Lexikon der Biologie: Geschlechtsdifferenzierung
Geschlechtsdifferenzierungw, Geschlechtsrealisation, nach der genetischen Festlegung des Geschlechts (Geschlechtsbestimmung) die Ausbildung der männlichen bzw. weiblichen Geschlechtsmerkmale während der Entwicklung eines Organismus. Bei Drosophila melanogaster und bei Säugetieren wird das Geschlecht zwar formal in gleicher Weise festgelegt (Männchen XY, Weibchen XX), die Realisation des Geschlechts verläuft aber über ganz unterschiedliche Mechanismen. Bei Säugetieren entwickeln sich genetisch männliche und genetisch weibliche Embryonen zunächst in gleicher Weise. In dieser indifferenten Phase wandern auch die Keimzellen in die paarigen Genitalleisten (Suspensorium) ein, und es werden paarige Ausführgänge sowohl für Spermien (Wolffsche Gänge, Wolffscher Gang) als auch für Eier (Eizelle; Müllersche Gänge, Müllerscher Gang) angelegt. Erst danach (beim Menschen in der 8. Woche der Embryonalentwicklung) schlagen männliche und weibliche Embryonen verschiedene Entwicklungswege ein. Die Geschlechtsdifferenzierung erfolgt in 2 aufeinanderfolgenden Phasen: erst differenzieren sich die Keimdrüsen (Gonaden), die anschließend männliche bzw. weibliche Hormone ausschütten und so in der zweiten Phase die Differenzierung der übrigen Geschlechtsorgane im Körper in männlicher bzw. weiblicher Richtung steuern. In genetisch männlichen Individuen aktiviert das Produkt des sog. SRY-Gens, das auf dem kurzen Arm des Y-Chromosoms lokalisiert ist und für einen Transkriptionsfaktor codiert, in der ersten Phase (unter Beteiligung auch autosomaler Gene) diejenigen Gene, welche aus der indifferenten Keimdrüsenanlage Hoden entstehen lassen. Ohne die Aktivität des SRY-Gens differenzieren sich die Keimdrüsen zu Eierstöcken (Ovar), wohl ausgelöst durch die Aktivität von Genen auf dem X-Chromosom (z.B. DAX1, ein Kandidat als Ovarien-determinierender Faktor). In der zweiten Phase bilden die jetzt männlichen bzw. weiblichen Keimdrüsen Hormone, welche die unterschiedliche Entwicklung der bis dahin noch indifferenten Anlagen der übrigen Geschlechtsorgane steuern. Die Ovarien beginnen Östrogen auszuschütten, welches die Ausdifferenzierung der Müllerschen Gänge in Eileiter (Ovidukt), Gebärmutter (Uterus) und Scheide (Vagina) fördert. Die Hoden hingegen bilden 2 Hormone, das anti-Müller-Hormon (anti-Müllerian hormone, Müllerian inhibiting substance [Abk. AMH bzw. MIS], gebildet von den Sertoli-Zellen), welches die Rückbildung der Anlagen der Müllerschen Gänge fördert, und das Testosteron (gebildet von den Leydig-Zellen; Leydig-Zwischenzellen), das z.B. dafür sorgt, daß die bis dahin indifferent angelegten äußeren Geschlechtsorgane sich zum Penis und Skrotum (Hodensack) entwickeln. Umstritten ist, inwieweit diese Hormone auch die Entwicklung des Gehirns beeinflussen und dabei z.B. auch die neuronalen Grundlagen für geschlechtstypische Verhaltensweisen legen. – Besonders wichtig für die Aufklärung dieser Mechanismen waren von der Norm abweichende Geschlechtsentwicklungen beim Menschen. Beim Klinefelter-Syndrom sind 2 X- und 1 Y-Chromosom vorhanden (XXY), trotzdem sind die betreffenden Personen männlich (allerdings steril und mit verkleinerten Hoden), während beim Turner-Syndrom mit nur 1 X-, aber ohne Y-Chromosom (X0) die Individuen weiblich sind (aber keine Eizellen produzieren). Beide Syndrome deuten darauf hin, daß das Y-Chromosom zur männlichen Entwicklung notwendig ist. Für die (seltenen) Fälle, in denen XY-Individuen männliche Merkmale ausbilden, konnte gezeigt werden, daß hier dem Y-Chromosom der SRY-Bereich fehlt (und deshalb keine Hoden, sondern Ovarien gebildet werden), während bei den (ebenfalls sehr seltenen) Fällen, bei denen XX-Individuen männlich sind, der SRY-haltige Bereich eines Y-Chromosoms (wohl bei einem Crossing-over-Prozeß; Crossing over) auf ein X-Chromosom übertragen wurde. – Bei Säugetieren wird also das Geschlecht der Keimdrüsen in einer ersten Phase genetisch festgelegt, die geschlechtsspezifische Entwicklung von deren übrigen Zellen im Körper dann in einer zweiten Phase global über die von den männlich bzw. weiblich differenzierten Keimdrüsen ausgeschütteten männlichen bzw. weiblichen Hormone gesteuert. –
Bei Drosophila melanogaster wird – anders als bei Säugetieren – die Geschlechtsentwicklung in jeder Zelle separat, und zwar über das Verhältnis von X-Chromosomen zu Autosomen (X:A) und ohne eine globale hormonelle Steuerung, festgelegt. Fliegen (bzw. einzelne Zellen) mit 1 X-Chromosom sind männlich, Fliegen (bzw. einzelne Zellen) mit 2 X-Chromosomen dagegen weiblich. Die Gene auf dem Y-Chromosom spielen für die Geschlechtsentwicklung der Fliege keine Rolle, sind aber später zur Differenzierung der Spermien nötig. X0-Fliegen sind somit männlich (aber steril), XXY-Fliegen dagegen weiblich. Da das Geschlecht in jeder Zelle separat determiniert wird, können ursprünglich weibliche Embryonen mit 2 X-Chromosomen bei Verlust eines X-Chromosoms während der Entwicklung lokal begrenzte rein männliche Körperregionen ausbilden (Gynander). Das Geschlecht der Zellen von Drosophila wird schon im Blastoderm (Blastodermstadium) über eine Kompetition zwischen Aktivatoren und Repressoren des Weibchen-bestimmenden sex-lethal-Gens festgelegt. Enthält eine Zelle 2 X-Chromosomen, dann werden mehr der X-codierten Aktivatoren gebildet, und das Weibchen-bestimmende sex-lethal-Gen wird angeschaltet. Bei nur 1 X-Chromosom überwiegen dagegen die autosomal codierten Repressoren, das sex-lethal-Gen bleibt inaktiv, und die Zelle ist männlich. Nierenentwicklung, Urogenitalsystem.
K.N.
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