Der Mathematische Monatskalender: Karl Pearson unterscheidet zwischen Kausalität und Korrelation
Carl Pearson wurde als zweites Kind eines Londoner Rechtsanwalts geboren. Bis zum Alter von neun Jahren wurde er zu Hause unterrichtet; danach besuchte er die University College School. Wegen einer Erkrankung musste er mit 16 Jahren den Schulbesuch abbrechen. Ein Privatlehrer bereitete ihn auf die Aufnahmeprüfung an der Cambridge University vor, die er als Zweitbester seines Jahrgangs bestand; er erhielt daraufhin ein Stipendium für das King's College.
Dort hatte er das Glück, dass ihm Edward John Routh als Tutor zugeteilt wurde – in der Geschichte der Universität galt er als der erfolgreichste »Trainer« zur Vorbereitung auf das Tripos-Examen. In seinem Studium, das sich nicht nur auf Inhalte der Mathematik und Physik beschränkte, beschäftigte sich Pearson auch mit Themen aus der Literaturgeschichte und der Philosophie. Dante, Goethe und Rousseau las er im Original; er verfasste Rezensionen zu Büchern über Maimonides und Spinoza.
Kampf für die Trennung von Lehre und Kirche
Sein Protest gegen die seit 1441 bestehende Verpflichtung für alle Studenten, an Theologievorlesungen teilzunehmen, führte zur Aufhebung der Regelung; er besuchte die Veranstaltungen aber weiterhin, freiwillig und aus eigenem Interesse. Mit Hilfe der juristischen Unterstützung seines Vaters sorgte er zudem für die Abschaffung des obligatorischen Gottesdienstbesuchs; auch hier änderte er deshalb sein persönliches Verhalten nicht.
1879 bestand Pearson als Drittbester seines Jahrgangs die Prüfung im Mathematik-Tripos. Danach reiste er für ein Jahr nach Deutschland; in Heidelberg und Berlin besuchte er Vorlesungen über deutsche Literatur des Mittelalters und der Renaissance sowie über die Geschichte der Reformation; er beschäftigte sich mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft und setzte sich mit den Lehren von Karl Marx und Ferdinand Lasalle auseinander – von dieser Zeit an schrieb er seinen Vornamen mit »K«.
Der mathematische Monatskalender
Ihre wissenschaftlichen Leistungen sind weit verbreitet, doch wer waren die Mathematik-Genies, die unser Verständnis der Welt nachhaltig prägten? Seine ersten »mathematischen Monatskalender« hatte Heinz Klaus Strick, ehemaliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen, für seine Schülerinnen und Schüler geschrieben, ergänzt durch passende Briefmarken der vorgestellten Personen. Alle spannenden Lebensläufe, skurrilen Porträts und unglaublichen Geschichten hinter den namhaften Persönlichkeiten finden Sie hier.
Dank eines Stipendiums wurde er auch während der nächsten Jahre finanziell unabhängig. Pearson besuchte Juravorlesungen und wurde 1882 als Rechtsanwalt zugelassen. Er verfasste einen Entwicklungsroman (»The New Werther«), hielt Vorträge über Martin Luther und bot Karl Marx die Übersetzung des »Kapitals« in Englische an.
Von 1880 an vertrat Pearson verschiedene Mathematikprofessoren am King's College, außerdem am University College London (UCL); dort wurde er 1884 zum Professor für Angewandte Mathematik und Mechanik ernannt. Im Rahmen dieser Tätigkeit entstand ein besonderes Interesse an grafischen und statistischen Methoden. Als der Mathematikhistoriker Isaac Todhunter erkrankte und starb, übernahm er die abschließende Bearbeitung von dessen zweibändigem Werk »History of the Theory of Elasticity«.
In einer äußerst produktiven Phase verfasste der mittlerweile zum Agnostiker gewordene Pearson »The Ethic of Freethought«, außerdem »The Grammar of Science«, in der er die Auswertung quantitativer Daten auch in Wissenschaften wie Biologie, Medizin und Sozialwissenschaften hervorhebt.
Erste Begegnungen mit der Genetik
1889 veröffentlichte der Universalgelehrte Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, das Werk »Natural Inheritance«: eine Zusammenfassung der von ihm bis dahin durchgeführten Untersuchungen zur Vererbung. Galton hatte unter anderem beim Vergleich der Körpergrößen von Eltern und deren erwachsenen Kindern das Phänomen der Regression zur Mitte entdeckt (er bezeichnete es als »Reversion to mediocrity«). Das Werk enthält auch eine Beschreibung des nach ihm benannten Galton-Bretts.
