Ökologie: Totes Fleisch für neues Leben
Kadaver sind nicht nur übel riechende, verwesende Fleischabfälle: Eine Vielzahl von Arten ist dringend auf diese Ressource angewiesen.
Immer wieder zerrt der Fuchs am toten Reh und versucht es schließlich unter dem Schnee zu verstecken. Ein andermal thront ein Seeadler auf einem Kadaver und hält Dutzende Raben auf Distanz. Und auch Wölfe bedienen sich an den leicht erhältlichen Fleischresten – Szenen aus der Videoüberwachung eines deutschlandweit einmaligen Forschungsprojekts. In der Lieberoser Heide im Osten Brandenburgs untersuchen Biologen um René Krawczynski, wie die Natur verendete Tiere verwertet. "Aas hat eine wichtige Schlüsselfunktion im Ökosystem. Das weiß hier zu Lande aber leider kaum jemand", sagt Krawczynski, der für die Deutsche Bundesstiftung Umwelt arbeitet.
Deshalb legt er mit seinen Kollegen von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus seit zwei Jahren auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz verunglücktes Wild aus – mit überraschenden Ergebnissen. Denn neben den üblichen Fliegen und Aaskäfern finden sich auch unerwartete Gäste ein: "Mist- und Marienkäfer und sogar Heuschrecken fraßen am Aas. Das hatte keiner erwartet", erzählt Krawczynski. Innerhalb von nur einer Woche vertilgen allein die Insekten ein Zehntel des Kadavers. Auf alten Gerippen, die noch von Schlachtungen der sowjetischen Truppen stammten, entdeckten die Biologen neben seltenen Flechten sogar eine zuvor völlig unbekannte Pilzart. Und erst jüngst spürten Forscher eine bizarre Fliegenart wieder auf, die sich im Winter vom Mark alter Knochen ernährt – sie galt lange als verschollen, weil es ihr an Aas mangelte.
Refugium seltener Arten
Doch nicht nur kleine Lebewesen leben vom toten Wild: "Eines unserer Wildschweine wurde innerhalb einer Woche aufgefressen. Zeitweise versammelten sich daran bis zu zwei Dutzend Kolkraben und vier Seeadler", so Krawczynski. Auch Füchse, Wölfe, Mäusebussarde, Rotmilane und selbst kleine Singvögel profitierten von der leichten Nahrung: "Im Winter pickten Meisen und Amseln Stücke aus der Fettschicht der toten Tiere, um Mangelzeiten zu überstehen."
Dieser natürlichen Entsorgung schiebt die Europäische Union jedoch seit 2002 einen Riegel vor, bedauert Gabriel Schwaderer von der Naturschutzorganisation EuroNatur in Radolfzell: "Mit der Verordnung 1774/2002 wollte die EU eine weitere Ausbreitung der Rinderseuche BSE verhindern. Wir halten es jedoch für ziemlich konstruiert, dass über Aasfresser Krankheiten auf Nutztiere übertragen werden."
Problembär aus Aasmangel
Dieser Meinung schließt sich sein Kollege Franz Conraths an, der als Epidemiologe am FLI arbeitet: "Von toten Tieren gelangen womöglich Erreger – etwa von Milzbrand oder Maul- und Klauenseuche – in den Boden, die Luft oder das Trinkwasser und sorgen dann lange Zeit für Unheil." René Krawczynski widerspricht dieser These: "Wenn Seuchen ausbrechen, stammen sie meist aus der Massentierhaltung und gehen dann nach draußen." Selbst totes Wild müsse heute vergraben werden, wenn es vom Jäger gefunden werde und womöglich krank war, so der Biologe: "Das schadet der Natur massiv."
Was in dicht besiedelten Kulturlandschaften vielleicht Sinn macht, nehme in entlegenen Gebirgen absurde Züge an, kritisiert NABU-Fachmann Dieter Haas: "In Österreich wurden manche Kadaver einfach auf der Alm gesprengt." In der Schweiz müssen sie notfalls per Helikopter geborgen werden. Nach Protesten von EuroNatur und anderen Organisationen habe die EU immerhin 2009 ihre starre Verordnung etwas gelockert, freut sich Schwaderer: "In bestimmten Regionen ist es wieder möglich, die Kadaver in der Natur zu lassen. Das ist ein Fortschritt." Für den Braunbär etwa, wie EuroNatur in einem Projekt in Spaniens Kantabrischem Gebirge festgestellt hat. "Die Tiere haben nach der Winterruhe ein ziemliches Versorgungsproblem. Vor allem die Weibchen mit Nachwuchs benötigen dringend Fallwild oder Nutztierkadaver", so Gabriel Schwaderer.
