 Punkten der Erde) den Wert f ≈ 1/330 (heute als richtig angenommener Wert f ≈ 1/298,2).
Bei seinen Berechnungen geht Clairaut von einem Modell der Erde aus, für das der schottische Mathematiker Colin Maclaurin im Jahr 1740 einen Preis der Académie erhalten hatte, um das Phänomen von Ebbe und Flut zu erklären: Nach diesem Modell setzt sich die Erdkugel aus zueinander konzentrischen homogenen Schalen zusammen, die durch die Erdrotation die Form eines Ellipsoids annehmen.
Nach Abschluss der Untersuchungen zur Gestalt der Erde stürzt sich Clairaut auf die Lösung des nächsten Problems: Die Umlaufbahn der Erde um die Sonne sowie die des Mondes um die Erde lassen sich mithilfe der Keplerschen Gesetze und des Newtonschen Gravitationsgesetzes nur näherungsweise beschreiben. Bei seinen Untersuchungen gelangt Clairaut sogar zum Ergebnis, dass das Newtonsche Gesetz falsch ist und durch ein additives Korrekturglied in der Gleichung ergänzt werden muss, was er Ende 1747 in der Académie verkündet. Nach umfangreichen, monatelangen Rechnungen stellt er jedoch fest, dass die beobachteten Daten im Einklang mit der Theorie stehen und die vorher aufgetretenen Abweichungen nur an der mangelnden Rechengenauigkeit lagen.
Lob von Euler
Leonhard Euler im fernen St. Petersburg, der ebenfalls versucht hatte, die scheinbaren Widersprüche aufzulösen, möchte mehr über Clairauts Rechnungen erfahren. Daher lässt er 1752 durch die St. Petersburger Akademie einen Wettbewerb ausschreiben, um eine Methode zu finden, mit der der erdfernste Punkt der Mond-Umlaufbahn (»Apogäum«) berechnet werden kann. Mit unverkennbarem Neid urteilt er über Clairauts Wettbewerbsbeitrag »Théorie de la lune«: »Die wichtigste und tiefgründigste Entdeckung, die je in der Mathematik gemacht wurde.«
Ermutigt von diesem Erfolg wendet sich Clairaut der Wiederkehr des Halleyschen Kometen zu. Mit noch größerem Rechenaufwand ermittelt er im November 1758 den 15. April 1759 als Zeitpunkt des sonnennächsten Punkts (Perihel) der Kometen-Laufbahn; Halley selbst hatte 1705 den Monat Dezember 1758 vorhergesagt. Dass es dann tatsächlich der 13. März ist, spielt keine Rolle mehr: Clairaut wird in der Académie als »zweiter Thales« gefeiert.
In einem weiteren Wettbewerbsbeitrag für die St. Petersburger Akademie verbessert er 1762 seine Berechnungsmethoden, indem er zusätzlich auch den Einfluss der Planeten Jupiter und Saturn auf die Kometenbahn berücksichtigt (»Recherches sur la comète«).
Dass er trotz dieser Zusatzüberlegungen bei der Neuberechnung nicht auf den 13. März kommt, führt er auf die Existenz eines weiteren Planeten zurück. Uranus, der siebte Planet unseres Sonnensystems, wird tatsächlich 1781 von William Herschel entdeckt.
Clairaut ist jetzt am Höhepunkt seiner Laufbahn: Mittlerweile ist er von den Akademien in London, Berlin, St. Petersburg, Bologna und Uppsala ehrenhalber als Mitglied aufgenommen worden. Auf Grund seiner wissenschaftlichen Erfolge kann er sich auch im privaten Bereich kaum vor Einladungen retten; er vernachlässigt seine Gesundheit. Keine seiner zahlreichen Affären führt zu einer dauerhaften Beziehung; so bleibt er unverheiratet. 1765 stirbt er nach kurzer Krankheit im Alter von (nur) 52 Jahren.
Weitere Errungenschaften
Clairauts Lebenswerk umfasst noch eine Reihe von weiteren Beiträgen:
In den 1730er Jahren veröffentlicht er verschiedene Arbeiten zur Differenzial- und Integralrechnung: In »Sur quelques questions de maximis et minimis« (1733) entwickelt er Methoden der so genannten Variationsrechnung.
1734 findet man in den Protokollen der Académie seine Lösung für (heute so genannte) Clairautsche Differenzialgleichungen vom Typ y(x) = x · y'(x) + f(y'(x)). Diese kann durch Ableiten gelöst werden: Aus y'(x) = y'(x) + x · y''(x) + f'(y'(x)) · y''(x), also [x + f'(y'(x))] · y''(x) = 0, folgt y''(x) = 0 oder x + f'(y'(x)) = 0. Ersteres führt zu y'(x) = c. Setzt man dies in der Ausgangsgleichung ein, so erhält man die so genannte allgemeine Lösung y(x) = x · c + f(c), also eine Schar von linearen Funktionen. Aus x + f'(y'(x)) = 0 ergibt sich zum anderen die so genannte singuläre Lösung, deren Graph die Einhüllende (Hüllkurve) der linearen Funktionen ist.
In einem Beitrag aus dem Jahr 1739 findet man den Hinweis auf eine Entdeckung, die in der Literatur üblicherweise als Satz von (Hermann Amandus) Schwarz (1843–1921) bezeichnet wird: Bei mehrfach (stetig) differenzierbaren Funktionen mehrerer Variabler spielt es keine Rolle, in welcher Reihenfolge nach den einzelnen Variablen abgeleitet wird.
Da Clairaut unzufrieden war mit den in seiner Zeit verbreiteten Geometrie-Büchern, in denen es – im Stile der »Elemente« des Euklid – im Wesentlichen um Beweise von Sätzen und Konstruktionen geht und weniger um die Anwendung der Geometrie, veröffentlicht er 1741 das Lehrbuch »Élémens de Géometrie«. Bereits die Einleitung zum ersten Kapitel macht deutlich, was in der Schule stärker betont werden sollte: Mit Hilfe von elementaren Methoden können Streckenlängen und Flächen bestimmt werden. Das über 200 Seiten umfassende Buch enthält zahlreiche Abbildungen, darunter auch die oben stehenden, die man so kaum in anderen Geometrie-Büchern dieser Zeit findet. Auch in den 1749 erscheinenden »Élémens d’Algèbre« bemüht sich Clairaut durch umfangreiche Kommentare darum, die Leser seines über 350 Seiten umfassenden Buchs vom Nutzen der Algebra zu überzeugen.
Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich Clairauts Mitarbeit an der von Émilie du Châtelet durchgeführten Übersetzung der »Principia«. 1756, sieben Jahre nach ihrem Tod, erscheint die von Clairaut durch Kommentare ergänzte Schrift, wodurch die Bedeutung des Newtonschen Werks auch auf dem Kontinent erkannt wird.
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