Pearson war von Galtons Korrelationsuntersuchungen so angetan, dass er sich in den folgenden anderthalb Jahrzehnten fast ausschließlich mit der Entwicklung der mathematischen Grundlagen der Statistik beschäftigte. Seine Hoffnung war, insbesondere bezüglich des menschlichen Verhaltens zu Erkenntnissen zu gelangen, die »vergleichbar sind zu denen in der Physik«. Der Unterschied von Korrelation und Kausalität war ihm bewusst – Letzteres sah er als »Grenz«-Eigenschaft der Korrelation an.
Bei seiner Forschungsarbeit wurde Pearson durch den gleichaltrigen Zoologen Walter Frank Raphael Weldon unterstützt, der ihm konkrete, fachlich bedingte Fragen zur statistischen Auswertung stellte – unter anderem, wie bei asymmetrischen oder zweigipfligen, nicht normalverteilten Verteilungen zu verfahren sei.
Pearson verfasste eine Fülle von Beiträgen, die als »Mathematical Contributions to the Theory of Evolution« veröffentlicht wurden. In diesem Zusammenhang prägte er den Begriff der Standardabweichung (bis dahin wurde der von Carl Friedrich Gauß stammende Begriff des »mittleren Fehlers« verwendet).
Nach Vorarbeiten von Galton und Auguste Bravais definierte er als Maß für den linearen Zusammenhang der Zufallsgrößen X, Y den so genannten Pearsonschen Korrelationskoeffizienten: \[Korr(X,Y)= \frac{Cov(X,Y)}{\sqrt{V(X)}\cdot \sqrt{V(Y)}} = \frac{E(X-\mu_X)\cdot E(Y-\mu_Y)}{\sigma_X\cdot\sigma_Y},\] ein Schätzwert hierfür ist \[ r_{X,Y} = \frac{s_{X,Y}}{s_X \cdot s_Y} = \frac{ \sum_{i=1}^n (x_i – \bar{x}) \cdot (y_i – \bar{y}) }{\sum_{i=1}^n (x_i – \bar{x})^2\cdot\sum_{i=1}^n (y_i – \bar{y})^2 } \] (empirischer Korrelationskoeffizient).
Der Chi-Quadrat-Test
Im Jahr 1900 entwickelte Pearson den Chi-Quadrat-Anpassungstest, durch den die Abweichung der beobachteten Daten xi von den erwarteten Daten μi gemessen wird: χ2 = (xi− μi)2/μi; dazu veröffentlichte er Tabellen mit den zugehörigen Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Freiheitsgrade. Hiermit schuf er die Grundlagen für die Test- und Entscheidungstheorie, indem er p-Werte zu den gemessenen χ2-Werten von empirischen Ergebnissen ermittelte.
Im Fall einer Binomialverteilung (Freiheitsgrad 1) stimmt die Zufallsgröße χ2 mit dem Quadrat der standardisierten Zufallsgröße (X−μ)/σ überein.
In seinem Beitrag über den χ2-Test beschäftigte sich Pearson unter anderem mit einem Zufallsexperiment Weldons, der zwölf Würfel 26 306-mal geworfen hatte: Für verschiedene Gruppierungen von Ergebnissen bestimmte er jeweils Werte von χ2 für die Abweichungen der theoretischen Wahrscheinlichkeiten von den erfassten Häufigkeiten.
Als Erster verwendete Pearson systematisch die Darstellungsform eines Histogramms. In einem seiner Beiträge trat erstmalig der Begriff des Random Walks auf. 1896 wurde Pearson als Mitglied in die Royal Society aufgenommen, 1898 und 1900 erhielt er die Darwin Medal der Society.
Zwei verfeindete Lager
Um das Jahr 1900 wurden die bereits 1866 von Gregor Mendel beschriebenen Vererbungsgesetze erneut entdeckt. In der Royal Society bildeten sich zwei Lager, die sich heftig bekämpfen: Auf der einen Seite standen – angeführt von Weldon und Pearson – die Anhänger von Galtons »Law of Ancestral Herity«, die besagt, dass die beiden Elternteile im Durchschnitt die Hälfte des gesamten Erbguts der Nachkommenschaft beisteuern, die vier Großeltern ein Viertel und so weiter.