Keine Geier ohne Kadaver
Davon profitieren auch die Geier, die in Spanien noch zahlreich leben: Weit über 20000 Paare Gänse-, Mönchs-, Schmutz- und Bartgeier brüten auf der iberischen Halbinsel. Sie gerieten ab 2004 in arge Bedrängnis, als die EU-Regelung verschärft durchgesetzt wurde. Nach und nach mussten alle traditionellen Kadaverplätze in Spanien schließen, an denen Landwirte bis dahin ihre toten Nutztiere ablagerten. Angeblich flohen die Geier etwa im Jahr 2007 vor dem Hunger bis nach Deutschland, wo sie für Schlagzeilen sorgten. Erst die Lockerung der Verordnung entschärfte die Situation.
Trotzdem zogen auch dieses Jahr wieder Gänsegeier ihre Kreise über Deutschland – etwa in den bayerischen Alpen oder dem Schwarzwald. Nahrungsmangel treibt sie dieses Mal nicht hierher, meint Geierexperte Dieter Haas: "Die einfliegenden Geier sind keine schwachen Tiere. Das zeigt ihr gesundes Gefieder." Sie stammen vielmehr aus den erfolgreichen französischen Schutzprojekten in den Alpen. In jungen Jahren streifen die Vögel umher, bevor sie zur Brutkolonie zurückkehren. "In Deutschland leiden sie aber unter Hungerstress, weil sie kein Aas finden. Selbst offizielle Futterplätze bleiben meist leer, weil die hiesigen Behörden nicht mitspielen." Er drängt daher auf einen Bewusstseinswandel: "Mit den Geiern verpassen wir gerade eine große Chance für den Naturschutz – und das ausgerechnet im Jahr der Artenvielfalt."
Deshalb legt er mit seinen Kollegen von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus seit zwei Jahren auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz verunglücktes Wild aus – mit überraschenden Ergebnissen. Denn neben den üblichen Fliegen und Aaskäfern finden sich auch unerwartete Gäste ein: "Mist- und Marienkäfer und sogar Heuschrecken fraßen am Aas. Das hatte keiner erwartet", erzählt Krawczynski. Innerhalb von nur einer Woche vertilgen allein die Insekten ein Zehntel des Kadavers. Auf alten Gerippen, die noch von Schlachtungen der sowjetischen Truppen stammten, entdeckten die Biologen neben seltenen Flechten sogar eine zuvor völlig unbekannte Pilzart. Und erst jüngst spürten Forscher eine bizarre Fliegenart wieder auf, die sich im Winter vom Mark alter Knochen ernährt – sie galt lange als verschollen, weil es ihr an Aas mangelte.
Refugium seltener Arten
Doch nicht nur kleine Lebewesen leben vom toten Wild: "Eines unserer Wildschweine wurde innerhalb einer Woche aufgefressen. Zeitweise versammelten sich daran bis zu zwei Dutzend Kolkraben und vier Seeadler", so Krawczynski. Auch Füchse, Wölfe, Mäusebussarde, Rotmilane und selbst kleine Singvögel profitierten von der leichten Nahrung: "Im Winter pickten Meisen und Amseln Stücke aus der Fettschicht der toten Tiere, um Mangelzeiten zu überstehen."
Noch mehr Leben stellt sich an größeren Kadavern ein – etwa von Pferden oder Rindern. "Die zahllosen Insekten, die um das Aas schwirren, locken Vögel wie Würger, Schmätzer oder die seltene Blauracke an", erläutert Dieter Haas vom NABU-Zentrum für Vögel gefährdeter Arten. In Spanien wurden selbst Bären dabei beobachtet, wie sie sich an frische Maden hielten statt ans tote Fleisch. Und wo es sie noch gibt, verzehren Geier die verstorbenen Lebewesen nahezu restlos. Selbst Knochen verschmähen sie nicht: Der Bartgeier sammelt sie auf und lässt sie aus größerer Höhe auf Felsen fallen, um Gerippe in schlundgerechte Stücke zu zerbrechen. Am Ende erinnern meist nur die Hörner und einige bleiche Knochen an das tote Tier, von dem zahlreiche Arten profitiert haben.
Dieser natürlichen Entsorgung schiebt die Europäische Union jedoch seit 2002 einen Riegel vor, bedauert Gabriel Schwaderer von der Naturschutzorganisation EuroNatur in Radolfzell: "Mit der Verordnung 1774/2002 wollte die EU eine weitere Ausbreitung der Rinderseuche BSE verhindern. Wir halten es jedoch für ziemlich konstruiert, dass über Aasfresser Krankheiten auf Nutztiere übertragen werden."