Auf der anderen Seite standen – angeführt von William Bateson, einem ehemaligen Schüler Weldons und Schöpfer des Begriffs Genetik – insbesondere Biologen, die sich damit schwertaten, zu akzeptieren, dass man mit Hilfe mathematischer Methoden überhaupt Aussagen über biologische Sachverhalte herleiten kann: Für diese enthalten die wiederentdeckten Mendelschen Regeln die alleinige Wahrheit und alles andere ist Ketzerei. Die erbittert geführte Kontroverse führte zur Gründung der Zeitschrift »Biometrika« durch Galton, Pearson und Weldon.
In diesem Journal wurden Beiträge zur Variation, Vererbung und Selektion im Tier- und Pflanzenreich veröffentlicht, basierend auf der Untersuchung einer großen Anzahl von Objekten, sowie zur Entwicklung statistischer Methoden zur Analyse von biologischen Problemen und der zugehörigen mathematischen Theorie.
Der Konflikt in der Royal Society verlor erst an Schärfe, als Weldon 1906 überraschend starb. Für die folgenden 30 Jahre war Pearson nunmehr alleiniger Herausgeber der Zeitschrift. Nach Galtons Tod im Jahr 1911 übernahm Pearson den von Galton gestifteten Galton Chair in National Eugenics am University College (später umbenannt in Galton Chair of Human Genetics).
Der Begriff Eugenik war 1883 von Galton geprägt worden als eine Wissenschaft, die »sich mit allen Einflüssen befasst, die die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern, auch mit denen, die sie zum größtmöglichen Vorteil entwickeln«. Er vertrat die Ansicht, dass die Vererbung positiver Eigenschaften gezielt zu fördern sei und die Vererbung negativer Eigenschaften möglichst vermieden werden sollte.
Im Unterschied zu Adolphe Quetelet, der in seinen Untersuchungen zu messbaren Merkmalen der Menschen und ihrer Lebensbedingungen – rein beschreibend – vom »statistischen Durchschnittsmenschen« sprach und diesen als »normal« bezeichnete; wich Galton bewusst hiervon ab, indem er den »mittleren Menschen« als »mittelmäßig« (mediocre) bewertete.
Auch Pearson vertrat die Meinung, dass »Nationen ein homogenes Ganzes sein sollten, nicht eine Mischung hochwertiger und geringwertiger Rassen« – mit entsprechenden gesetzlichen Regelungen hinsichtlich der Einwanderung. Zur damaligen Zeit wurden Forderungen zur »selektiven Reproduktion« von vielen gutgeheißen – im Prinzip werden sie auch heute noch von Ländern wie beispielsweise Kanada und Australien in ihrer Einwanderungspolitik angewandt. Während des Dritten Reichs wurde in Deutschland statt des bis dahin üblichen Begriffs der »Erbgesundheitslehre« die Bezeichnung »Rassenhygiene« verwendet; sie diente den Nationalsozialisten als Begründung für Euthanasie-Programme (so genannte »Vernichtung lebensunwerten Lebens«) und für Menschenversuche in den Konzentrationslagern.
Pearson war als Leiter des Department of Applied Statistics am UCL angesehen, von seinen Mitarbeitern bewundert – aber auch gefürchtet. Meinungsverschiedenheiten konnten leicht eskalieren, bis hin zu diskriminierenden, unversöhnlichen Kommentaren.
Um das Jahr 1914 entwickelte sich ein – teilweise öffentlich ausgetragener – Konflikt mit Ronald Aylmer Fisher, der einen Beitrag zur Veröffentlichung in »Biometrika« eingereicht hatte, den Pearson zunächst wohlwollend kommentierte, dann aber doch ablehnte – vielleicht wegen eines Missverständnisses. Hieraus entwickelte sich ein Streit, der dazu führte, dass Fisher 1919 den angesehenen Posten des Chefstatistikers am Galton-Laboratorium nicht übernahm, da er in dem Fall unter Pearson hätte arbeiten müssen. Beide waren kompetente Verfechter statistischer Methoden, ihr Ansatz jedoch war unterschiedlich: Pearson versuchte, anhand von großen Stichproben Korrelationen herzuleiten. Fisher hingegen benutzte kleine Stichproben, um Ursachen zu finden.
Pearson war ab 1890 mit Maria Sharpe verheiratet, der ehemaligen Sekretärin des »Männer- und Frauenclubs«, den Pearson Mitte der 1880er Jahre gegründet hatte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor – ein Sohn (Egon) und zwei Töchter (Sigrid und Helga). Nach der Emeritierung Pearsons im Jahr 1933 wurde der Galton Chair geteilt: Pearsons Sohn Egon übernahm die Abteilung für Statistik und Ronald Aylmer Fisher die Abteilung für Eugenik – neue Konflikte waren vorprogrammiert …
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