Die Verordnung 1774/2002 verbietet, dass innerhalb der EU tote Nutztiere frei in der Landschaft verbleiben – es sei denn, ein Tierarzt hat festgestellt, dass sie gesundheitlich unbedenklich sind. Für Jens Schell vom Friedrich-Loeffler-Institut (FLI), der Forschungseinrichtung der Bundesrepublik für Tiergesundheit, ist das eine sinnvolle Regelung: "Die Maßnahme ist seuchenhygienisch auf alle Fälle gerechtfertigt. Von verendeten Tieren kann immer eine Gefahr für andere Tiere, aber auch für Menschen ausgehen. Eine zügige Entsorgung ist also erforderlich."
Problembär aus Aasmangel
Dieser Meinung schließt sich sein Kollege Franz Conraths an, der als Epidemiologe am FLI arbeitet: "Von toten Tieren gelangen womöglich Erreger – etwa von Milzbrand oder Maul- und Klauenseuche – in den Boden, die Luft oder das Trinkwasser und sorgen dann lange Zeit für Unheil." René Krawczynski widerspricht dieser These: "Wenn Seuchen ausbrechen, stammen sie meist aus der Massentierhaltung und gehen dann nach draußen." Selbst totes Wild müsse heute vergraben werden, wenn es vom Jäger gefunden werde und womöglich krank war, so der Biologe: "Das schadet der Natur massiv."
Was in dicht besiedelten Kulturlandschaften vielleicht Sinn macht, nehme in entlegenen Gebirgen absurde Züge an, kritisiert NABU-Fachmann Dieter Haas: "In Österreich wurden manche Kadaver einfach auf der Alm gesprengt." In der Schweiz müssen sie notfalls per Helikopter geborgen werden. Nach Protesten von EuroNatur und anderen Organisationen habe die EU immerhin 2009 ihre starre Verordnung etwas gelockert, freut sich Schwaderer: "In bestimmten Regionen ist es wieder möglich, die Kadaver in der Natur zu lassen. Das ist ein Fortschritt." Für den Braunbär etwa, wie EuroNatur in einem Projekt in Spaniens Kantabrischem Gebirge festgestellt hat. "Die Tiere haben nach der Winterruhe ein ziemliches Versorgungsproblem. Vor allem die Weibchen mit Nachwuchs benötigen dringend Fallwild oder Nutztierkadaver", so Gabriel Schwaderer.
Fehlen sie, geraten die Bären in Not. Mehr Jungtiere verhungern, und Konflikte mit den Menschen nehmen zu. "Weil es an nahrhaftem totem Fleisch mangelt, plündern die Tiere häufiger Bienenstöcke, obwohl deren Zahl eigentlich zurückgeht", sagt Schwaderer, dessen Organisation zusammen mit spanischen Bärenschützern daran arbeitet, die Aassituation vor Ort zu verbessern.
Keine Geier ohne Kadaver
Davon profitieren auch die Geier, die in Spanien noch zahlreich leben: Weit über 20000 Paare Gänse-, Mönchs-, Schmutz- und Bartgeier brüten auf der iberischen Halbinsel. Sie gerieten ab 2004 in arge Bedrängnis, als die EU-Regelung verschärft durchgesetzt wurde. Nach und nach mussten alle traditionellen Kadaverplätze in Spanien schließen, an denen Landwirte bis dahin ihre toten Nutztiere ablagerten. Angeblich flohen die Geier etwa im Jahr 2007 vor dem Hunger bis nach Deutschland, wo sie für Schlagzeilen sorgten. Erst die Lockerung der Verordnung entschärfte die Situation.
Trotzdem zogen auch dieses Jahr wieder Gänsegeier ihre Kreise über Deutschland – etwa in den bayerischen Alpen oder dem Schwarzwald. Nahrungsmangel treibt sie dieses Mal nicht hierher, meint Geierexperte Dieter Haas: "Die einfliegenden Geier sind keine schwachen Tiere. Das zeigt ihr gesundes Gefieder." Sie stammen vielmehr aus den erfolgreichen französischen Schutzprojekten in den Alpen. In jungen Jahren streifen die Vögel umher, bevor sie zur Brutkolonie zurückkehren. "In Deutschland leiden sie aber unter Hungerstress, weil sie kein Aas finden. Selbst offizielle Futterplätze bleiben meist leer, weil die hiesigen Behörden nicht mitspielen." Er drängt daher auf einen Bewusstseinswandel: "Mit den Geiern verpassen wir gerade eine große Chance für den Naturschutz – und das ausgerechnet im Jahr der Artenvielfalt."
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